S - Auszug aus einem Theaterstück für zehn Schauspieler*innen von Daniel Tharau auf Basis des Kongresses "Vorsicht Volksbühne!" an der Berliner Akademie der Künste 2018
8. November 2018. Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus dem Theaterstück "S", das der Berliner Autor Daniel Tharau verfasste, auf Basis der in Bild und Ton dokumentierten Auftritte von Expert*innen beim Kongress "Vorsicht Volksbühne" in der Berliner Akademie der Künste am 15. und 16. Juni 2018. Verhandelt wurde bei dem Kongress die "Zukunft der Volksbühne" nach dem Scheitern der Intendanz von Chris Dercon. Teilnehmer*innen waren u.a. Klaus Völker, Evelyn Annuß und Thomas Oberender, die in dem Stück unter Akronymen und fiktionalisiert aufteten.
Das vollständige Bühnenstück finden Sie hier als pdf.
S
Stück
für zehn Schauspieler*innen
von Daniel Tharau
mit einem Dialog, der nur aus Worten, Wortteilen und Gefühlsbekundungen besteht,
die beim öffentlichen Kongress "Vorsicht Volksbühne!"
in der Akademie der Künste in Berlin am 15. und 16. Juni 2018
vom Volk geäußert wurden,
während die Anweisungen für die Bühne
frei erfunden sind,
weshalb es Fiktion ist
1
(Arena)
Noch im Dunkeln blitzen auf dem geschlossenen Vorhang nacheinander sehr groß die Worte sowie das Satzzeichen auf: „Was bedeutet Volksbühne heute?“ |
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Dann archaisches Jubeln einer riesigen Menschenmenge und der Vorhang öffnet sich auf eine im Sonnenlicht liegende Arena, hinten und an den Seiten von riesigen Steinblöcken umschlossen, während der Boden mit Sand bedeckt ist, mit Blut, Waffen und Knochen getränkt – alles wirkt wie aus einem Disney-Film über das römische Reich. Klavö, der alte Gladiator, reichlich gepanzert, betritt die Arena, tritt ins Zentrum. |
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Klavö: |
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Klavö stampft auf, zieht sein Schwert und rennt eine Runde. |
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Solche Überlegungen spielten auch für die Herren Müller und Renner eine Rolle, als sie den Kurator Dercon zum neuen Hausherren der Volksbühne machten. Mobile Verhältnisse sollen geschaffen werden, Kultur ist ein ökonomischer Faktor geworden. Professionalität und Qualität werden unwichtig zugunsten manipulativer Gleichmacherei. Auch die Volksbühne möchte man in ein beliebtes Geschäftstheater verwandeln, kein Theater fördern, dass Mobilität als bewegliches, eingreifendes Denken versteht. |
schreiend |
1929 übernahm Karlheinz Martin die Leitung. Sein Credo lautete: „In bewusstem Gegensatz zum Zufallstheater, das heißt zur Wahl von Stücken und Darstellern aus zufälliger Geschmacksrichtung heraus, ein charaktervolles Theater zu schaffen als Ausdruck eines vorwärtstreibenden, freiheitssüchtigen, kämpferischen Willens. Mit anderen Worten, eine Vereinigung jener aufzurichten, die ein eigenes Theater ihres Willens und ihrer Meinung erstreben.“ |
Wieder stehend, aber atemlos |
Schönen Dank. |
Er verbeugt sich nach allen Seiten … |
(höflicher Applaus) |
… rudert. Dann eine Fanfare und Eannu, mit einem langen Kleid und Flügeln, betritt die Arena. Klavö zieht sich nach hinten zurück. |
Eannu: |
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Sie schminkt sich die Lippen nach. |
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Der Protest gegen die Zerstörung der Volksbühne wurde nicht vom Deutschen Bühnenverein getragen, sondern von Leuten, die sich dagegen wehren, dass ihre Stadt ausverkauft wird. Und dieses energetische Momentum wäre eine Chance für eine Kulturpolitik. |
