Der Sommer kurz vor dem Kometeneinschlag

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 6. November 2018. Der Regisseur Kirill Serebrennikow steht in Moskau vor Gericht, er soll als künstlerischer Leiter des Moskauer Gogol Center Geld veruntreut haben. Stichhaltige Beweise liegen nicht vor, die jetzt angelaufene Gerichtsverhandlung wurde lange hinausgezögert. Es riecht nach Schauprozess, und Serebrennikow ist längst zu einer Symbolfigur geworden. Der Hashtag #FreeKirill kursiert – zumindest im Westen, wo natürlich auch gerne Unfreiheit und Schurkentum auf Russland projiziert werden.

Soundtrack zur Perestroika

Als Regisseur arbeitet Serebrennikow sich selbst häufig an künstlerischen Schlüsselfiguren ab, denen er sich über kluge Erschließungen ihres Werks annähert. Mit sehr viel Liebe und ohne zu viel Respekt entzündet er seine eigene Kunst an ihnen, wie in der kritischen Heiner Müller-Hommage "Müller Maschine" einer Produktion des Gogol Center, die im Frühjahr 2018 am Deutschen Theater Berlin gastierte.

Leto1 560 c Hype Film Kinovista u.jpgStars gestern und heute: Roma Zver spielt den Zoopark-Sänger Mike Naumenko © Hype Film Kinovista 2018

Nun hat er sich in seinem neuen Film "Leto" der legendären russischen Band Kino angenommen und erzählt ihre Entstehungsgeschichte im Sommer 1983 in Leningrad (St. Petersburg). Kino schrieben den Soundtrack zur Perestroika, ihre New Wave-Musik ist aber auch heute noch äußerst populär in Russland. Die Band löste sich 1991 auf, nachdem ihr Sänger Viktor Zoi bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.

Der Blick nach Westen

"Leto" (Sommer), der Titel von Serebrennikows Film, zitiert einen Songtitel von Kino: "Sommer! Brät mich wie eine Boulette. Hab zwar viel Zeit, aber kein Geld, aber das ist mir total egal", geht die erste Strophe, und die letzte: "Sommer! Letztens habe ich irgendwo gehört, dass bald ein Komet angeflogen kommt und wir alle sterben werden." Das Gefühl, dass eine Zeit zum Greifen nah sein könnte, in der man tatsächlich in einer Welt mit den popkulturellen Idolen aus dem Westen lebt, die Unbeschwertheit, die diese Ahnung produziert: Darum geht es in den Liedern von Kino und im Film von Serebrennikow. Es geht aber auch darum, wie die Idee von Freiheit, die man sehnsüchtig und immer weniger heimlich aus der westlichen Popkultur gesogen hat, einen auf einmal mehr und mehr unter Druck setzen und zermürben kann.

Leto2 560 c Hype Film Kinovista 2018 uUnd es war Sommer: die Band Kino um ihren Frontmann Viktor Zoi (Teo Yoo, in der schwarzen Jacke) © Hype Film Kinovista 2018

Im Zentrum des Films steht die Künstlerfreundschaft des Kino-Sängers Viktor Zoi mit Mike Naumenko, in den 1980ern Sänger der ebenso berühmten Bands "Aquarium" und "Zoopark", gespielt vom heutigen russischen Popstar Roma Zver. Mike arbeitet sich an seinem großen Vorbild Lou Reed ab, was erst inspirierend ist, später zur immer schwereren Last wird, wenn er seine eigene Stimme nicht mehr findet. In einer psychedelisch anmutenden Szene verliert er die Orientierung in einem Flur, dessen Wände gepflastert sind mit den Covern all der Platten, die er in- und auswendig kennt und in die er fieberhaft Bilder seiner Freunde einsetzt.

Viktor (Teo Yoo) hingegen jongliert sehr viel unverkrampfter mit den Einflüssen aus dem Westen und lässt sie auch mal links liegen. Wenn seine Bandkollegen eines seiner Lieder spielen wollen "wie die Sex Pistols", bittet er sie ein bisschen ungeduldig darum, es doch einfach so zu spielen, wie er es geschrieben hat. Sie finden das Original "zu kindlich".

Leto3 560 c Hype Film Kinovista 2018 uBromance mit Ménage à trois-Anklängen: Natalia (Irina Starshenbaum) zwischen den zwei Sängern © Hype Film Kinovista 2018

Viktor schafft es zu irritieren, Mike versinkt in einer Schaffenskrise – in Kirill Serebrennikows, Lesart der Ereignisse. Um die Künstlerfreundschaft herum verströmt Serebrennikow einen Hauch von Bromance: Mikes Frau Natalia fühlt sich zu Viktor hingezogen. Aber die Liebesgeschichte, die die beiden antasten, mündet in eine eigene freundschaftliche Verbundenheit. Natalia (Irina Starshenbaum), selbst keine Musikerin, wird für Viktor wie für Mike zur wichtigen Gesprächspartnerin. Serebrennikow zeigt sie als omnipräsente ruhige Beobachterin, die dazu einlädt, in ihrer Perspektive Platz zu nehmen.

