Die Jüdin von Toledo - Mit einer schwerkraftvollen Adaption des Romans von Lion Feuchtwanger eröffnet Johan Simons seine Bochumer Schauspielhaus-Intendanz
Keine Unze Frieden
von Andreas Wilink
Bochum, 1. November 2018. Der Globus ist das neue Signet des Schauspielhauses Bochum unter der Intendanz von Johan Simons. Entsprechend international handverlesen das Ensemble und weltumspannend die Eröffnungs-Inszenierung. Beginnend beim Autor Lion Feuchtwanger, der – 1884 in München geboren – sich nicht hat träumen lassen, 1958 in der Villa Aurora / Santa Monica zu sterben.
"Die Jüdin von Toledo" zieht die Summe eines Lebens, das Flucht und Exil kannte. Das literarisch und historisch komplexe Spätwerk erzählt wesentlich drei Geschichten. Zunächst die vom Widerstreit der monotheistischen Religionen und von messianischer Hoffnung. Koen Tachelets in fünf Kapitel gegliederte Spielfassung des Romans nimmt darauf bereits im knappen Prolog und Disput über den "Heiligen Krieg" Bezug. Wie für ein Impromptu versammelt sich dazu das Ensemble in Designerchic, als stamme der von Dries van Noten aus dessen Antwerpener "Modepaleis".
Herolde ihrer selbst
Zum zweiten betreten wir den Kampfplatz Liebe: "Die irdische Liebe ist ein Honiglecken an Dornen", so Feuchtwanger. Bei Simons ein Sich-Balgen, Sich-Wälzen, Aneinander-Zerren und Abkämpfen: der Körper – ein Spielball. Die Zehner-Gruppe legt sich nieder und richtet sich wieder auf. Keine Position bleibt fix, jeder Schritt markiert einen Diskursverlauf, oft zum Parkett hin in Front gesprochen, um den geschichtlichen Augenblick, um Rollen und Motivationen zu klären.
Die Darsteller – keineswegs brave Buchstabengetreue – sind Betrachter und Selbstbetrachter, Kommentatoren, laute Zeugen ihres Tuns, Herolde ihrer selbst, deren Personalausweis das epische Theater als Herkunft verzeichnet. Lässig, schmucklos und wirbelfrisch fordern sie von uns Abstraktionsvermögen. Es sind grausam schlimme, auch zauberhafte Kinder im erwachsenen Spiel des Lebens, die sich aneinander entzücken und einander Torturen antun.
Drittens schildert Feuchtwanger den vergeblichen Versuch, Frieden zu wahren: "Eine Unze Frieden ist besser als eine Tonne Sieg". Johannes Schütz hat eine kalkhelle Styroporwand an leichter Aufhängung entworfen, die sich wie ein Mobile bewegt oder wie ein Segel, in das der Sturm der Geschichte fährt. Die Darsteller nehmen Aufstellung wie vor einer (Klage-)Mauer. Die Wand aber ist eine große Variable. So wie der Mensch.
Im Spanien des 12. Jahrhunderts
Der Kaufmann Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma, der seine Ratio wie auf den Leib geschneidert trägt) verlässt die Sphäre des Emirs von Sevilla und wird dank seiner ökonomischen Talente und Kontakte Ratgeber, Geldbeschaffer, "Escrivano" des jungen Königs von Kastilien. Der Staatsmann in Alfonso VIII. ist bei Ulvi Erkin Teke noch ein Kleinkind, ungebärdig und ungestüm. Seine Frau Leonore (Anna Drexler: omni-patent und handfest) aus englischem Königsblut hingegen hat mehr Format und politischen Instinkt.
Das Christentum, mit dessen Zivilisiertheit es im 12. Jahrhundert nicht viel auf sich hat, will nicht nur Jerusalem befreien, als der Papst zum Kreuzzug aufruft, sondern auch die Iberische Halbinsel, auf der die arabische Hochkultur blüht und jüdischer Geist und Buchwissen geschützt sind von einem Toleranz-Edikt. Fanatische afrikanische Kalife und Alfonsos Ehrgeiz beenden das milde Klima.
Der Kosmopolit als Außenseiter
Der zum Katholizismus konvertierte stolze Jehuda, der in Parallelaktionen strategisch lavieren und operieren muss, trägt Wesenszüge von Feuchtwangers deutschem Jud Süß ebenso wie von dessen biblischem Chronisten Flavius Josephus. Es sind kosmopolitisch versierte, existentielle Außenseiter in einer ihnen misstrauisch bis verächtlich, neidvoll, engstirnig und feindselig begegnenden Gesellschaft. Sie wollen ihren Platz "in der Mitte der Welt". Aber bleiben Akrobaten, balancierend über dem Abgrund. Jehudas Tochter Raquel, Apostelin des Freisinns und autonomes Wesen (Hanna Hilsdorf – Lichtwesen mit weiter Kindesseele), wird aus eigenem Willen die Geliebte Alfonsos und Mutter seines Sohnes. Der König baut ihr das Lustschloss La Galiana. Sein sündiges Vergehen gegenüber dem Gesetz der Kirche reut ihn nicht.
