Aus einem bürgerkriegszerrissenen Land

von Tobias Prüwer

Weimar, 3. November 2018. Mensch und Masse: Auf diese Formel könnte man das monumentale Erzählwerk "November 1918" herunterbrechen. Am Deutschen Nationaltheater Weimar unternimmt nun André Bücker nichts Geringeres, als Alfred Döblins vierbändiges, in der Emigration entstandenes Revolutionsepos auf die Bühne zu bringen. Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Masse, des Menschen in der Revolte, kleidet Bücker in ein Spektakel mit Chor und Orchester.

Historisches und Persönliches

Das Bühnenbild erinnert entfernt an George Grosz. Eine fleckige Wand mit Fenstern tut sich hinterm offenen Orchestergraben auf. Das Gebäudedach deutet mit zwei Schloten eine Fabrik an. Dann lässt die Drehbühne eine Bäckerei-Ladenfront sichtbar werden und als dritten Szenenort das Interieur eines Saals. Der dient wahlweise als Lazarett, Parteikneipe, Wohnstube. Oben und an den Seiten abgehängt sind fünf Fenster als Projektionsflächen, auf denen durch historische Fotos Zeitkontext hergestellt wird. Die wandelfähige Bühne könnte Tempo ermöglichen, de facto erreichen das nur die Chorszenen.

November1918 1 560 CandyWelz uMenschen in der Revolte auf der Bühne von Jan Steigert © Candy Welz

Worum es geht, ist als Zuschauer nicht leicht zu erfassen. Das liegt an der Vermengung von historischer Perspektive und persönlichen Episoden. Der Erste Weltkrieg ist fast beendet. Zu den invaliden Heimkehrern von den Schlachtfeldern gehört auch Friedrich Becker. Der am Rücken schwer Verletzte findet sich in seinem Berlin nicht mehr zurecht. In seiner idyllischen Welt der antiken Literatur erwartet den Philologen auch keine Zuflucht mehr. Den Lehrerberuf kann er krankheitsbedingt nicht ausüben. Da ist außerdem sein Freund Maus, mit dem er gemeinsam im Lazarett die Krankenschwester Hilde anhimmelt. Auch die beiden landen irgendwann in Berlin. Während sich Becker einigelt, probiert Maus die verschiedenen Fronten im bürgerkriegserschütterten Deutschland aus. Hilde lebt erst als Freundin bei ihm, wird dann Maus' Gefährtin.

Das alles puzzelt man sich als Zuschauer zusammen. Denn besonders im ersten Teil bleibt dieser inhaltliche Strang der Inszenierung sehr lose und verliert sich unter dem Rest der Szenen. Die wirken wie ein Durcheinander, was revolutionären Zeiten durchaus angemessen ist, hier aber als ungerichteter Blick die Aufmerksamkeit extrem fordert. Bis Hilde nach dem Lazarett wieder einmal zu sehen ist, vergeht eine Stunde. Zwischendurch sind zahlreiche Szenen eingebaut, in denen der geschichtliche Hintergrund als Ablauf der revolutionären Ereignisse geschildert wird.

Die Räder der Politik

Diese politischen Szenen gleichen einer Farce. Friedrich Ebert, Generäle oder auch US-Präsident Woodrow Wilson sind Parodien in Optik und Gestik. Irgendwie wollen alle nur Macht, schreit es aus diesen gewollt das Schmierentheater schrammenden Darstellungen. Selbst die Idee des Völkerbundes verkündet Wilson als verkleidete Freiheitsstatue und macht einen Kalauer über Enten. Dass Politik als Farce erscheint, unter deren Räder der machtlose Einzelne gerät, ist durchaus eine sinnvolle Interpretation aus der Perspektive von Becker. Leider kommt eben dieser die meiste Zeit nicht als Protagonist ins Bild. So verpufft der Effekt, übrig bleibt nur die politische Lachnummer, auf die die nächste folgt.

November1918 4 560 CandyWelz uDer Einzelne zwischen den Geschichtsgewalten: Sebastian Nakajew, Max Landgrebe (als Friedrich Becker), Sebastian Kowski © Candy Welz

Immerhin schafft das ein paar entlastendende Lacher in der doch insgesamt zäh und mit Ausdauer zu durchstehenden Inszenierung von viereinhalb Stunden. Gefühle insgesamt bleiben seltsamer Weise außen vor. Berührendes stellt sich trotz ernster Thematik und gezeigtem Leiden nicht ein. Selbst Rosa Luxemburgs Gefängnishaft, wo sie als tragisch Gescheiterte ihren toten Geliebten herbei halluziniert, sieht sich leer an. Emotionen sind vor allem bloße Behauptung, trotz des hohen Engagements des Ensembles. Aber sie haben keine Zeit, Figuren zu entwickeln, sie wirklich auszuagieren. So schreit man sich eben an oder zeigt eine typische Verzweiflungsgeste, während die Tour de Force zur neuen Station vorantreibt.

