Einladen statt agitieren

von Sabine Leucht

München, 9. November 2018. Der Lamborghini ist für sie so weit weg wie ein Urlaub am Meer, ein neues T-Shirt oder auch nur ein warmes Mittagessen. Stattdessen gibt sie Youtube-Tutorials im Fach Ladendiebstahl. An der Supermarktkasse spricht sie sich selbst in Trance: "Sammeln Sie die Herzen?", "Sammeln Sie die Herzen?"

Die Kölner Gruppe Pulk Fiktion hat sich für "All About Nothing" mit Kinder- und Jugendarmut in Deutschland beschäftigt und Interviews mit Betroffenen geführt. Die Aufnahmen ihrer Antworten steuert Manuela Neudegger über im Bühnenboden versenkte Schalter und bewegt den Mund dazu: jeder Satz eine andere Stimme, ein Schicksal, ein Mensch. Gemeinsam mit drei Kollegen tanzt Neudegger zwischen Projektionen live gemalter Bilder rückwärts durch 21 Jahre einer deutschen Kindheit jenseits des Wohlstands. Die Collage ist manchmal verwirrend sprunghaft und schlampig vernäht, aber ästhetisch eigenständig und inhaltlich beherzt.

Unter den vierzehn Produktionen im Programm des Festivals "Politik im freien Theater" befasst sich "All About Nothing" am buchstäblichsten mit dem Festivalmotto "reich" beziehungsweise seinem Gegenteil. Die Arbeit ist zudem das einzige Jugendstück im Programm. Fünf weitere Produktionen sind für Kinder geeignet. Wie das große Beiprogramm für Schulen ein Novum bei diesem Festival, das nach Aussagen seiner Leiterin Milena Mushak dadurch zwar kein Kinder- und Jugendtheaterfestival werde: "Aber letztendlich kann man mit politischer Bildung gar nicht früh genug anfangen."

Auf Partnersuche

Alle drei Jahre veranstaltet die Bundeszentrale für Politische Bildung das Festival in einer anderen Stadt. Seit 2011 kooperiert sie mit jeweils einem Stadt- oder Staatstheater und einem Akteur der lokalen freien Szene. Lokale Player mit einzubinden ergibt organisatorisch Sinn, weil sich die Bundeszentrale so nicht immer wieder neu in völlig fremden Netzwerken orientieren muss: "Da haben wir immer unendlich viel Energie verbraucht", so Mushak. Diesjährige Partner sind die Münchner Kammerspiele, und der Verein Spielmotor: eine der bundesweit ersten und vorbildlich funktionierenden Public-Private-Partnerships zwischen BMW und der Stadt München. Die Initiative veranstaltet unter anderem das internationale Avantgarde-Festival Spielart. Aber handelt es sich bei Spielmotor wirklich um einen "Akteur der freien Szene"? Es scheint so, dass sich Institutionen wie Bundeszentrale und Kammerspiele zur Kooperation am liebsten ebenfalls Institutionen suchen, und da ist die Auswahl in München mangels eines eigenen Produktionshauses klein.

MareNostrum1 560 Moritz Kuestner uMare Nostrum © Moritz Kuestner

Die Einbeziehung eines Stadttheaters in die Gastspiel-Auswahl begründet Mushak vorhersehbar damit, dass sich Inhalte und Ästhetiken von freier Szene und Stadttheater seit der Festivalgründung 1988 angenähert hätten. Was zweifellos und vor allem in Berzug auf Matthias Lilienthals Kammerspiele stimmt. Dadurch kommt es aber auch zu Déjà vues: So waren Laura Uribes Mare Nostrum und der südafrikanisch-schweizerische Abend über die Distinktionskraft des Geldes in queeren Communities Pink Mon€y bereits in München zu sehen – und die unvermeidlichen Szenegrößen She She Pop, Rimini Protokoll und Gob Squad sowieso. Gleichwohl hat die siebenköpfige Jury ein vielseitiges und interessantes Programm zusammengestellt, das unter dem zu dieser teuren Stadt passenden Motto die Themen gesellschaftliche Teilhabe und Ausgrenzung mit reflektiert.

Auf die Frage nach dem Wandel, den der Begriff des Politischen im Theater erfahren hat, sagt Mushak, dass man inzwischen weit mehr Wert darauf lege politisch Theater zu machen als politisches Theater. Die Anzahl der Kollektive habe von Festival zu Festival zugenommen und diese seien zunehmend internationaler geworden: "Noch bis Freiburg 2014 waren Gastspiele aus dem deutschsprachigen Raum auch deutschsprachig. Das ist vorbei und wird ein Trend bleiben." Und scheint das Publikum weniger zu tangieren als vielleicht erwartet. Alle Veranstaltungen sind voll.

