Naive Freude am Nippeskitsch

von Jürgen Reuß

Freiburg im Breisgau, 15. Juli 2008. Zum dritten mal inszeniert Regisseurin Susanne Franz nun ein Sommerstück im Innenhof des Wentzingerhauses. Diesmal hat sie sich eins ausgesucht, das im interessanten Spannungsverhältnis zum Aufführungsort steht. Beherbergt das Wentzingerhaus doch das Freiburger Stadtarchiv, ist also gewissermaßen Wächter über die historische Wahrheit einer Stadt.

Bei "Genoveva oder Die weiße Hirschkuh" von Julie Schrader, das am Montag Premiere hatte, ist es dagegen mit dem Verhältnis zur historischen Wahrheit so eine Sache. Historisch verbürgt ist, dass Julie Schrader 1881 in Hannover geboren wurde, als Dienstmagd gearbeitet hat und sich 1939 das Leben nahm. Aber hat sie der Nachwelt tatsächlich die Gedichte und Theaterstücke hinterlassen, die ihr Großneffe Berndt W. Wessling ab Ende der 60er Jahre herauszugeben begann?

Mit elegischer Penetranz auf den Gefühlsnerv

In den 70ern wurde sie zunächst begeistert aufgenommen. Ihre einfache Sprache, voller orthografischer Skurrilitäten und unfreiwillig komischer Stilblüten traf offenbar den Nerv der Zeit. Das wusste auch ihr Großneffe. "Die Naiven finden in unserer Zeit wieder Beachtung. Malende Omas und Opas sind en vogue. Dichterinnen, die mit elegischer Penetranz den Gefühlsnerv treffen, kommen ins Geschäft, und Schriftstellerinnen, die es 'so fließen lassen, wie es ihnen aus dem Herzen läuft', werden mit allen Mitteln gefördert", schrieb er 1971.

Literaturwissenschaftler bekamen jedoch bald Zweifel an der Authentizität der Texte. Hatte da nicht einfach jemand eine brillante Marktanalyse gemacht, sich eine Kunstfigur mit einigen wenigen Realanteilen erschaffen und die Werke dann selbst verfasst?

Der Kampf Wesselings gegen solche Behauptungen ist fast ebenso skurril wie die angeblichen Texte seiner Großtante. Noch 1998, 23 Jahre nach Veröffentlichung der "Genoveva", freut er sich über jährlich im Schnitt drei Neuinszenierungen dieses Stücks und wünscht im gleichen Atemzug seinen prominentesten Entlarver in geradezu Julie-Schraderscher Manier in die Hölle: "Der Mann ist krank, heimgesucht von einem perversen Sado-Masochismus, und ein Großteil der Literatur-Szene hält den "Korinthenkacker" für blöd und paranoid."

Groschenroman trifft Märchen, die Kinder heißen Stilblüte

Susanne Franz rechnet sich zwar durchaus zum Lager des "Korinthenkackers" und hält Wessling für den Autor der angeblich 1907 geschriebenen "Genoveva". Trotzdem hält sie die Geschichte vom Hausmädchen Vevchen in Diensten der reichen Dame Adolphine für erzählenswert. Die funktioniert ein bisschen wie Groschenroman trifft Märchen, erzählt in Wilhelm-Busch-Versen mit Hang zur Stilblüte.

Vevchen verliebt sich in Adolphines Neffen Adelkurt. Sie verloben sich heimlich. Die Tante verstößt Vevchen, tröstet Adelkurt mit ihrem Vermögen. Vevchen flieht nach Berlin, wird von einem Lüstling verfolgt und von einer Engelsstatue zur Rettung in eine Hirschkuh verwandelt. Adelkurt verprasst das Geld seiner Tante, bringt sie um, klaut ihr den Rest und macht sich auf die Suche nach Vevchen. Am Ende gibt's ein Happy End mit kaiserlichem Segen.

Sommerlaune in originellem Ambiente

Susanne Franz steckt diese Geschichte in eine Rahmenhandlung: Julie Schrader möchte ihre Erstlingswerk zusammen mit ihre Schwester Emma und ihrem Bruder Wilhelm in kleinem Rahmen uraufführen. Diesen Rahmen gibt der Innenhof des Wentzingerhaus, der gut für eine kitschigen Wintergarten einer Prunkvilla durchgehen kann: Hübsches Gemäuer, dekorativer Brunnen, Baum mit Blumenrabatte um den Stamm und die vier Jahreszeiten als überlebensgroße Jugendstilstatuen (na ja, in etwa). Die beiden Schwestern (Simone Rosa Ott, Susanne Winkler) spielen alle Rollen selbst, bisweilen unterstützt vom Bruder (Hartmut Saam), desse eigentliche Aufgabe aber die Akkordeonbegleitung ist.

Was dabei gut rüber kommt, ist die Begeisterung eines einfachen Mädchens, dem es allen Widrigkeiten zum Trotz gelungen ist, selbst ein Theaterstück, Kunst zu schaffen. Diese naive Freude am Nippeskitsch, mit der sich das Proletariat zum Aufstieg ins Bürgertum gratuliert. Was dabei etwas verloren geht, ist das Herausfeilen des Wortwitzes. Da werden einige Pointen in mangelndem Komödien-Timing verschenkt. Aber als leichte Sommerlaune in originellem Ambiente verschafft das Stück doch angenehme anderthalb Stunden.

 

Genoveva oder Die weiße Hirschkuh
von Julie Schrader
Regie: Susanne Franz. Mit: Simone Rosa Ott, Susanne Winkler, Hartmut Saam.

www.theaterlaune.de

 
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