Frankensteins Freunde

von Michael Laages

Kassel, 9. November 2018. Was das wohl ist, das in uns (noch) nicht hurt und stiehlt und mordet, aber alle Verantwortung von sich weisen will – und darum meint, dass der eigene Kühlschrank, das Auto intelligenter sein sollte als wir selber? Dass ein Roboter, Computer oder sonst irgendein Kunstgeschöpf uns unsere Kernkompetenzen abnehmen sollte, aus Gründen der Verlässlichkeit … obwohl schon das Schicksal des Homunculus in der glühenden Phiole im zweiten Teil von Goethes "Faust" eher kurz und kläglich ist und auch die Fabel vom jungen Schweizer Arzt Viktor Frankenstein, der in Ingolstadt den "neuen Menschen" erschaffen wollte, nicht wirklich zur Nachahmung einlädt. Das Thema liegt in der Luft: Den vor ziemlich genau 200 Jahren erschienenen Roman der englischen Autorin Mary Shelley entdecken die Theater wieder – und der junge Regisseur Wilke Weermann zeigt jetzt am Staatstheater Kassel eine freie Phantasie über die Erfindung des Menschen.

Romantik gebiert Zombies

Die Szenerie, die uns auf der Kellerbühne vom Fridericianum als erstes begegnet, ist ein trickreich platziertes Zitat: "Abtei im Eichwald", Caspar David Friedrichs Bild von 1809. Das Vor-Bild lässt die Bühne von Josa Marx zunächst als Nebel- und Schattenbild erahnen; Eingang und Fensterflügel des toten Gemäuers hinten, links vorn drei Grabkreuze und über allem Ast- und Stamm-Strukturen alter, abgestorbener Bäume. Als überzeitliche Nonne zeigt sich die Opernsängerin Lona Culmer-Schellbach in diesem Bild und singt im Klang der toten Zeit; später steuert sie auch Pop, Soul und Blues bei. Erst wenn das Licht über den Schattenwurf hinauskommt, sind drei weitere, an die Kreuze gelehnte Figuren zu erkennen. Im Gesang erwachen auch sie zum – naja – "Leben"; mit ruckend-maschinellen Bewegungen ähneln sie eher "walking dead"-Lemuren aus dem Kino, tragen jedoch Kostüme wie aus Mary Shelleys Zeit.

Odem1 560 Nadine Klinger uMenschen-Schemen im Zwischen-Nebel © N. Klinger

Das ist das Entree, und es nimmt sofort gefangen – die "Stückentwicklung" des wirklich noch sehr jungen Regisseurs Wilke Weermann, 1992 in Emden geboren, an der Regie-Akademie in Ludwigsburg ausgebildet, im vorigen Jahr zum "Körber Studio Junge Regie" nach Hamburg eingeladen und mit ersten eigenen Stücken und Projekten an Bühnen in München und Augsburg präsent, startet optisch sehr stark. Der Text hingegen gibt sich zunächst eher unübersichtlich.

Er will vorstoßen zu verschiedenen Grenzgängereien zwischen wirklichem und virtuellem Da-Sein – zum Beispiel mit einer Beschreibung jener Versuchsanordnung, die nach dem englischen Logiker und Computer-Forscher Alan Turing benannt ist. Sie versucht herauszufinden, ob eine Maschine den Menschen davon überzeugen kann, dass sie selber menschlich ist. Turing, der entscheidend mitwirkte an der Entschlüsselung der von den Nazis im Zweiten Weltkrieg benutzten "Enigma"-Geheimschrift, entwickelte den Test schon 1950, aber erst nach seinem Selbstmord in Folge von Zwangskastration wegen Homosexualität und Depression vier Jahre später wurde das Verfahren von der Wissenschaft entdeckt; speziell im Nachdenken über künstliche Intelligenz (KI). Weermanns drei "Androiden", in "weiblichem Design" jung und alt sowie "männlichem Design" von den Grabkreuzen auferstanden, referieren in leicht verfremdetem Mikrophon-Klang viel wissenschaftliche Theorie – und halten die knapp 100 Theater-Minuten mit großer Energie im Gleichgewicht.

Die Künstlichkeit des Menschen

Eva-Maria Keller, Alexandra Lukas und Marius Bistritzky spielen außerdem verschiedene Versuchsanordnungen zu verwandten Themen durch: wie die Robot-Familie die eigene kleine Welt ausstattet (mit einem Vogelkäfig, der eine amüsante kleine Klang-und-Zwitscher-Maschine beherbergt), wie die drei mit den Optionen eigener virtueller Geschlechtlichkeit umgehen könnten – oder mit Nachwuchs aus dem Kinderwagen. Mit dem Urahn Viktor Frankenstein aus Shelleys Roman pilgern sie auf den Friedhof (auf dem sie optisch ja ohnehin leben) und schnippeln an menschlichen Ersatzteillagern herum; gemeinsam wird spekuliert und phantasiert über den titelstiftenden "Odem", den göttlichen Atem.

Odem3 560 Nadine Klinger uKritische Androiden beim Picknick © N. Klinger

Die Androiden versuchen die singende Nonne in einem Leichensack zu verpacken, gegen Ende krabbelt auch das "männliche Design" in den Sack und gibt sich redlich Mühe mit dem Sterben – aber das ist halt nicht vorgesehen. Immer selbständiger agiert die künstlich-intelligente, mittlerweile durchaus auch kritische Masse: Was wir Normalos uns denn einbildeten, den Androiden das wirkliche Leben abzusprechen! Final meldet sich noch Robert de Niro zu Wort mit einem womöglich der "actors studio"-Tradition entlehnten Ratgeber fürs "richtige Weinen" … rückwärts den Countdown zählen bis null, dann fließt die echte Träne. Typisch Mensch – und völlig künstlich.

Jeder der Androiden spielt mit diesem maschinellen Countdown-Motiv, an dessen Ende immer die "Fehler!"-Meldung ertönt. Wilke Weermann hat eine verstörende kleine Spielanordnung voller kluger Material-Zitate entwickelt, deren thematische Zusammenhänge eine Menge Gedankenfutter bereithalten für die Zeit danach. Die szenische Umsetzung gerät verspielt und elegant; Weermann gehört offenbar zu denen, die sich in beträchtlicher Selbstsicherheit Zeit lassen können und nichts überstürzen. Da ist ein Talent auf bestem Wege.

Odem
Text und Inszenierung: Wilke Weermann, Bühne und Kostüm: Josa Marx, Komposition: Constantin John, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen.
Mit: Marius Bistritzky, Lona Culmer-Schellbach, Eva-Maria Keller, Alexandra Lukas und der Stimme von Alexander Marsch.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 
Kritikenrundschau

"'Odem' ist im Wesentlichen eine lose Fläche aus Textzitaten, auch der Weltliteratur. Und genau darin liegt leider das Problem. Ohne deren Nennung und Einordnung bleibt das Ganze unergründlich und zusammenhanglos", schreibt Andreas Gebhardt in der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (online 11.11.2018). Am Ende sei man genauso klug wie zuvor. "Immerhin nimmt man einige interessante visuelle Eindrücke mit nach Hause. Und es wird wirklich sehr schön gesungen, wie auch die drei Hauptdarsteller klasse sind."

 

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