Rassismus mal andersrum

Was das Politische im Theater angeht, spielen viele Arbeiten nach wie vor mit der Grenze zwischen Theater und Realität, sind partizipativ, ja immersiv wie £¥€$, wo einen gegen alle inneren Widerstände das Zockerfieber packt und man die Eigendynamik der Finanzmärkte am eigenen Leib erfährt. Oder bei dem Experiment "Enjoy Racism", das seine Besucher nach Art einer selffulfilling prophecy in eine Sackgasse führt. Denn egal, ob man sich still oder lautstark, ausfallend, politisch korrekt oder gar nicht gegen die Einteilung des Publikums in Braun- und Blauäugige und entsprechend ungleiche Behandlung wehrt, man hat am vorzeitigen Ende der auf Selbstsabotage angelegten Performance des Schweizer Duos Thom Truong seine eigene Privilegiertheit bewiesen. Und wird als Widerständiger gegen die ehernen Regeln dieses bösen Spiels am Ende auch noch des Rassismus' bezichtigt, denn hinter den mehr oder weniger verhüllenden Masken der Menschensortierer und -Vorführer stecken "people of color".

So auch unter der Blondperücke der Versuchsleiterin Ntando Cele alias Marie Caroline Blanche, die uns mit gepudertem Gesicht, very very posh English und herablassender Freundlichkeit rassistische Stereotypen mal andersrum vorführt. Das ist perfide und gut. Doch werden die Codes und Mechanismen theatraler Repräsentation von den Performern benutzt, unterlaufen und für nichtig erklärt, wie sie es brauchen. Es ist interessant zu sehen, auf welch unterschiedliche Weisen sich theateraffine und eher theaterfremde Besucher in diesem performativen Fallstrick für weiße Gutmenschen verfangen. Und welche Diskussionen nach dem Abbruch des Experiments losgehen über Schuld, Betroffenheit und darüber, ob es noch mehr zu sehen gegeben hätte für das Eintrittsgeld, wenn alle Zuschauer still und brav partizipiert hätten.

WhoMoves 2 560 SwooshLieu uWho Moves?! © Swoosh Lieu

Das Wichtigste und Erhellendste an "Politik im freien Theater" sind oft diese Diskussionen danach. So wird in diesen bildfixierten und körperpolitisch bewegten Zeiten heftig gestritten über die Art, wie in Michiel Vandeveldes Paradise Now (1968-2018) (nackte) Kinderkörper präsentiert werden. Das Thema des Abends – die Frage, was die heute Jungen über die revolutionäre Emphase des Living Theatre von 1968 denken – rückt derweil in den Hintergrund. So agitatorisch wie vor fünfzig Jahren, als man die Kunst noch für den Impulsgeber des politischen Umbruchs hielt, ist heute kaum noch jemand unterwegs. Was nicht heißt, dass Missstände nicht aufgezeigt würden wie etwa der harte, perspektivlose Alltag bulgarischer und rumänischer Tagelöhner mitten im reichen München, in den die ortsansässigen Künstler Karnik Gregorian und Bülent Kullukcu das Publikum in ihrem "Tagasyl"-Spaziergang entführen, Teil des umfangreichen Beiprogramms.

Derweil verwursten Swoosh Lieu in Who moves ?! mit wehender politischer Fahne und sicherlich besten Absichten die Erfahrungen geflüchteter Frauen zu einer Stimmencollage. Das Kollektiv schiebt viel Technik herum, erzählt aber hauptsächlich davon, wie toll die westlichen Helferinnen sind, die hier im Schlepptau des Elends der Anderen den Feminismus neu entdecken. Hier ertappt man sich bei dem Gedanken, dass Kunst Kunst und politische Bildung politische Bildung bleiben sollte.

Da ist es schon ehrlicher, wie Gob Squad in Creation (Pictures for Dorian) Bauchnabelschau zu betreiben. Was als erfrischend selbstironische Reflektion über Kunst, Schönheit und den alternden Frauenkörper beginnt, erschöpft sich zwar schnell in langatmigen und allzu selbsttherapeutischen Szenen, aber immerhin trauen sich die Altmeisterinnen aus Berlin noch Bilder zu – große, kitschige, anspielungsreiche Bilder, mit denen sie ihr Selbstbild ins Spannungsfeld von Sehnsüchten, Eigen- und Fremdzuschreibungen setzen und gesellschaftliche wie theatrale Repräsentationsmechanismen zur Disposition stellen. Trotz aller Larmoyanz ist das dann schon wieder politisch.