Simons zerlegt das Drama in Elemente seiner Spielform, durchleuchtet es, verwandelt die pure Erzählung zu Material, zeigt Sprechakte als intellektuelle Vorgänge. Das ist oft strapaziös spröde, gleichwohl präzise kunstvoll verspielt. Auf der beständigen Abstraktionsebene, die das Aktuelle und Akute vergleichbarer Konflikte mitdenkt und Außengeräusche der Straße hereinholt und orchestriert zur Gegenwarts-Symphonie des Grauens, behaupten sich Lüste und Leidenschaften nicht als naive Emotion, sondern in ihrer physischen Überbietung. Der Kriegsrausch treibt als geiles Kopulieren in die Groteske. Die aus planvoll gesteuertem Hass begangene Mordtat, deren Opfer Jehuda und Raquel werden, dehnt sich zum quälend erschöpfenden Zerstörungs-Report.
Anders als Franz Grillparzers gleichnamiges Drama bietet Feuchtwanger die weit charaktervollere Betrachtung. In seiner Humanitas steht Jehuda da als schuldlos schuldige Figur, während Alfonso – hier nunmehr ein gebrochener Gliedermann – schmerzlich sein Scheitern betrauert und sein Versäumnis der Liebe. Die Styroporwand ist da schon kurz und klein geschlagen. Sie hinterlässt eine Trümmerlandschaft. Das Bühnenpodest stellt sich steil und wirft eine Schutthalde mit Leichen ab. Totale Niederlage. Kein guter Glaube. Johan Simons, dessen programmatischer Beginn in seinem Spiel-Sinn und in seiner Schwer-Kraft imponiert, erringt einen Sieg. Einen Sieg, der müde macht, sterbensmüde.
Die Jüdin von Toledo
nach Lion Feuchtwanger
in einer Bearbeitung von Koen Tachelet
Regie: Johan Simons, Bühne: Johannes Schütz, Bearbeitung & Dramaturgie: Koen Tachelet, Kostüme: Greta Goiris.
Mit: Pierre Bokma, Jele Brückner, Guy Clemens, Anna Drexler, Gina Haller, Hanna Hilsdorf, Risto Kübar, Michael Lippold, Veronika Nickl, Ulvi Erkin Teke.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.schauspielhausbochum.de
Um Psychologie gehe es nicht; die Figuren seien im Wesentlichen Funktionsträger, bemerkt Anke Dürr auf Spiegel Online (2.11.2018). "Was sie verhandeln, ist teils bestürzend aktuell: Sind die jüdischen Flüchtlinge, die ins Land drängen, Chance oder Bedrohung? Wie instrumentalisiert man den Antisemitismus für seine politischen Zwecke? Teils wirkt das aber doch deutlich von gestern: Die Frauen etwa sehnen sich nach Helden, Politik dient ihnen nur dazu, ihre Männer zurückzuerobern." Die Schauspielerin Gina Haller sei eine echte Entdeckung. "Überhaupt steckt das neue Bochumer Ensemble voll ansteckender Energie."
"Herausforderndes Kopf- und Körpertheater", beklemmend und "enorm bildmächtig", hat Jürgen Boebers-Süßmann von der Westfälischen Rundschau (2.11.2018) gesehen. Simons arrangiere "Menschengruppen mit der wuchtigen Ausdruckskraft expressionistischer Skulpturen". Dabei leuchte der neue Intendant den Stoff gründlich aus; Feuchtwangers Text sei "seine Prämisse": "Die Schauspieler meistern die Sprache mit bemerkenswerter, wenn auch kalter Präzision; selten hat man in den letzten Jahren auf Bochums Bühne solch punktgenaue Artikulation gehört." Die Stückauswahl stehe für "drei Stunden betonte Ernsthaftigkeit und problematisierende Weltsicht. Rasch war klar: Die Zeiten des zuletzt gern gepflegten gehobenen Entertainments an der Königsallee sind erst einmal vorbei", so Boebers-Süßmann. Simons habe einen "starken ersten Aufschlag hingelegt".
