Tot sind wir nicht - Maik Priebe inszeniert die Uraufführung von Svenja Viola Bungartens Stück am Theater Münster
Zwei Todesfälle und ein Orca
von Gerhard Preußer
Münster, 16. November 2018. Nein, ganz tot sind wir nicht, nur halb. Eine alternde Gesellschaft sind wir. Da geschieht es uns Recht, dass uns eine junge Autorin ein lustiges Stück über das Sterben liefert. Warum verrennt sie sich in ein so morbides Thema? Weil es zwei Glanzrollen für ältere Schauspielerinnen ergibt. Von solchen Schauspielerinnen gibt es viele (von solchen Zuschauerinnen noch mehr), von solchen Rollen wenige. Deshalb hat Svenja Viola Bungarten, die gerade erst den Berliner Studiengang "Szenisches Schreiben" abgeschlossen hat, ein Stück über zwei alte Frauen und eine Leiche geschrieben.
Der Plot
Die alten Schachteln sind Ute K. und Beate, die sich lieben und die Medikamente von Willi, Utes sterbenskranken Mann, verkaufen, um nach Okinawa fliegen zu können, weil dort die ältesten Menschen der Welt leben. Aber Willi stirbt, die Einnahmequelle versiegt, Willi muss bestattet werden, am besten kostenlos. Das führt die Damen zum Bestattungsinstitut Nagel & Nagel. Der junge Jason Nico Nagel hat neue Ideen, er will die Bestattungsrituale modernisieren, um das insolvente Geschäft zu retten. Sein Onkel Pjotr Nagel dagegen will sich lieber umbringen. Jason spendiert Willi ein "Beispielbegräbnis" als Werbemaßnahme für seine großen Pläne. Also kommt Willis Leiche ins Kühlhaus. Dort regiert Franka, Jasons Jugendfreundin, die Leichen einfriert, damit sie in fünfzig Jahren, wenn der Tod überwunden sein wird, wieder zum Leben erweckt werden können. Willi aber erhält ein zeitgemäßes Begräbnis, denn sein Lieblingsfilm war "Free Willy".
Der Prozess der Individualisierung der Bestattungskultur ist heute bereits voll im Gange. Bungarten überdreht diese Entwicklung nur ein bisschen: Jason macht daraus ein Geschäftsmodell. Seine Rebellion gegen die Friedhofspflicht gebiert einen hübschen Slogan für die singularisierte Gesellschaft: "Machen wir Pflichten zu Optionen". Willis Bestattung im Inneren eines toten Orcas, der dann mit dem Hubschrauber in das Grab gesenkt wird, mit doppelter Grabrede, eine für den Orca, eine für Willi, vor staunendem Publikum, ist schon eine wirklich singuläre Performance mit sicherlich anerkennenswerter Eigenkomplexität.
Schmunzeln, kein Trost
Der Soziologe Andreas Reckwitz beklagt in Die Gesellschaft der Singularitäten den Mangel an Trost für "existenzielle Unverfügbarkeiten" in unserer Gesellschaft. Das Theater kann auch keinen Trost bieten, höchstens Schmunzeltherapie. Was sie schon immer nicht wissen wollten, hier erfahren sie es. Die krebskranke Beate analysiert ihre Zukunftsaussichten: Sie muss "sich einreden, dass dieser Rest ein Leben ist und nicht der Rest eines Lebens." Was eigentlich zum Heulen ist, wird so pointiert formuliert, dass man lachen muss.
Alle Ortsangaben und Regieanweisungen sollen gesprochen werden, schreibt die Autorin, das ist angenehm für die Bühnenbildner. Für Maik Priebes Inszenierung der Uraufführung im kleinen Haus des Münsteraner Theaters hat Susanne Maier-Staufen die Bühne mit schmalen Stegen überspannt, zwischen denen schwarze, rechteckige Löcher gähnen wie in den Fels gehauene Gräber. Bunter sind die Kostüme. Die verliebten Damen werfen sich in unterschiedliche Schalen: Nerzmäntel, Negligés, enge schwarze Kostümchen, Kapotthütchen mit Blumen-schmuck, japanische Regenmäntel. Die beiden gar nicht so alten Turteltäubchen (Carola von Seckendorff, Regine Andratschke) können sich wunderbar streiten und zärtlich umgurren.