wie eine Losung ausrufend |
(Applaus und Bravorufe) |
Eannu fliegt hoch. |
Und vor diesem Hintergrund schlage ich folgendes vor: die umgehende Konstitution eines Beratungsgremiums. Dieses soll ergebnisoffen in vier Feldern arbeitsteilig tätig werden und zwar erstens Recherche, Bestandsaufnahme, welche künstlerischen Arbeiten gibt es. Zweitens, Reflexion und Ästhetik. Welche Formate stehen in der Tradition der Volksbühne. Drittens Organisation. Wie ließe sich Intendanz jenseits überkommener Topdown-Strukturen denken? Und viertens das Politische: Wie ließe sich ein Diskursprogramm konzipieren? Wenn wir an die Geschichte der Volksbühne anknüpfen wollen, dann brauchen wir ein Theater, das dazu beiträgt, nachzufragen, wem diese Stadt gehört und was Theater jenseits der Bildungsbürger-Bespaßung sein könnte. Danke. |
von oben und wedelnd |
(heftiger, langanhaltender Jubel, anfangs auch Bravorufe) |
Eannu verbeugt sich, … |
… landet endlich wieder und begibt sich ins rechte Bühnenportal. Währenddessen betritt Thoobe, ein schmaler Feingeist in einem Anzug aus den 20er Jahren des 20. Jahrhundert die Arena. Einen Klappstuhl in der Hand, tritt er mit leichtem Gang zu Eannu, die er mit einer Pfeife anstubst, |
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Thoobe: |
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Julius Bab zählte die Gründung der Volksbühne zu den herausragenden Ereignissen in der Geschichte des Theaters im neunzehnten Jahrhundert, weil, wie er sagt, es zum ersten Mal der Fall war, dass man nicht ein Theater gründet, um Theater zu organisieren, sondern das Publikum. Das ist etwas sehr utopisches gewesen. Es ging darum, dass sich ein theaterfremdes Publikum voraussetzungslos der Erfahrung von zeitgenössischer Kunst zuwenden wollte. Regisseure spielten interessanterweise damals nicht diese hervorgehobene Rolle, wie das später der Fall war. Es ging um die Verführung zum stetigen Theaterbesuch, also man wollte nicht einzelne Ausflüge, sondern eine lange, den Reisenden verändernde Reise. Die Konstruktion als Verein. Dieser marktferne Charakterzug war entscheidend, da das Theater, so der schon erwähnte Julius Bab, eben kein Geschäft sein dürfe, sondern ein soziales Unternehmen. Und das kann eben, so Bab, nur durch die Gemeinschaft selbst organisiert werden. Daher sei es notwendig, soziale Formen der Führung des Theaters zu finden und durchzusetzen. Wir sehen, dass unsere zeitgenössische Diskussion um kollektive Leitungsprozesse im Falle der Volksbühne ein ganz essenzielles Moment darstellt. Aus der Geschichte der Volksbühne wird heute weitestgehend ausgeblendet, dass sie einst entstand, weil man ein Publikum gründen wollte, das der Vorschein einer anderen zukünftigen Gesellschaft war. Und das wollte man in diesem Labor des Theaters formen. Es ging also um mehr als gut gemachtes Theater. |
und endlich sein Pfeifchen anzündet. |
Er löscht seine Pfeife, erhebt sich und tritt an die Bühnenrampe. |
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Das ist keine Sache, die vorbei ist, sondern das ist ein Zug unserer Zeit, dass sich wieder diese Form von Gemeinschaften, die Gemeinschaftsräume eröffnen, bilden. Und das ist ein sich wandelnder Kontext. Das war in den letzten 25 Jahren nicht in gleichem Maße so. Das ist etwas, das halte ich für eine Entwicklung. Zu diesen Institutionen: Da scheint mir es oft so zu sein, dass sie aus ihren Fenstern eher in Angst nach draußen gucken auf diese Bewegungen, auf diese Leute, die mit anderen Zielvorstellungen und Ideen heute die Institutionen, man könnte fast sagen, heimsuchen und hinterfragen. |
