Ziggy Scheerdust

von Stefan Schmidt

Hamburg, 18. November 2018. Musste das denn ernsthaft sein? Hatte Alexander Scheer wirklich nichts anderes zu tun, als schon wieder eine Musikikone zu verkörpern? Warum nach Gerhard Gundermann im Film jetzt auch noch David Bowie auf der Bühne? Spätestens nach der Premiere der Hamburger Musicalinszenierung "Lazarus" am Deutschen Schauspielhaus liegt die Antwort auf der Hand: Weil er es kann. Und das auch noch überwältigend gut.

Ein Look-Alike wie aus dem Wachsfigurenkabinett

Natürlich spielt Scheer an diesem Abend offiziell überhaupt nicht Bowie. Auf der Besetzungsliste steht als Figur stattdessen Thomas Jerome Newton. Das ist der Außerirdische, dessen Rolle Bowie selbst Mitte der 1970er Jahre in der Romanverfilmung "Der Mann, der vom Himmel fiel" übernommen und später für seine Selbstinszenierung als Künstler weiterverwertet hat. Ein entrücktes androgynes Wesen, das irgendwie nicht von dieser Welt ist. Ein Alter Ego, das Bowie so sehr beschäftigt hat, dass er es kurz vor seinem Tod (zusammen mit dem irischen Theaterautor Enda Walsh) ins Zentrum eines Musicals gestellt hat.

Lazarus1 560 Arno Declair uDavid Bowie? Thomas Jerome Newton? Alexander Scheer! © Arno Declair

In der Hamburger Inszenierung von "Lazarus" versucht Regisseur Falk Richter gar nicht erst, sich diesem legendenlastigen Kosmos zu entziehen. Im Gegenteil: Er bedient sich lustvoll daraus. Mit leuchtend roten Haaren (anstelle seiner naturblonden), vorne fast ins Weiße changierend, mit der bleichen Haut, dem hellen Hut und dem schwarzen Band daran, mit seinen körperbetont geschnittenen Anzügen könnte Alexander Scheer in jedem Wachsfigurenkabinett als perfekte Kopie des extraterrestrischen (Film-)Bowies anheuern. Beeindruckend: Auch stimmlich kommt Scheer dem Original erstaunlich nah. Ausdrucksstark und kraftvoll trifft er den leicht schmachtend lakonischen Bowiesound mit lässiger Selbstverständlichkeit.

Nur noch 'ne trübe Tasse

Klingt nach einer perfekten neuen Attraktion für Bustouristen? Die ultimative David-Bowie-Tributeshow, buchbar im Beweihräucherungspaket mit Udo Lindenbergs "Panik City"? Der "Lazarus"-Abend am Schauspielhaus ist zum Glück mehr als das. Und auch das liegt nicht zuletzt an Alexander Scheer, den die Inszenierung in eine auratisch charismatische Höchstform treibt. Egal ob er wirkungssicher auf einem Plexiglasliegestuhl vor lauter Weltüberdruss ins Leere starrt, sehnsuchtsvoll poetisch mit einem gesichtslosen Maskenwesen im rot-blauen Glitzerweltallkostüm über die Bühne tanzt oder zärtlich singend mit der beeindruckend schnell wandelbaren Schauspielkollegin Julia Wieninger die Möglichkeiten einer Annäherung zwischen einem dem Gin verfallenen, vereinsamten Außerirdischen und einer frustrierten grauen Menschenmaus auslotet. Da gibt es Blicke und Gesten, die einem den Atem rauben. Da entsteht in manchen Szenen und Musikclips (etwa zu "Where are we now?" und "Absolute Beginners") eine Ahnung von Tiefen, die dieses Musical sonst allenfalls bedeutungsvoll behauptet. Da wächst Scheer über Bowie hinaus.

Das ist nämlich schon ein Stück weit das Problem auch dieser Inszenierung: ihre Vorlage. "Lazarus" ist wie ein Stern, der aus der Ferne schillernd leuchtet, aber bei näherer Betrachtung schon längst in sich zusammengefallen und kalt ist. Das Musical beschreibt den im Grunde hoffnungslosen Zustand seiner Hauptfigur, eines "Sterbenden, der nicht sterben kann" und der es nicht in seine Heimat zurückgeschafft hat. Die eigentliche Handlung (des Films, des Romans) liegt schon weit zurück. Statt mit Menschen haben Bowie und Walsh ihren Außerirdischen mit Klischees und Allegorien umgeben, und die verbleibenden Dialogfetzen erinnern teils doch etwas zu stark an eine Mischung aus düsterem Poesiealbum und Vorabendsoap ("Jetzt bin ich nur noch 'ne trübe Tasse").

