Drei Schwestern – Karin Henkels Anton-Tschechow-Tableau am Berliner Deutschen Theater
Maskenspiele in der Puppenstube
von Christian Rakow
Berlin, 12. November 2018. In "vielen Berliner Theaterköpfen" lebt noch die Erinnerung an "die legendäre Schaubühnen-Inszenierung von Peter Stein". So sagt es der Dramaturg John von Düffel in dem Podcast, den das Deutsche Theater dieser Arbeit beistellt. Und dann kommt er auf den originellen Ansatz dieser DT-Inszenierung zu sprechen: Die Besetzung der drei Schwestern mit männlichen Darstellern sei eine "Verfremdung", die einen dazu bringe, die Motive und Texte Tschechows "noch einmal neu zu hören".
Umklammerung der Altvorderen
An diesen Ausführungen ist zweierlei bemerkenswert: Welche Adressaten muss man vor Augen haben, wenn man Peter Steins Abend von 1984 zum Referenzpunkt wählt und nicht, sagen wir, die unlängst in Berlin gesehenen Drei Schwestern von Simon Stone, die, wenngleich in Neudichtung, ziemlich unumwunden klar machten, dass an diesem Tschechow überhaupt nichts oll und abgegriffen und tausendmal gesehen ist? Das an Theatern stets erhoffte "jüngere Publikum" wohl nicht.
Und wie muss man in Formalismen gefangen sein, wenn man, als gedanklichen Startpunkt die "Verfremdung" ausmacht – und nicht das, was zu verfremden wäre? Die gesellschaftlichen Rollenbilder des vorrevolutionären Russland meinetwegen. Ohne inhaltliche Beweggründe klingt diese Podcast-Sehnsucht, Tschechow aus der Umklammerung der Altvorderen zu lösen und "noch einmal neu zu hören", nach einem fortgeschrittenen Fall von Kantinenkoller. Bitte, die Türen aufreißen!
Gespenstische Gegenwart
Angesichts dieses Konzeptions-Yoga nimmt sich der Auftakt zu Karin Henkels "Drei Schwestern"-Inszenierung "nach Tschechow" erfrischend unkompliziert aus. Angela Winkler, die einzige Frau in der Besetzung, erscheint in einem mächtigen, aufgebockten Landhaus, das Nina von Mechow auf die große Drehbühne des DT zimmern ließ. Ein Designerbau mit surrealen Ecken und Kanten. Die 1944 geborene Winkler ist Irina, die jüngste der "drei Schwestern", in luftigem Kleid. Mit einem Mal ruckelt das Gebälk, das Haus kippt seitlich, und aus dem Kleiderschrank rollt der erschossene Liebhaber Tusenbach (Benjamin Lillie) Irina vor die Füße. Sein Blut noch an der Schläfe.
Aus dieser gespenstischen Gegenwart heraus wird Irina in ihre Erinnerung hinab schlendern, in jene Zeit, als die Zukunft offen schien, als Irina Namenstag feierte, als die Offiziere in der kleinen Provinzstadt waren und man anbändelte, als die verheiratete Mascha sich unglücklich in den ebenfalls gebundenen Werschinin verliebte und Irinia mit besagtem Baron Tusenbach Vorlieb nehmen wollte. Und als Olga, die älteste der Schwestern, ganz das Mauerblümchen im Schuldienst blieb. Eine Besinnung auf die Zeit also, von der das Tschechow-Drama erzählt, als man sich reihum "nach Moskau, nach Moskau" sehnte und niemand fortkam.
Festgetackert an der Rampe
Bis hierhin sehr schön. Die Vergangenheit kann in düsteren Schemen aufsteigen. Voxi Bärenklau zaubert geisterhafte Umrisse auf die Bühnenrückwand. Es sind Projektionen der Spieler, die uns in antiquierten Kleidern und Uniformen entgegentreten. Aber leider kommt die Verfremdung ungut ins Spiel oder eigentlich dem Spiel dazwischen. Festgetackert an der Rampe oder am Wohnungsinterieur geben die Männer ihre Frauenrollen unter Latexmasken, die ihnen kleine Sprachfehler aufnötigen, wohl als symbolischer Fingerzeig auf die Hemmnisse, die alle in diesem Haushalt erfahren haben unter dem Regime des verstorbenen Vaters, dessen Stimme einmal signalgebend hallverstärkt durch den Erinnerungsraum tönen darf.
