Being Raskolnikow

von Esther Slevogt

Berlin, 8. November 2018. Es geht dem guten Raskolnikow an diesem Abend wie König Ödipus: Er versucht, einem Verbrechen auf den Grund zu gehen, und findet am Ende heraus, dass er selbst der Mörder ist. Rodion Romanowitsch Raskolnikow ist der berühmte Protagonist von "Verbrechen und Strafe" (beziehungsweise "Schuld und Sühne"), der mit einem Beil quasi grundlos in ihrer Wohnung eine alte Pfandleiherin und ihre zufällig anwesende Schwester erschlägt. In Fjodor Dostojewskis 1866 erschienenem Roman weiß der abgewrackte und verarmte Raskolnikow natürlich um seine Tat und fällt danach in der heruntergekommenen Kammer, in der er haust, in einen mehrtägigen fiebrigen Ausnahmezustand, in dem er sich damit auseinandersetzt.

Im Kämmerlein mit dem Dostojewski-Personal

Im Berliner Ballhaus Ost, wo das Kollektiv Prinzip Gonzo den Stoff nun unter der Überschrift "Fleck und Frevel" als Spiel adaptiert hat, hat Raskolnikow sein Gedächtnis verloren und damit jede Erinnerung an seine Tat. Raskolnikow, das sind an diesem Abend wir alle, die Zuschauer*innen. Die Aufgabe in diesem Spiel besteht nun darin, das Verbrechen an der Pfandleiherin Aljona Iwanowna und ihrer Schwester Lisaweta aufzuklären. Dazu wird man auf einen Parcours durch Motive und Räume des Romans geschickt; kann dort Romanfiguren begegnen und mit ihnen (und den vielen Mit-Raskolnikows) interagieren: mit dem versoffenen Marmeladow (Holger Bülow) zum Beispiel, der alle um Geld und Mitleid anbaggert, oder seiner jammernden und mit der Welt hadernden Frau Katerina Iwanowna (Hannah von Peinem). In einem weiteren Raum des so gruseligen wie anspielungsreichen Sets trifft man zwischen leeren Regalen Marmeladows Tochter, die somnambule Gelegenheitsprostituierte und Raskolnikow-Geliebte Sofia (Elena Nyffeler) oder Raskolnikows aasigen Jugendfreund Dimitri Prokopitsch Rasumichin (Moritz Schulze), der in einer Bar logiert. Und so arbeitet man sich langsam in den Romankosmos ein. Flaniert, liest Spuren, stellt Fragen, stöbert in den requisitenreichen Räumen, legt dabei immer mehr Hemmungen ab.

Die Verbrecherseele als Innenarchitektur

Es beginnt damit, dass jede*r Zuschauerin von einem Mitglied der Miliz einzeln hereingebeten wird. Man erhält eine Bauchtasche, in der sich eine Vorladung und ein Ausweis befinden, der auf den Namen Raskolnikow ausgestellt ist. Und zwei Rübel-Scheine, die gültige Währung in der Stadt Deprigrad, wohin Prinzip Gonzo die Handlung verlegt. Dann werden einem die Augen verbunden, und bald findet man sich in einem leeren Raum wieder, wo viel Blut an der Wand klebt, derweil ein Anstreicher gerade damit befasst ist, die Wände dieses Zimmers, wo der Mord stattfand, wieder zu weissen. Ab jetzt muss man sich durch Fragen, Reden und Schauen die Geschichte erarbeiten, die sich hier ereignet hat. Aktives Gestalten, Kommunizieren und Ermitteln ist dringend geboten, da man sonst zum vielschichtig gebauten und gedachten Umgang mit dem Romanstoff keinen Zugang findet und orientierungslos bleibt.

Fleck und Frevel1 560 chr uDas "Fleck und Frevel"-Set im Ballhaus Ost, vom Straflager/der Bar aus gesehen © chr

Ein wichtiger Schlüssel dazu ist das Set von Thea Hoffmann-Axthelm: eine Reihe von Räumen, die um ein großes Zimmer mit langer Tafel und morbidem Tischschmuck gruppiert sind. Hier befindet sich unter anderem das jämmerliche Zimmer Raskolnikows mit Bett, Tisch und Garderobenständer – in fünf Ausführungen. Einmal im Zustand am Tag der Tat, dann am Tag danach und so weiter. Der zunehmende Verwahrlosungszustand des Zimmers spiegelt den Seelenzustand des an seiner Tat und unter dem Druck der Investigationen von Ermittlungsrichter Porphyri Petrowitsch immer irrer werdenden Raskolnikow. Am Ende ist das Zimmer eine Landschaft der Verwüstung. Schwarz regnet ein unheimliches Gemisch aus Federn und Asche auf das Bett, Spuren des Bewohners gibt es kaum noch. Die Rolle des Petrowitsch haben die Gonzo-Macher Holle Münster, Tim Tonndorf und Robert Hartmann unter sich aufgeteilt, die als Miliz ermittelnd der Raskolnikow-Zuschauerarmee auf den Fersen bleiben.

Jedem sein Erzählstrang

Und so kann man den Roman auf mehreren Ebenen erkunden: einmal, indem man als Raskolnikow sein Gedächtnis und die Erinnerung an den Mord wiederzuerlangen versucht und dabei immer genauer die ausgelegten Spuren zu finden und verstehen in der Lage ist; oder indem man sich in einzelne Verästelungen der Handlung begibt – in Randepisoden des Romans, die mehrteilig auf Kassettenrekordern erzählt werden, die einem plötzlich zugespielt werden (wenn man Glück hat). Oder man bleibt an einzelnen der allesamt sehr intensiv gespielten Figuren hängen, an der einäugigen Vermieterin Amalia Iwanowna Lippewechsel (Maria Walser) zum Beispiel.