Überhöhung des Alltags zum Musikvideo

Zu schön um wahr zu sein? In dieser Konstellation bremst "Leto" scharf vor dem Kitsch – indem Serebrennikow die Überhöhung der drei Hauptfiguren und ihrer Bünde deutlich ästhetisch markiert. Die in schwarz-weißen Bildern erzählte und also mit dem Vergangenheits-Filter versehene Filmhandlung kippt immer wieder ins romantisch Surreale, wenn realistische Szenen zu Musikvideos werden, die Passagiere der Moskauer Tram plötzlich anfangen, Iggy Pops "The Passenger" zu singen, mit russischem Akzent, und comicartige Grafiken sich überschwänglich ins Bild mischen.

Leto4 560 c Hype Film Kinovista 2018 uPorträt des Künstlers als junger Mann: Teo Yoo spielt den Kino-Sänger Viktor Zoi in "Leto" von Kirill Serebrennikow © Hype Film Kinovista 2018

In einer weiteren Verfremdungs-Volte wird nach jedem "Musikvideo" ein Schild in die Kamera gehalten, auf dem steht: "Das ist alles so nie passiert." Als Wunschträume stoßen die Musikvideo-Sequenzen sich von einer äußerlich ärmlichen Realität ab, in der man beengt in Gemeinschaftswohnungen haust und innen und außen der Putz bröckelt. Von heute aus lässt sich diese Zeit aber genauso gut idealisieren, zeigt Serebrennikow: in diesem Fall eben als Nährboden einer Popkultur, die ihre Lebendigkeit nicht aus einer Konkurrenz um große Quoten bezieht – die "Rockklubs" sind viel zu klein, um solche Begehrlichkeiten aufkommen zu lassen, und es schweißt zusammen, dass sich alle vor ihren Auftritten der (wenn auch schon recht milden) Zensurbehörde stellen müssen. Aber es geht auch nicht um Widerstand gegen eine Politik oder ein System. Weltgeschehen und sowjetische Nachrichtenlage flimmern in "Leto" nur ab und zu im Fernseher, den keiner beachtet.

Keine Provokations-Kunst

Genauso wie die Musiker um Kino steht ja auch Serebrennikow eigentlich nicht für politische Provokations-Kunst, wie sie etwa der Aktionskünstler Pjotr Pawlenski macht. "Leto" lief 2017 zur Eröffnung von Russlands größtem Filmfestival in Sotschi. Der Kulturminister, der hinter dem Prozess gegen Serebrennikow stecken dürfte, sprach die Einleitungsworte. 2013 hatte er noch einen Film von Serebrennikow über den Komponisten Pjotr I. Tschaikowski verhindert. Geldgeber zogen sich aus Angst vor einem Skandal zurück, nachdem der Minister gefordert hatte, Serebrennikow (der selber offen homosexuell lebt) möge das Privatleben des Komponisten und seine "angebliche Homosexualität" außen vor lassen.

Kirill Serebrennikow 560 Margaritta Ivanova uDer Regisseur Kirill Serebrennikow © Margaritta Ivanova

Die Gemengelage ist komplex – ein Film wie "Leto" darf wohl nur deshalb ein großes Festival eröffnen und in den russischen Kinos laufen, weil er ohne das Reizthema Homosexualität auskommt und die subversive Message von Kino sich ohnehin nicht mehr einfangen lässt. Serebrennikow soll also mit Zuckerbrot und Peitsche zur Selbstzensur erzogen werden? Dass seine – weltweite – Strahlkraft durch den Prozess immer größer wird, dürfte ihm eher nicht zugutekommen, spielt es doch mindestens ebenso sehr denen in die Hände, die an ihm ein Exempel statuieren wollen.

"Leto" lässt das traurige Ende mit den frühen Toden seiner Protagonisten und der Auflösung der Band aus und bleibt stehen in einem Konzert von Kino. Das wirkt unter den aktuellen Umständen wie eine Beschwörung: Am Ende steht die freie Kunst. "Leto" beweist, wie stark Serebrennikows Glauben daran ist – obwohl er schon diesen Film im Hausarrest fertigstellen musste, der ihm zuletzt bis April 2019 verlängert worden ist.


Der Trailer zum Film