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Und im Grunde ist das umso erstaunlicher, wenn das an der Volksbühne der Fall ist, die doch als ein Verein der Selbstbefreiung und Selbsterziehung von mündigen Staatsbürgern begonnen hat. Angesichts eines gesellschaftlichen Risses müssen wir heute von einer anderen Zeit sprechen, als es die Castorf-Jahre gewesen sind. Die Jahre unterm Räuberrad waren Deutschlands bestes Beispiel einer gelingenden Wiedervereinigung. Unter dem Thema „Ost“ arbeitete ein ostwestliches Team und zeigte uns, dass Zustände nicht eindeutig sind, dass wir es aushalten können, den Menschen als ein Wesen voller Abgründe zu betrachten. Längst wurde aus diesem Osten Berlins neue Mitte. Das ist eine wirklich signifikante Verschiebung. Aus dem Osten wurde die Mitte und das einstige Leben um das Haus ist verschwunden, die Gegend gentrifiziert, der Sexshop ist weg. Programm der Nicht-Eindeutigkeit, das ist ein wichtiger Punkt, um das Haus aus, sozusagen propagandistischen Vereinnahmungen rauszuhalten. |
Er setzt sich wieder. |
Er erhebt sich. |
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Alte Volksbühne, tja, zu der zähle ich auch die Chris-Dercon-Zeit. Ich würde sagen, dass auch diese Zeit sehr wertvolle Produktionen auf die Beine gestellt hat und ich finde, es darf kein Ort werden, wo jetzt eine neue Form von Geschichtsrevision betrieben wird, wo es eine künstliche Stunde null gibt. Was lohnt es sich, an den Anstrengungen aus der Dercon-Zeit doch vielleicht nochmal genauer anzuschauen? (Gerede setzt ein.) Also, das Neue beginnt jetzt, und nicht vor einem Jahr. Vielen Dank! |
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(Applaus, ein Bravoruf und ein Pfiff) |
Thoobe nimmt die Reaktionen mit ernster Miene zur Kenntnis, bevor er sich wieder auf sein Stühlchen setzt – während gleichzeitig, Katie, wieder eine moderne, mit einem Leuchtschwert bewaffnete Kämpferin die Arena betritt. |
Daniel Tharau, 1964 geboren, ist Regisseur und Autor. Regieausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule, Regieassistent am Thalia Theater Hamburg, darauf Inszenierungen an diversen Staats-/Stadttheatern und von Filmen, Schreiben von Stücken. Von 2004 bis 2015 Aufbau und Leitung des sozial orientierten Projekts KUNSTPALAST BERLIN. Zuletzt Verfassen des Romans "Unter Zwang", der sich u.a. das Zusammenspiel von Publikum und Theatermachern im Berliner Ensemble während eines Ausnahmezustands vorstellt.
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Bitte korrigieren Sie mich, zum "Topthema" gab es -recht spät meiner Meinung nach- Veranstaltungen in der AdK, in der Urania und der Vierten Welt.
Man könnte sich die Frage stellen, warum kein einziges der Berliner Häuser mit ausgebreitetem Diskussionsprogram einen Abend organisiert hat. Neben den Theatern fallen mir da auch die Festspiele oder das HKW ein.
Es gab zu diesem Topthema diverse Einstiege und teils extreme Positionen. Das wären spannende Diskussionen geworden, getraut hat sich dann aber keiner. Es macht wohl mehr Spass nichts anbrennen zu lassen, in der eigenen Filterblase sitzen zu bleiben und die Wunden zu lecken anstatt die eigene Position in Frage zu stellen oder zu verteidigen.