Arbeiterfahnen und Reichskriegsflaggen

Emotionen erschaffen nur die Musik und der Chor – dann aber von berührendem Charakter. Neben Arbeiter- und Freikorpsliedern, deren ideologische Kraft heute verblasst ist, ist von Bach bis Wagner vielerlei dabei, das die Staatskapelle erklingen lässt. Der Opernchor singt nicht nur, sondern bringt auch lebendige Bilder hervor, etwa wenn die Bürgerkriegswirrnisse mit Arbeiterfahnen und Reichskriegsflaggen ausgefochten werden. Das ist plakativ, aber wirkungsvoll. Und der Choreinsatz hält die vielen Fragmente der Inszenierung immerhin etwas zusammen. Was im Roman verflochten ist, Individual- und politische Geschichte(n), die Frage nach der Rolle des Menschen in der Revolution, ja: die Frage nach dem Wesen des Menschen überhaupt, bleibt in Weimar nebeneinander gestellt. Nichts ist verzahnt, nichts fügt sich in diesem Revolutionsbilderbogen.

 

November 1918
nach Alfred Döblin
Theaterfassung von André Bücker und Beate Seidel
Uraufführung
Regie: André Bücker, Musil und Musikalische Leitung: Stefan Lano, Bühne: Jan Steigert, Kostüme: Suse Tobisch
Arrangements der Soldatenlieder: Andres Reukauf, Video: Michael Ott, Dramaturgie: Beate Seidel / Hans-Georg Wegner, Choreinstudierung: Jens Petereit.
Mit: Max Landgrebe, Thomas Kramer, Simone Müller, Johanna Geißler, Elke Wieditz, Christoph Heckel, Julius Kuhn, Sebastian Nakajew, Sebastian Kowski, Marcus Horn, Markus Lerch, Heike Porstein, sowie der Opernchor des DNT und die Staatskapelle Weimar.
Dauer: 4 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

Kritikenrundschau

"Mehr Kunst, weniger Inhalt! – ist man versucht, den Ausruf von Hamlets Mutter zu verdrehen", schreibt Joachim Lange in der Thüringischen Landeszeitung (5.11.2018). "Aber dazu ist man zu erschöpft." Der Abend mäandere zwischen Melodram, politischem Agitprop-Theater und historischem Dokudrama. Wenn die ästhetische Form dominiere, etwa wenn die Staatskapelle Weimar mit eigens komponierten instrumentalen Zwischenspielen oder mit Wagner zum Zuge kommt, sei der Abend im sicheren Fahrwasser. Das Problem des Abends sei die politische Prominenz: blanke Witzfiguren.

Leider gelinge es André Bücker nicht, den Riesenapparat szenisch in den Griff zu bekommen, so Peter Jungbluth im Bayrischen Rundfunk (4.11.2018). "Vor allem im ersten Teil wird seitenlang fade deklamiert statt spannend gespielt. Da sind Sprechautomaten unterwegs, die in ihrer satirischen Überzeichnung wohl an Karikaturen von Otto Dix erinnerten sollten, aber letztlich nur Langweile verbreiteten." Die Textfassung sei bisweilen von nervtötender Einfalt. Jungbluths Fazit: "Mit Revolutionen haben die Deutschen eben ihre Schwierigkeiten."

Kommentare  
November 1918, Weimar: Kapellmeister unerwähnt
Erstaunlich wie der Autor die stimmungsverleihenden Musik der Kapellmeister Lano nicht bemerkt/erwähnt hat.
November 1918, Weimar: Reenactment
Den Inszenierungsbildern (Bühne, Kostüme) und der Kritik nach zufolge klingt es wie Theater von vor 100 Jahren? Vielleicht war es Hasko Webers Ansatz, eine Reenactmentinszenierung zu zeigen? Man weiss es wirklich nicht?
November 1918, Weimar: ein Kraftakt
Genauso wie die Schauspieler unerwähnt bleiben.
Ich kann die Kritik ziemlich gut nachvollziehen und stimme weitesgehend zu... aber spielerisch war der Abend dennoch eine Leistung und ein Kraftakt.
Gerade die zwei männlichen Hauptrollen finde ich schauspielerisch nicht nur zu erwähnen, sondern auch zu loben!
Und die Musik war wirklich eindrücklich. Ganz Ihrer Meinung, Boris Schigolsch. Ansonsten hätte der Inszenierung ein größerer Fokus auf die zwei erwähnten Hauptrollen und dadurch eine Stunde weniger Aufführungszeit gut getan.
November 1918, Weimar: zuviel gewollt
Zuviel gewollt
In der FAZ vom 03.11.2018 schrieb Martin Eich unter dem Titel „Als Deutschland den Frieden verlor!“ einen Artikel zum Kieler Matrosenaufstand, in dem das Hasardspiel der Heeresleitung beschönigt wird und der Vorwurf der „Dolchstoßlegende“ zwischen den Zeilen steht. Man könnte meinen, dass es – analog zum 20. Juli 1944 – einen breiten Konsens in der Bundesrepublik gibt, der den Matrosenwiderstand heute gutheißt und ein Theaterabend im November 2018 könnte diesen Aspekt veranschaulichen.
Ein eher unbekanntes vierbändiges Romanwerk von 2000 Seiten in vier Theaterstunden zu pressen, ist gewagt. Und wenn man die politischen Akteure von 1918 nur als Witzfiguren präsentiert, was werden dann die unzähligen Opfer dieser Politik?
Im Programmheft steht, der Ariadnefaden aus dem gebotenen Meinungs- und Geschichtslabyrinth sei, dass die Menschen (heute ?) nicht (mehr ?) so seien (sein sollten ?), wie sie in „November 1918“ dargestellt werden. Na, ob diese kathartische Einsicht im Publikum wohl heranreift?
Kommentar schreiben