Das Maskenspiel in Irinas sinisterer Puppenstube wird irgendwann gelassen und jeder ertastet sich seinen eigenen Pfad durchs Konzeptgestrüpp. Bernd Moss als nüchterne Dulderin Olga und als betont leidenschaftsloser Offizier Werschinin. Benjamin Lillie als blonder Gothic-Traum einer Irina sowie als karger Steher Tusenbach. Und Michael Goldberg, der unter seiner brünetten Mascha-Perücke zwar ein wenig wie Eric Idle von den Monty Pythons ausschaut, aber das Publikum doch lieber zotig als kultig anfixt: "Da lebt man nun schon in einem Klima, wo man dauernd Angst hat, es fängt jeden Augenblick an zu schneien, und dann auch noch dieses blöde Gequatsche." Er erntet Lacher zur Belohnung oder zum Trost.
Das Trio ergänzt Felix Goeser in der Doppelrolle als kleinmütiger Bruder Andrej und als seine herrschsüchtige Gattin Natalja Iwanowna. Man kann den Spielern nichts vorwerfen. Sie sind allein als Platzhalter der Tschechow-Figuren gebeten oder – im Sinne des Entwurfs – als Schatten ihrer selbst. In schlanken zwei Stunden spult Henkel mit ihnen ein "Best of" von Tschechow-Files ab, mit Akzent auf allem Sentimentalen und Vergänglichkeitstrunkenen. Schwebende Ambient-Sounds legt sie drüber, weil's aus dem Inneren nicht heraufdrängt.
Der Abgrund weicht
Aber. Als man schon langsam weggedämmert war, da passierte doch noch was. Das stets gesuchte Einzigartige und Bleibende: Angela Winkler, diese Wunderfrau des deutschen Theaters, die in ihrem Alter von bald 75 Jahren noch wie ein jugendliches Gemüt verborgenen Sinn zu wittern vermag, die Worte spricht, als habe sie sie eben erst gefunden, die neugiert und zögert und wagt – sie entert die Bühne. Als Irina. Tritt an die Rampe, in ihr versunkenes Reich: "Ich bin vierundzwanzig und mein Hirn ist völlig zusammen geschrumpft. Ich bin hässlich, alt geworden und gar nichts, nichts, keine Befriedigung in Sicht", sagt sie leise. "Aber die Zeit vergeht, und ständig scheint es, als ginge man fort aus dem wahren schönen Leben, immer weiter und weiter fort, auf den Abgrund zu." Sie spricht, aber nichts vergeht. Die Zeit steht still. Und der Abgrund weicht, und es ist der eine reiche, erfüllte Moment von Lebendigkeit, der alles andere löscht.
Drei Schwestern
nach Anton Tschechow
Regie: Karin Henkel, Bühne und Kostüme: Nina von Mechow, Musik und Sounddesign: Arvild Baud, Licht und Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Felix Goeser, Michael Goldberg, Benjamin Lillie, Bernd Moss, Angela Winkler.
Premiere am 12. November 2018
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.deutschestheater.de
Anfangs "hart am Rand der Travestie-Klamotte" spielten die drei Darsteller in Halbmasken mit "Tschechows wehmütigen Schwestern", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (13.11.2018) "Dafür, dass es nicht beim blanken Hohn bleibt, ist ein rätselhafter Fremdkörper zuständig: Die wundersame Angela Winkler geistert als alt gewordene Irina durch den Abend", setzt Laudenbach zum langen Lob an: "Angela Winkler ist eine Wehmuts- und Sehnsuchtsspezialistin, nichts könnte dieser erstaunlichen Schauspielerin fremder sein als die handelsübliche Theaterironie. Immer scheint sie leise vor Glück zu strahlen", so der Kritiker. "Bei jeder anderen Schauspielerin wäre das purer Kitsch, bei Angela Winkler formuliert es eine Wahrheit." Henkels "Drei Schwestern" (sowie Armin Petras’ Premiere "Die stillen Trabanten" am Tag zuvor) zeigten "die besten Möglichkeiten des Ensembletheaters", so Laudenbach: "Starke Schauspieler, ein kluger Umgang mit literarischen Stoffen, markante Regiehandschriften und das Vertrauen darauf, dass das Publikum bereit ist, auch kompliziertere Wege mitzugehen."