Ich und meine Reiskocher

Subtiler agiert der in den Niederlanden lebende Jaha Koo mit Cuckoo, worin er selbst von den Folgen der vom "Rettungsplan" des IWF angeheizten asiatischen Wirtschaftskrise in Südkorea berichtet, an die der noch junge Mann bereits sechs Freunde verloren hat. Trocken erzählt Koo von einer Gesellschaft ohne Hoffnung und der persönlichen Trauer um seinen besten Freund, der Selbstmord beging. Hinter sich Bilder realer Alltagsgewalt; vor sich aber hat er niedliche und zickige sprechende und singende Reiskocher der südkoreanischen Marke Cuckoo stehen, die einander zu übertrumpfen und zu erniedrigen suchen. Die Querverbindungen, die der Zuschauer zwischen all diesen Ebenen zieht, erzählen viel mehr über schicksalhafte Verstrickungen, Arbeitsethos und Konkurrenz als jede einzelne für sich. Das ist politische Kunst at its best.

 

Presseschau

Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur (1.11.2018) erläutert Christoph Gurk, Mitglied des künstlerischen Leitungsteams der Münchner Kammerspiele und als solches für die Festivalauswahl mitverantwortlich, das Programm von "Politik im freien Theater" 2018 und macht eine zunehmende Politisierung des Künste aus: "In der Tat ist ja nicht nur im Theater, sondern auch in der bildenden Kunst ein starker Schub von Aktivismus zu beobachten. Kunst soll wieder ein Mittel sein, in gesellschaftliche Prozesse eingreifen zu können.

"Der Riss zwischen Arm und Reich in den Städten wird immer größer, auch in München", sagt Tobias Krone auf Deutschlandfunk Kultur (5.11.2018) und widmet seinen Bericht drei Theaterabenden des Festivals, die die "gesellschaftliche Spaltung" thematisieren: "Paradise Now" von Fabuleus, Noemi Lakmaiers Performance-Film "One Morning in May" (im Rahmen der Performance "Tender Provocations of Hope and Fear") und "Convacatory Conak" von God's Entertainment.

"Das Großartige und in dieser Vehemenz Verblüffende an diesem Festival: Zur Halbzeit waren alle, wirklich alle Vorstellungen ausverkauft, bei manchen die Wartelisten lang. Das erstaunt umso mehr, als die Bundeszentrale neben den Gastspielen ein überbordendes Rahmenprogramm auflegt mit Diskussionen, Vorlesungen, Filmen. Es gibt offenbar eine ungeheure Sehnsucht nach inhaltlicher Relevanz im Theater, auch bei Menschen, die gar nicht so oft ins Theater gehen. Das Festival generiert neues Publikum." So berichtet Egbert Tholl für die Süddeutsche Zeitung (7.11.2018) über "Politik im freien Theater".

Selten hat Michael Stadler von der Münchner AZ (12.11.2018) bei einem Festival eine solche Bandbreite von ästhetisch wie inhaltlich spannenden Arbeiten gesehen, "die nicht ein Puzzle von Petitessen bildeten, sondern jede für sich einen gewissen Atem entwickelte, so daß man oft bereichtert aus dem Theater ging." Passenderweise sei die am Ende als herausragend prämierte Produktion – "Enjoy Racism" von Thom Truong – eine Arbeit gewesen, "die die ihr Pubblikum aus der gewohnt passiven Rezeptionshaltung riss."

 

Kommentare  
Politik im Freien Theater: Lücken
...würde mich interessieren, warum ein Bericht zum Festival, der sich offensichtlich um Vollständigkeit bemüht, einige Produktionen des Hauptprogramms nicht einmal erwähnt, wie das großartige Zvizdal von Berlin, aber auch God‘s Entertainment oder J&J. Vor allem wenn diese nicht zu den déjà vues in München gehören.

(Liebe*r Fragender, nein, der Bericht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber ergänzen Sie doch gerne hier, was Ihnen fehlt – Sie können ja auch noch mehr zu den Produktionen schreiben, die Sie bereits nennen – wenn Sie möchten. Mit freundlichem Gruß aus der Redaktion, Sophie Diesselhorst)
Politik im Freien Theater: wäre interessant gewesen
Liebe Redaktion, danke für die Antwort. Ich habe nicht gemeint, dass der Artikel Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Und es bringt nicht wirklich etwas, wenn ich jetzt meine eigenen Betrachtungen ausführe, weil es für mich interessant gewesen wäre, die Sicht von Sabine Leucht auch auf die anderen von mir erwähnten Produktionen im Rahmen ihrer Überlegungen zum Festival zu erfahren.
Liebe Grüße.
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