"Die Stärke des Abends ist die ungeheure Energie, mit der das Ensemble agiert – und darin liegt zugleich seine Gefahr. Die Individualität der Figuren, der Reichtum und die Widersprüchlichkeit dieser Menschen werden nicht deutlich genug", findet Ulrike Gondorf im Deutschlandfunk (3.11.2018). Programmatisch habe Johan Simons einen starken Auftakt gesetzt, künstlerisch dürfe man noch mehr erwarten.
Johan Simons habe mit der "Jüdin von Toledo" eine gelungene "Signature"-Inszenierung vorgelegt, die zeige, "wie ernst es ihm ist mit seinem Vorhaben eines politischen, nach allen Seiten hin offenen Weltbürgertheaters", so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (5.11.2018). Man müsse in diese schon auch sehr kopf- und konzeptionslastige Inszenierung erst hineinfinden. Das große Pfund, mit dem die Inszenierung wuchere, sei "die unbändige Energie, mit der das neue Ensemble diese alte Geschichte erzählt, und zwar mit unverkennbar aktuellen politischen Bezügen und in sehr heutiger Aneignung und Anmutung".
"Bochums neue Intendanz eröffnet mit einem triumphalen Ensemble-Abend und beweist, dass ein anderes Bühnenleben möglich ist", findet Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.11.2018). Selten habe man ein so phantastisch zusammengesetztes Ensemble gesehen, bei dem alle mit gleichem Mut auftreten und doch höchst verschieden sind. Simons markiere mit seiner Eröffnungspremiere, wie er sich eine zeitgemäße theatrale Beschäftigung mit den Konflikten der Gegenwart vorstelle: "nicht durch kleine tagespolitisierte Übertragungskünste, sondern durch eine anspruchsvolle Metaphernsuche in den Schatzkammern der Literatur".
"In Fummeln, die aussehen, als wären sie einem Modekatalog entsprungen, treten die Darsteller*innen zum Prolog auf und monologisieren über die religiöse Frontstellung", berichtet Benjamin Trilling in der taz (5.11.2018). Die "Figuren lauern alle auf ihre Weise darauf, in den historischen Augenblick einzugreifen". Dass Simons sich für die Feuchtwanger-Bearbeitung des Stoffs mit einer Frauenfigur im Zentrum entschied, verdankt sich nach Ansicht des Kritikers der hier angelegten "Liaison" der Jüdin mit einem Christen; sie "strahlt für einen kurzen Moment etwas von einer multikulturellen Utopie im Privaten aus".
Simons erzähle "mit sehr langem Atem in spröden Dialogen und verzichtet streng und anstrengend auf szenische Spielereien", beschreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (5.11.2018) den Abend. "Ein grösstenteils bilderarmes, gedankenschweres Theater, das zum Zuhören herausfordert, jedoch nicht belehren, vielmehr berühren soll; das verunsichern, Verkrustungen aufbrechen will."
"Namentlich der erste Teil des Abends ist so trocken, dass man sich nicht gewundert hätte, wenn der Regisseur zur Pause auf die Bühne gestiegen wäre und das frisch erworbene Wissen seines Publikums abgefragt hätte. Die Aufführung ist stofflich komplex, ästhetisch aber absolut gängig: Keine Charaktere sind zu sehen, sondern wandelnde, personifizierte Bildungsaufträge", bemerkt Peter Kümmel in der Zeit (8.11.2018). Nach der Pause ändere sich das Unterrichtsklima radikal. "Krieg bricht aus, und die Kriegsszenen werden als Orgie gezeigt." Gespielt werde das als eher plumpe Gleichsetzung von Herrschsucht und sexueller Dominanz.
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Welch tolle Inszenierung ist hier von ANDREAS WILINK beschrieben ... muß ich nach seiner wunderbaren Kritik unbedingt ansehen.
Mich berührt schon diese (viel zu seltene) Symbiose von Kritik und Inszenierungsbeschreibung - von BEIDEN (!) bitte mehr davon.
Ist nicht Langeweile eine der größten Verbrechen auf dem Theater?
Ich habe die Aufführung nicht gesehen und werde auch bestimmt nicht hingehen . Sogar durch die doch relativ guten „Grosskritiken " spürt man wie langweilig das Ganze sein muss . Die Zuschauer merken das scheinbar . Wie ist das ? Ich kenne mich nicht aus . Wird ein Regisseur mit Renommee ( so klingt es hier , ich kenne ihn nicht )
von der Kritik dafür nicht gerügt ? Kommt man damit durch ? Sehen Kritiker das nicht , oder zählt da die Lobby ? Wird man irgendwann
unangreifbar, weil man früher mal gut war ? Ich meine , also wenn wir hingehen , dann müssen wir das doch jetzt gucken ! Nur so eine Frage .