"Hauptsächlich Stimmungen“ greife die stark gekürzte Textfassung von Karin Henkel und John von Düffel auf, bemerkt Barbara Behrendt bei Deutschlandfunk Kultur (13.11.2018): "der Stillstand, den die Schwestern spüren, ihr Lebenshunger, dem sie nie nachgehen werden". Das klinge "wie eine Tschechow-Zitatensammlung". Das "Geschlechterhopping" der Schauspieler, "entmenschlichten Puppen" zwischen der Rolle einer Schwester und der ihres jeweiligen Ehemanns oder Verehrers, kämpfe zuweilen mit seinen rasenden Kostümwechseln. Gestrichen sei die gesellschaftspolitische Ebene; statt dessen erschaffe Henkel "– ihre große Stärke – eine eigene, geschlossene Kunstwelt" mit schauriger "Albtraumatmosphäre". Doch dann trete Angela Winkler, "bald 75 Jahre alt, wundersam mädchenhafte Theaterzauberin", an die Rampe und spreche mit "so viel Verzweiflung, Trotz, Leben, dass das überflüssige Maskenspiel zuvor tatsächlich wie ein entfernter Albtraum wirkt", so Behrendt: "Ein Mensch auf der Bühne, der liebt, leidet, lebt – was für eine Seltenheit."
Die Besetzungsidee sei das Wesentliche an Henkels "Drei Schwestern", so Fabian Wallmeier beim rbb (13.11.2018): Männer, die Frauen spielen? Die Regisseurin habe "gottlob keinen parodistischen Travestie-Firlefanz im Sinn", ist Wallmeier erleichtert, sondern die Schwestern würden "schlicht noch ein Stück mehr von sich selbst entrückt, als sie es im Text ohnehin schon sind". Für die Komik habe Henkel die geeigneten Schauspieler "zur Verfügung": "Bernd Moss ist als älteste Schwester Olga mal blasiert, mal beleidigt, mal entnervt – und als Major Werschinin eine lässig skizzierte Witzfigur. Felix Goeser ist als Bruder Andrej ein wunderbar weinerlicher Jammerlappen – und als dessen Frau Natascha furchteinflößend dominant." Angela Winklers Irina hingegen beginne "zu leben, sie wird greifbarer, wärmer, konkreter, vermeintlich echter", so Wallmeier. "Doch diese Echtheit hat kein Durchkommen an diesem Abend, Henkel lässt sie nur als Ahnung einer besseren Welt durchschimmern."
"Zur Zombie-Show verfremdet" seien Henkels "Drei Schwestern", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (13.11.2018). "Stillstand und Wiederholung, davon erzählt der Abend − und mit entschlossener dramaturgischer Todesverachtung tritt dabei er selbst auf der Stelle." Die "alterslose Bühnenträumerin" Angela Winkler lasse "ihre Augen schimmern, ihr Wesen in Sphären hinauf- und in ihre Seele hineinlauschen", so Seidler. "Selten hat man etwas Trostloseres gehört als das aus hohlem Herz ins Leere oder gegen die Wand gerufene 'Nuja, nujaaa', mit dem Goeser [als Natascha] ein irgendwo schreiendes Kind zu trösten versucht, das er vielleicht selbst ist." Vermutlich habe man "vergessen, solche Identifikationsmomente auszumerzen", denn ansonsten reproduziere der Abend "Depression und Lebensfeindlichkeit": "Der Dramatiker würde mit seinem untröstlich nachsichtigen Lächeln auf eine solche Bußübung schauen: Warum quälen sich die Menschen so?"
"Überraschungsarm und unneu also, das alles. Und zudem seltsam substanzarm. Denn Henkel konzentriert ihre pausenlose Zwei-Stunden-Fassung 'nach Tschechow' auf die expliziten Vergeblichkeits- und Vergänglichkeitspassagen des Tschechow-Textes. Die Figuren werden so zu Thesenvorträgern; tiefenschärfefrei", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (14.11.2018).
Fern und fremd halte Henkel die Geschehnisse, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.11.2018). Dramaturgisch klug findet sie, dass die Schauspieler Frauen- wie Männerrollen übernähmen: "Oben schon Uniformjacke, unten noch bodenlanger Gouvernantenrock. Wie die Personen bei Tschechow zwischen den Epochen feststecken und sich zwischen Resignation und Revolution verlieren, haben sie sich nun zwischen den Geschlechtern und deren Territorien verheddert." Gleichwohl seien’s "typisierte Karikaturen", die aber bei Henkel und dem überzeugenden Ensemble "Prägnanz und Farbe, Schlüssigkeit und Struktur" gewönnen. Auch für Bazinger ist Angela Winkler das "intensiv glühende Kraftzentrum der Inszenierung". Ihr vertraue Karin Henkel, "wie einer Alchimistin der Elemente und Passionen"; ansonsten geistert, "dampft und hallt" es, "pathetisch ausgemalte Klangflächen werden mit schrillen Beleuchtungseffekten überhöht". Aber Tschechows "komplexes Menschendrama" vertrage "selbst derlei schematisierende Charakterisierungen", so Bazinger, "zumal sie mit Sinn und Verstand, Witz und Schwung geglückt sind".