Fleck1 560 PrinzipGonzo uKaterina Iwanowna und Marmeladow: Hannah von Peinen, Holger Bülow © Prinzip Gonzo

Die Untersuchung und Erkundung hat dann ein abruptes Ende: Man wird plötzlich von einem Mitglied der Miliz aus der Geschichte herausgegriffen und seiner Verurteilung zugeführt. Man selbst ist der Mörder, wird verurteilt und nach Sibirien verbannt. Das Straflager befindet sich im Ballhaus Ost freundlicherweise in der Bar im Obergeschoss. Von dort erlebt man dann doch so etwas wie ein Ende der Geschichte: Eine Stimme erzählt, wie Raskolnikow im Krankenhaus sein Gedächtnis wiederfindet und sich an einen Traum erinnert, in dem die ganze Welt dazu verurteilt wird, einer Seuche zum Opfer zu fallen. Das ist ein bisschen drangeklebt. Denn eine derart ins Immersive aufgebrochene Romanstruktur kann keinen Schluss mehr in der äußeren Form, sondern nur im mitgestaltenden Zuschauerkopf selber finden. Und der ganze existenzialistische Abgrund des Romans blieb ohnehin tendenziell unausgeleuchtet. Ein interessanter Abend war es trotzdem.

 

Fleck und Frevel
Ein immersives Verbrechen nach Dostojewskij von Prinzip Gonzo
Idee, Konzept und Realisation: Thea Hoffmann-Axthelm, Hanna Scherwinski und Prinzip Gonzo, Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm, Kostüme: Hanna Scherwinski.
Mit: Antonia Bitter, Holger Bülow, David Czesienski, Robert Hartmann, Thea Hoffmann-Axthelm, Jan Jaroszek, Holle Münster, Elena Nyffeler, Hannah von Peinen, Hanna Scherwinski, Moritz Schulze, Tim Tonndorf, Katharina Uhland, Maria Walser, Matthias Zeeb.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.ballhausost.de
prinzip-gonzo.de

 

Kommentare  
Fleck und Frevel, Berlin: fiebrig
Sobald man die Augenbinde abgenommen hat, darf man sich unter die vielen anderen Rodions mischen, die zwischen den mit Sperrholz-Wänden abgetrennten Kabuffs flanieren. In jeder Wohnung wartet eine andere Figur aus Dostojewskis Wälzer, der unter den Titeln „Schuld und Sühne“ (klassische Übersetzung) oder „Verbrechen und Strafe“ (neue Übersetzung von Swetlana Geier) bekannt ist.

Jede dieser Figuren fiebert vor sich hin, im Dostojewski-typischen „Nadryw“ und verwickelt die Rodion-Zuschauer*innen/Mitspieler*innen in ein Gespräch. Statt der Schwarmintelligenz klumpt sich die vielfach gespaltene Rodion-Persönlichkeit zu Trauben zusammen, immer dort, wo es gerade etwas lauter wird.

Wir pendeln zwischen den Wohnungen eines Trinkers, seiner Tochter und einer einäugigen Vermieterin hin und her, landen immer wieder bei einem Anstreicher, der verzweifelt damit beschäftigt ist, die Wand frisch zu weißen, aber die Blutspuren nicht wahrhaben will. Jan Jaroszeks Maler steigert sich in einen Wahn der Selbstanklage hinein, lässt sich ans Kreuz binden und ein „Ich war´s“ auf den Rücken pinseln.

Zwei Stunden lang irren die Mitspieler*innen durch den Parcours, ohne der Lösung des immersiven Verbrechens, näher zu kommen. Immer wieder hören sie ähnliche Varianten derselben Versatzstücke und drehen sich im Kreis. Die Stimmung erinnert im Lauf des Abends stärker an Kafka als an Dostojewski. Wie K. werden dann auch die Teilnehmer*innen dieses Theater-Abends mit ihrer plötzlichen Verhaftung und Deportation ins sibirische Straflager konfrontiert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/11/10/fleck-und-frevel-ballhaus-ost-theater-kritik/
Fleck und Frevel, Berlin: Vergleich mit Borderline Prozession
Das glaube ich, dass es ein allemal interessanter Abend war. Warum ich das glaube? - Weil hier nur die Erzählung virtuell defragmentiert wurde, nicht aber der Erzähl r a u m wie etwa bei Borderline-Prozession. Die Räume bleiben physisch begehbar und nicht virtuell. Man könnte sagen hier wird zum Zwecke der Immersion Theater einschließlich Publikum fragemtarisiert und bei Borderline-Prozession wurde so getan, also gespielt, dass Theater und Publiukum fragmentarisiert und dadurch nur durch VR wahrnehmbar seien...
Für Wahrnehmung und Selberdenken und damit für das Theatrale ist das ein Riesenunterschied. -
Jedenfalls dann, wenn man einen literarischen Ausgangstext hat, der nicht aus Samples vieler Ausgagangtexte -literarischer wie non-literarischer - besteht.
Was einen Unterschied zwischen Roman und Drama beim Erzählraum macht:
Man kann das jhetzt sehr gut beschreiben, weil es diese sehr gute Poetikvorlesung vom Schmalz (hier erfreulicherweise ganz zeitnah veröffentlicht) gibt: Schmalz beschreibt diesen vom realen Theaterraum ABSTRAHIERTEN Raum Theater, in den man alles hineintragen muss als Dramatik Schreibende*r. Selbst das Licht. - Beim Roman muss man vom realen Raum Gesellschft - möglicherweise einschließlich Theater - noch so abstrahieren, dass man alles da hineinträgt. Selbst den Menschen...
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