Es glitzert und leuchtet

Wo nicht wirklich viel passiert, begibt sich Regisseur Falk Richter auf eine Expedition in den Assoziationsraum unserer Zeit. Auf Videoleinwänden und Bildschirmen flimmern fast durchgehend irgendwelche "Breaking News", Bilder diverser Schießereien und anderer Wahnsinnstaten aus den USA (davon gibt es genug), von Angela Merkel im medialen Bürgerdialog, von der Lindenstraße und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, von Hamburgs früherem Bürgermeister Olaf Scholz und den Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel. Und natürlich erklärt all das, warum Bowies Außerirdischer Newton unsere selbst ernannte Zivilisation für eine "laute, wurzellose, dumpfe Kultur" hält, die nur mit sich selbst beschäftigt ist. Natürlich sehnt sich dieser Kerl angesichts des ganzen gesellschaftlichen Wahnsinns nach Hause, auch wenn es dort – anders als auf der Erde – nicht genug Wasser gibt. Da hilft es auch nicht viel, wenn bunt vermummte Tänzer mit "Fuck Söder"-Shirts das Erregungselend dieser Welt zum Popzitat erklären.

Lazarus2 560 Arno Declair uRockparty vor Kunststofffels: Hanns Clasen, Alain Croubalian, Yorck Dippe, Johanna Lemke, Chris Scherer, Alexander Scheer, Sachiko Hara, Samatha Wright © Arno Declair

Überhaupt mangelt es diesem Abend nicht an bunten Bildern und überbordender Ausstattung: Andy Besuch zitiert mit seinen Kostümen so ziemlich alles von ABBA über Science-Fiction-Fiction-Trash und Manga-Comics bis zu "Kill Bill". Hauptsache, es glitzert und leuchtet. (Nur der hinkende Teufel Valentine, der sich als Schutzheiliger der Liebenden ausgibt, darf schwarzen Lack tragen.) Ein Fest fürs verspielte Auge. Und ein optischer Gegenentwurf zu der großen, grauen Gesteinsformation, die Katrin Hoffmann ins Zentrum ihres überzeugenden Bühnenbilds gesetzt hat. Eine Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste, eine Erinnerung vielleicht auch an Newtons karge Heimat, mit Kirschblütenbäumen am Rand und einer Felsenbar rechts in der Ecke.

Worum sie singend ringen

Wenn Newton nicht dort ist, schreitet oder kauert oder liegt er oft auf einem eisig blau-weiß beleuchteten gezackten Steg, der in die ersten Publikumsreihen ragt. Da kommt sie uns dann auch räumlich ganz nah, die Verlorenheit dieses kosmischen Reisenden mit seiner sehr irdischen Sehnsucht nach Liebe und Halt. Da wird manchmal spürbar, worum sie alle singend ringen, der faszinierend diabolisch hintertriebene Tilman Strauß als zerstörerischer Mörder der Verliebten etwa oder die immer wieder sich selbst, das Glück und die Erfüllung suchende Elly der Julia Wieninger (auch diese beiden sind stimmgewaltige Sänger, die darstellerisch das Maximum aus ihren Rollen machen). Nur trägt die Grundkonstruktion dieses Musicalraumschiffs am Ende dann eben doch nicht wirklich weit in irgendwelchen Tiefen, erst recht nicht in die des Alls.

Bleiben wir also auf dem Boden irdischer Tatsachen: Der Hamburger "Lazarus" ist gut gemachte Unterhaltung mit Gänsehautmomenten. Ein immer wieder funkelnder Theaterabend, der Spaß macht. Und Alexander Scheer als Newton ist ein Ereignis!