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Beginnen wir mit dem Positiven: es war ein Besetzungscoup von Karin Henkel, die Rolle der Irina auf Benjamin Lillie und Angela Winkler aufzuteilen. Mit ihren völlig verschiedenen Spielstilen markieren sie Irinas Veränderungsprozess.
Höhepunkt des Abends war auch für mich ganz eindeutig, als Angela Winkler nach einem kurzen Auftritt im Prolog im vierten Akt zurück ins Rampenlicht kam. Abwechselnd, teilweise auch gleichzeitig verkörpern sie und Lillie nun wieder die Irina. Die melancholische Ernsthaftigkeit und die Aura von Winklers Bühenpräsenenz ergänzt sich treffend mit der Hibbeligkeit Lillies. Er beackerte das Feld in den ersten drei Akten als kapriziös nölende, in Unschulds-Weiß gekleidete, hysterisch begeisterungsfähige Teenagerin Irina, die immer wieder mit kieksender Stimme von der Zukunft in Moskau schwärmt.
Im Duo mit dem begabten DT-Jungstar Lillie bildet Winkler hier eine Achse, die diesen Abend rettet. Diese Achse lässt auch über die große Schwäche des Abends, die zweite Regie-Idee von Henkel, hinwegsehen: Dass die Schwestern von drei Männern besetzt werden, ist eine Regie-Idee, die wirkungslos verpufft. Die Travestie hat keinen nachhaltigen Verfremdungseffekt, wird auch nicht für Komik genutzt, sondern ist einfach nur ein verschenktes Stilmittel. Es bleibt unklar, was die Regisseurin mit dieser Besetzung bezwecken wollte.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/11/13/drei-schwestern-karin-henkel-deutsches-theater-kritik/
Die Kritiken beschreiben ziemlich weitgehend einen übereinstimmenden Eindruck, und da ich den Beobachtungen von Herrn Seidler vertraue, zitiere ich: "... denn ansonsten reproduziert der Abend mit zusammengestrichenem Tschechow-Text Stillstand, Depression und Lebensfeindlichkeit."
Das benennt anscheinend die Absicht des Abends genau, und die Warnung ist mir Anleitung zum Handeln: "Nicht hingehen!" (Besser: Tschechow lesen! Auch die Novellen.)
Aber eine Frage bleibt:
Das originale Stück beschreibt das Leben und Handeln von Figuren vor mehr als hundert Jahren im vorrevolutionären Rußland, und sie sind alle nicht auf dem Gipfel einer Glückseligkeit - aber das Betrachten des Geschehens hat mich in anderen Inszenierungen zornig gemacht auf die liebenswürdigen Personen, die so sehr unfähig waren zum Handeln, und es hat mich aufgeregt, mein eigenes Handeln zu überprüfen.
Haben wir das nach so vielen Jahrzehnten nicht mehr nötig, weil wir alsbald gemeinsam von den neuen Hochhäusern springen werden?
Und - der Chefdramaturg des Hauses (es hat übrigens auch am Gorki-Theater Berlin eine bedeutende Inszenierung von Thomas Langhof gegeben, die viele Jahre im Repertoire war, und die sicher noch in der Erinnerung vieler Zuschauer ist) hat die Arbeit an dieser Inszenierung betreut. Darf ich sie dann als programmatisch für das Deutsche Theater halten?
Peter Ibrik
Bei Wikipedia finde ich in längeren Ausführungen unter anderem dies (verkürztes Zitat): "Zorn entzündet sich unter Umständen eher an einem falsch oder ungerecht empfundenen Verhalten oder Verhältnissen, mit dem Ziel, diese zu verändern ... während Wut, allgemeiner und dumpfer empfunden wird, unkontrollierter nach allen Seiten explodieren kann."
Ich finde in Tschechows Briefen, insbesondere wenn er über die Arbeit an seinen Stücken in Moskau schreibt, der er fern bleiben mußte, manche zornige Bemerkung.
Und er erkannte,(so zitieren Sie erfreulicherweise), daß die Menschen (in seinen Stücken)... LEBEN wollen. Also muß man doch zornig werden, wenn sie das so wenig schaffen und die drei wunderbaren Frauen am Ende immer noch hilflos(?) nach Moskau blicken, also Träumen und Erinnerungen hinterher laufen.