Großes Finale klein
Die Inszenierung baut immer wieder zusätzliche kleine Scherze ein: Franka (Sandra Bezler) kommt als schwarzes Sackmonster hereingekrochen, die rechtmäßig stumme Leiche Willi (Bernward Bitter) lacht plötzlich laut, wenn es um die Höhe von Ute K.s Rente geht; Jason (Jonas Riemer) kommentiert die Kindheitsgeschichten seines Onkels (Wilhelm Schlotterer) mit komischen Geräuschen. Dennoch bleibt das Gelächter im Publikum gedämpft. Es wird ja der Schmerz nur überlacht.
So wird das große Finale klein. Jason erklärt seinem Onkel, dass er ihn doch lieber nicht bestatten will. Beate gesteht ihrer Liebsten Ute, dass sie nicht nach Okinawa fliegen kann, wegen ihrer Krebserkrankung. Und der sich vom Hubschrauber absenkende Orca, den die eingesprochenen Regieanweisungen großspurig ankündigen, hängt schließlich als kleine Kuscheltierminiatur den Trauergästen vor der Nase. Eine angemessene Lösung der Regie: so harmlos makaber ist das Stück, so harmlos spielerisch passt die Regie sich ihm an.
"Der Tod ist eine Entscheidung - wie das Leben", heißt es am Schluss des Abends. Das wusste schon Albert Camus’ Sisyphos. Also rollen wir weiter den schweren Stein, zu dem wir uns entschieden haben, - nur jetzt leicht erheitert.
Tot sind wir nicht
von Svenja Viola Bungarten
Regie: Maik Priebe, Bühne und Kostüme: Susanne Maier-Staufen, Musik: Ole Schmidt, Dramaturgie: Barbara Bily.
Mit: Carola von Seckendorff, Regine Andratschke, Wilhelm Schlotterer, Jonas Riemer, Sandra Bezler.
Premiere am 16. November 2018
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theater-muenster.com
Auf seinem Blog theatermarginalien.com geht Gerhard Preußer näher auf Andreas Reckwitz Buch Gesellschaft der Singularitäten ein.
Das Stück, eine "große Talentprobe", habe "lohnende Momente" und "schöne Wortschöpfungen", so Stefan Keim im WDR (...). Allerdings fehle ihm der erzählerische Flow, der Bogen. Priebe gelinge es, "mit präzise agierenden Schauspielern die schönen Feinheiten des Stücks herauszukitzeln". Die Inszenierung sei "liebevoll gemacht".
Maik Priebe inszeniere die Uraufführung als "ein augenzwinkerndes Tänzchen über Gräbern", so Harald Suerland in den Westfälischen Nachrichten (19.11.2018). "Einem modernen Todesengel ähnlich, schleicht Schauspielerin Sandra Bezler durch die Szene und spricht kommentierend jenen Nebentext, den die Autorin zwar gesprochen haben will, den sie aber keiner Figur zuordnet."
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Braucht das aber ein Stück - eine Inszenierung, die einen ratlos zurück lässt? Warum dieses Werk jetzt eine UA wert war, das erschließt sich nicht. Schade um die künstlerischen Möglichkeiten, die die SchauspielerInnnen in dem Kontext nicht ausspielen konnten.
mir gefällt der abend und das stück sehr. die schauspieler sind herrlich lakonisch, ein sehr schöner oft melancholischer abend. mit Regine Andratschke und Carola von Seckendorf hat münster da eine idealbesetzung. anrührend und komisch und schmerzhaft.