 

Lazarus
von David Bowie und Enda Walsh
nach dem Roman "The Man Who Fell To Earth" von Walter Tevis Deutsch von Peter Torberg
Regie: Falk Richter, Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Andy Besuch, Musikalische Leitung: Alain Croubalian, Licht: Hartmut Litzinger, Video: Chris Kondek, Dramaturgie: Rita Thiele
Mit: Yorck Dippe, Sachiko Hara, Jonas Hien, Thomas Mehlhorn, Alexander Scheer, Tilmann Strauß, Julia Wieninger, Gala Othero Winter; Teenage Girls (Choreographie und Tanz): Johanna Lemke, Chris Scherer, Nina Wollny; Band: Sonja Beeh, Kay Buchheim, Hanns Clasen, Alain Croubalian, Bernadette La Hengst, Stephan Krause, Rebecca Oehms, Samantha Wright.
Premiere am 17. November 2018
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Ein paar bewegte Bilder der Inszenierung sendete der Norddeutsche Rundfunk

 

Kritikenrundschau

Einen klaren Zugriff lasse Falk Richter vermissen. "Bei ihm ist alles vor allem: bunt", so Katja Weise vom NDR (18.11.2018). "Vielleicht müsste man die zugegeben eher eindimensionale Vorlage subtiler oder abstrakter umsetzen. Und nicht in erster Linie auf überwältigende Effekte setzen." Immerhin: Alexander Scheer als Bowie sei "ein Geschenk".

"Rocktheater auf der Höhe der Zeit" bei dem sich Bühne, Video und Musik zu einem stimmigen Ganzen fügten, so Falk Schreibers Eindruck. Falk Richter sei an diesem Abend mehr Spielleiter als eigenständiger Regiekünstler, "aber auch als Spielleiter beweist er sein Händchen für funktionierendes Theater", schreibt Schreiber im Hamburger Abendblatt (18.11.2018). Der Regisseur nehme die strengen Rechtevorgaben schulterzuckend hin und wisse unter solch beschränkenden trotzdem beeindruckende Bühnenkonvention zu machen.

Alexander Scheer habe Bowie perfekt studiert. "Und er kriegt das hin, diese Distanz, Verzweiflung, Gefasstheit, Größe. Nur eben mit der Stimme von Alexander Scheer. Der singt zwar auch toll, und sein Charisma reicht für den Saal des Schauspielhauses, aber dem Gesang fehlt der Nachdruck, die Größe und die monströse Exaktheit Bowies", so Stefan Grund in der Welt (18.11.2018). "Dennoch ist es ein reines Vergnügen, den Schauspieler Scheer bei der Arbeit zu erleben." Regisseur Falk Richter erfülle alle Erwartungen: "Irgendwas flackert immer über die Bühne, nicht nur akustisch."

"Der Aufwand dieser kniefällig–kitschigen Inszenierung ist enorm, was sie allerdings nicht besser macht, denn außer Breitwandausstattung und medialem Dauerfeuer hat Falk Richter wenig zu bieten: Die Opulenz der Aufführung ruft nichts als kosmisch-triste Leere hervor", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (21.11.2018).

Das Wohnzimmermusical sei "ein totaler Schmock aus Biederkeit und Phantasma, dessen Hohlformeln die Regisseure aber – durch Verträge gezwungen – nicht ändern dürfen", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (24.11.2018). Die Schauspieler würden das Hölzner der Vorlage an Steifheiten noch verdichten. Alexander Scheer habe als einziger eine Präsenz, die auch ohne Kostüm ausgekommen wäre. "Leider langweilt er sich meist, weil ständig andere Bowies Lieder singen."

"Scheer nehme die Mimikry-Rolle des Künstlers David Bowie an", schreibt Jens Fischer in der taz Nord (3.12.2018) in der einer Doppelbesprechung von "Lazarus", das jüngst auch in Bremen inszeniert wurde. Falk Richter knüpfe "an den Bilder-Overkill seiner Jelinek-Inszenierung 'Am Königsweg'“ an: US-Präsidenten erscheinen im medialen Rauschen, Terroranschläge, Amokläufe, Umweltkatastrophen und Kriege." Ihm gelinge dank des gesanglich überzeugenderen Ensembles und seiner multimedialen Dauerbespaßung der dichtere, in Bremen mit formaler Feinzeichnung der klarere Abend gelingt. "Argumente für das Stück sind beide nicht."

 

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