(Ich sah vor ein paar Tagen am selben Hause "Onkel Wanja": Eine erstaunlich frische und bejubelte Aufführung (mehr als zehn Jahre nach der Premiere), und ich sah viel Zorn bei den Figuren, der sich gegeneinander richtete, und dem alten Text auch Gelegenheit gab, ihn neu zu sehen und zu hören. Jedenfalls ist das Gegenteil von Zorn nicht Sanftmut, und die hat Tschechow nicht gemeint.)
Mit "menschen"-freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
(Es soll dies nicht in einen öffentlich geführten privaten Disput ausarten, deswegen erkläre ich vorab, es wird meine letzte Wortmeldung zu diesem Thema hier sein, aber hier meine Telefonnummer: 030 / 4495835).
Sie "empfinden" Herrn Seidlers Begriffswahl als verfehlt. Welchen Begriff meinen Sie, und warum ist er verfehlt? Sie begründen es nicht, und Ihre Empfindungen in allen Ehren, aber sie sind nicht beweiskräftig und gehen mich nichts an.
Wir sollten unterscheiden zwischen der Absicht, die Tschechow mit seinen Theatertexten hatte, und den Absichten, die die Inszenierungen haben.
Ich bestreite energisch, daß Tschechow mit seinen Stücken und Geschichten
für Sanftmut und Melancholie eintreten wollte (so verstehe ich ihre Worte). Wenn Sie das tatsächlich meinen sollten, so müßten Sie auch das belegen. (Die Aufführungspraxis der letzten 120 Jahre kann als Beweis nicht hingenommen werden). Im Briefwechsel mit der Knipper und in vielen anderen Briefen äußert er sich Tschechow eindeutig auch zu seinen Stücken. Freilich hat er die Ansicht vertreten, der Mensch solle die Würde des anderen Menschen respektieren und schützen, dazu brauchte es aber auch Beispiele, wo eben das nicht stattfindet.
Warum ich zornig gegen mich selber war, das ist aus meinem vorigen Brief deutlich zu entnehmen. Und es hatte natürlich mit der jeweiligen Inszenierung zu tun.
Mit freundlichen Grüßen aus Berlin-Pankow
Peter Ibrik
Um das Albtraumhafte zu betonen, tut Karin Henkel zudem einiges: Sie gibt ordentlich Hall auf die verstärkte Stimmen, arbeitet mit Echos, lässt dräuend schwebende Klänge über die Szenerie legen (Musik: Arvild Baud), bringt wiederholt das Set ins Rutschen, streut Zeitlupenszenen ein und und und. Verfremdung als Ausdruck von Entfremdung. Nur leider ist das Konzept schnell durchschaut und folgt dann nichts Neues mehr. Loop-artig quälen die Figuren sich – und uns – durch immer neue Ausdrücke ihrer Perspektiv- und Ziellosigkeit, was immer und immer wieder auf ein und dasselbe hinausläuft: Man ist in seinem Leben gefangen und kann nicht raus. Männer, Frauen, alle? Warum? Egel“! Gesellschaftliche Aspekte, etwa das Gefangensein in Geschlechterrollen – angesichts der Besetzungsidee ein erwartbares Thema – bleiben außen vor. Stattdessen finden sich die drei plus Entourage in einer Art Beckettschem Nichts wieder, erinnert von einer, die auch nie ausbrach, weil es nichts gibt, wohin man ausbrechen könnte.
Eine seltsam geschichtslose wie ambitionsfreie Inszenierung, deren Grundidee eher dem Wunsch zu entspringen scheint, etwas anders zu machen als all die anderen Interpretationen dieser Geschichte, als dass sie irgendetwas über sie oder über die Figuren oder gar das Allgemeinmenschliche zu sagen hätte. Das sich ganz am Ende dann doch noch hineinschleicht in das Zombie-Kabinett. Denn da kommt Angela Winkler zurück, treten ihr ruhiges wissendes Sprechen, die Worte einer Weisen, die alles gesehen und verstanden hat, in eine ganz außergewöhnliches Spannungsverhältnis mit diesem kindlich verwunderten, naiv staunenden Blick, dieser mädchenhaft unschuldigen Stimme, passen die Sätze der Hoffnungslosigkeit nicht zu der Neugier, die diesem zarten Körper entströmt. Da ist plötzlich ein Leben, das in dieser Kältekammer keinen Platz findet und doch nicht weg geht. Ein still trotziger Protest gegen all diese Lebensfeindlichkeit. Und ein ganz kleiner Glimmer Hoffnung, wo sie längst verboten schien.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/11/25/irina-in-der-geisterbahn/