Kopflastigkeit sollte man einem "Kongress" nicht vorwerfen. Das liegt in der Natur der Sache. Das Problem ist doch vielmehr, dass dem "kopflastigen Geschwafel" an der AdK inzwischen ein "kopfloses Getue" in der Interimsintendanz von Klaus Dörr folgt. Der Wunsch der Anti-Dercon-Kampagne war doch eindeutig, wieder ein Ensemble an der Volksbühne zu sehen. Und zwar kein Ensemble ala Oliver Reeses Berliner Schauspielerbelegschaft, die sich über die Saison für ein Dutzend einzelprojekt-engagierter Regisseure bereit hält, die dann am Schiffbauerdamm einmal pro Saison "Hallo" sagen. Sondern ein Ensemble, das in irgendeiner Form das Erbe von Piscator, Castorf, Schlingensief (und man könnte sicherlich auch noch Fassbinders anti-theater hinzunehmen) anzutreten versucht. Haben wir in dieser Hinsicht irgendetwas von Herrn Dörr angekündigt bekommen? Mitnichten. Anstatt uns an der Volksbühne Produktionen von freien Ensembles vorzustellen, die nach einem leeren Haus suchen, zeigt uns Dörr an deutschen Stadttheatern zusammengeschnorrte Produktionen, die uns für die Zukunft der Volksbühne ebensowenig weiterhelfen wie Daniel Tharaus Dramatisierung des Akademie-geschwafels bei besagtem Kongress.
Ulrich Seidler: Wie würden Sie die Problemlage an der Volksbühne beschreiben?
Klaus Dörr: Auf der einen Seite haben wir produzierte Werke, die keine Nachhaltigkeit haben. Die können bis auf zwei nicht in die neue Spielzeit übernommen werden, was von der Laufzeit viel zu kurz ist. Wir haben zu wenig zu spielen. Gleichzeitig mussten Produktionen, die im selben Volumen gedacht wurden und die eine ähnlich geringe Nachhaltigkeit aufweisen würden, auf das Kalenderjahr 2019 verschoben werden. Das bedeutet, dass man zwar eine schwarze Null bis zum Jahresschluss erreichen kann. Aber zwischen Oktober und Dezember hätten wir monatlich 15 Schließtage eintakten müssen, weil wir zu wenig zu zeigen haben. Das ist nicht Sinn eines Theaters.
Ulrich Seidler: Wie wollen Sie kurzfristig handeln, wer soll die Lücken im Spielplan schließen?
Klaus Dörr: Es gibt drei Grundpfeiler. Das erste ist die Einhaltung vertraglicher Verabredungen und ein entsprechend positiver Umgang mit den Künstlern. Es ist mir ganz wichtig, sie willkommen zu heißen. Die verabredeten Projekte bis Anfang Oktober werden definitiv umgesetzt, aber wie gesagt: Das reicht nicht. Deswegen wollen wir Regieteams finden und Eigenproduktionen ermöglichen. Zwei bis Ende des Jahres, fünf bis zum Sommer 2019. Dafür können auch schon Schauspieler engagiert werden, die möglicherweise den Keim eines neuen Ensembles bilden. Der dritte Pfeiler, auf den wir bauen, ist die Solidarität anderer Theater in Form von Gastspielen, Adaptionen, Übernahmen zu günstigen Konditionen. Da kommt mir viel Positives entgegen.
Ulrich Seidler: Wieso lassen sich auf einmal doch Eigenproduktionen finanzieren?
Klaus Dörr: Da bin ich mit der Verwaltung im Gespräch. Beim Kulturausschuss gab es über die Parteien hinweg Signale, dass man mitgehen würde, wenn die Ausgaben für Produktionen mit einer gewissen Nachhaltigkeit bestimmt sind. Man weiß nie, wie gut eine Inszenierung wird. Aber wenn man es aus eigenen Produktionsmitteln, mit eigener Kraft und mit Schauspielern macht, die perspektivisch an der Volksbühne arbeiten, dann kann man davon ausgehen, dass es auch genügend Vorstellungen gibt. Und unter dem Aspekt der Umsteuerung dürfte das wohl durchgehen.
(Eine unüberprüfbare Tatsachenbehauptung wurde aus diesem Kommentar entfernt. Die Redaktion)