"Die sind schon längst runtergefahren!"

von Falk Schreiber

Hamburg, 18. November 2018. Meinen die das eigentlich ernst? Dass Stéphane Laimé einen altmodischen Anatomiesaal auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters baut, und in diesem Saal bastelt sich dann Frankenstein (Sebastian Zimmler) sein Monster zusammen, assistiert von Knecht Igor (Marie Löcker)? Und als dieses Monster (Pascal Houdus) zum Leben erweckt wird, passiert das mit allem, was die Trickkiste des Theaters von anno dazumal hergibt, mit Kunstnebel und Blitz und Donner? Das ist ernst gemeint, echt jetzt?

Ist es natürlich nicht. Jan Bosse zitiert zum Einstieg seiner Künstliche-Intelligenz-Collage "Frankenstein / Homo Deus" ein wenig Grand Guignol, und weil das Publikum dabei nicht im Zuschauerraum sitzt, sondern auf der Bühne selbst, wird die Bühnenmaschinerie (sowie die routinierte Gruselproduktion dahinter) offengelegt. Das ist nicht ohne Charme, auch weil die Schauspieler den Schmu mit großer Freude mitmachen, Löcker als augenrollendes Fetischwesen, Zimmler als wirr brabbelnder Westentaschen-Faust ("Philosophie und Wissenschaft und die Weisheit dieser Welt / hab ich geprobt!"), Houdus mit Mut zu Kotze, Gewalt und Lautstärke. Doch, bis dahin darf man noch annehmen, dass dieser Abend was werden könnte.

Frankenstein 3 560 Krafft Angerer xSebastian Zimmler fäusteschwingend und Pascal Houdus liegend  © Krafft Angerer
Er wird aber: heilloses, nicht zu Ende gedachtes Wollen, das zudem unglaublich kompliziert konstruiert ist. Der Abend ächzt unter seinem theoretischen Überbau – nicht nur, dass "Frankenstein / Homo Deus" inspiriert wurde von der britischen Gruselautorin Mary Shelley und den Künstliche-Intelligenz-Theorien des israelischen Historikers Yuval Noah Harari, laut Programmheft spielen auch Motive von Isaac Asimov, Fischli/Weiss, Michel Houellebecq, Aldous Huxley, Monthy Python und vielen anderen mit rein in die Frage, was eigentlich aus der Menschheit wird, wenn die Biotechnologie in der Lage ist, Wesen zu erschaffen, die praktisch alles besser beherrschen als der Mensch. Und damit das vielstimmige Nachdenken über diese Frage angemessen abgebildet wird, gibt es auch viele (naja: fünf) unterschiedliche szenische Konzepte. Auf der Bühne den Grusel, im Mittelrangfoyer eine halbwegs lustige Kabarettnummer mit der gnadenlos unterforderten Karin Neuhäuser, im Parkett einen kurzen Horrorfilm von Jan Speckenbach, und so weiter. Und das Publikum wechselt in Kleingruppen von Station zu Station. Klingt schlüssig, hat aber in erster Linie zur Folge, dass man enervierend lange rumsteht, weil man auf den Einlass zur nächsten Nummer wartet.

Rumstehen ist die neue Immersion

Bosses Konzept behauptet einen immersiven Charakter, der Zuschauer soll sich als Akteur fühlen, der sich frei zwischen verschiedenen diskursiven Räumen bewegen kann. Bloß dass das Behauptung bleibt – erstens ist man nicht frei, sondern in ein strenges Korsett eingebunden, das keinerlei Entscheidungsmacht ans Publikum überträgt. Zweitens bewegt man sich meist überhaupt nicht, sondern steht Schlange. Und drittens sind die versprochenen Diskurse meist mehr oder weniger ödes Nummerntheater. Einmal ziehen Paul Schröder und Jirka Zett als Wissenschaftler durch den Saal und versuchen, einen echten Menschen im aus Bots bestehenden Publikum auszumachen. Hierfür wenden sie verschiedene Tests an, von denen einer darin besteht, die Funktionen der Bots runterzufahren. Zett leuchtet einzelnen Zuschauern ins Gesicht und gibt Entwarnung: "Die sind schon längst runtergefahren!" Und, Gott, er hat recht!

Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass vieles an "Frankenstein / Homo Deus" für sich genommen funktioniert: Ja, die Wissenschaftler-Nummer ist schwachbrüstig, aber Zett und Schröder sind begnadete Komödianten, die auch aus einer schwachbrüstigen Nummer noch ein, zwei Lacher ziehen können. Ja, eine einfache Putzfrau über Künstliche Intelligenz schwadronieren zu lassen, ist öde, aber solange Karin Neuhäuser dieser Putzfrau all ihre Weltverachtung schenkt, schaut man ihr immer noch gerne zu. Und, ja, dank dieses Ensembles ist sogar der viel zu lange Teil nach der Pause erträglich, der eine posthumane Gesellschaft mal als Alptraum, mal als halbwegs glückliche Utopie zeichnet (und der daneben andeutet, dass Bosse womöglich wirklich ein paar mehr oder weniger gelungene szenische Ideen hatte).
Und das ist leider das Beste, was sich über diesen unausgegorenen, verstolperten, viel zu viel wollenden Abend sagen lässt: dass er über weite Schrecken durchaus erträglich ist. Nur vergisst man das sofort wieder, weil man ja gleich weiter muss. Beziehungsweise im Foyer stehen, bis es endlich weiter geht.

 

Frankenstein / Homo Deus
Inspiriert von Mary Shelley und Yuval Noah Harari
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Jonas Landerschier, Video: Jan Speckenbach, Dramaturgie: Susanne Meister
Mit: Pascal Houdus, Marie Löcker, Karin Neuhäuser, Paul Schröder, Jirka Zett, Sebastian Zimmler sowie Elena Beyersdorf, Catherine Claussen Vilas, Anna-Lea Geizler, Mila Nitzel, Don Schmidt, Thomas Geiger; Rolf Bach, Cheng Ding, Karolina Maria Kierzkowska (Film)
Premiere am 18. November 2018
Dauer: 3 Stunden 25 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Zu leichtfertig, zu ironisch spöttisch dahingeplaudert findet Eberhard Spreng vom Deutschlandfunk (19.11.2018) die "lockere Show": "Regisseur Jan Bosse sah für die theatrale Bewältigung einer der größten Herausforderungen der Menschheit wohl keine Chance für eine kohärente Erzählung". Geboten seien "eher versprengte Ideen, Bilderskizzen, kurze Einblicke in eine gewaltige Materialsammlung", in denen transhumanistische Übergangswesen allerlei "Schabernack" mit den großen Fragen trieben.

Fragen zum "Traum vom künstlichen Menschen" stelle Bosse in seiner Inszenierung, aber er beantworte sie nicht, bemerkt Heide Soltau im NDR (19.11.2018): "Er reißt das Thema an, bebildert und illustriert es, teilweise recht albern, zum Beispiel, wenn die Schauspieler als Androide verkleidet mit Lichtschwertern herumfuchteln." Überzeugend sei der Abend dann, so Soltau, wenn Bosse "auf derlei Schickschnack verzichtet und stattdessen auf das Wort setzt und die Schauspieler auf suggestive Weise ihre Texte sprechen lässt". In den besten Momenten verknüpfe sich "Esprit mit Witz", wie in der Putzfrauen-Szene von Karin Neuhäuser.

Entschieden zu viel gewollt habe Regisseur Jan Bosse – und sich ziemlich verheddert, schreibt Monika Nellissen in der Welt (20.11.2018). Karin Neuhäuser feudle zwar "auf ihre unvergleichliche Weise trocken, pragmatisch, erfrischend schnoddrig" fünf Szenen weg, zwischen denen in Bosses "Stationendrama" allerdings Warten angesagt sei. Trotz der "hingebungsvollen Schauspieler, einiger witziger Apercus und einer blöden Kissenschlacht" ziehe sich die abschließende Ensembleszene in der "Schönen neuen Welt" lang hin. Beeindruckend findet Nellissen allerdings das Bühnenbild von Stéphane Laimé und die Kostüme von Kathrin Plath; ein großes Kompliment macht sie den Bühnenmalern, "die auf einen Rundvorhang verschiedene, anatomisch genaue Zeichnungen gebannt haben".

Eine "mühsame, dreieinhalbstündige Schnitzeljagd" hat auch Lars Fetköter von den Lübecker Nachrichten (20.11.2018) miterlebt: "Der Zuschauer stolpert durch ein Potpourri von Anekdoten, in dem vieles beliebig wirkt und belanglos bleibt." Der Fokus, mit dem aus dem "Zwischenergebnis eines Brainstormings zum Thema künstliches Leben" ein packender Premierenabend werde, "dieser Fokus fehlt".

"Oberflächlich, lasch und künstlerisch völlig nichtssagend" lautet Irene Bazingers Urteil in der FAZ (21.11.2018). "Es geht inhaltlich um alles und nichts, doch in der Inszenierung von Jan Bosse eben leider theatralisch vor allem: um nichts." Einzig die wunderbar unverblümte Karin Neuhäuser als Putzfrau bringe die Problematik in einem geistreichen Monolog auf den Punkt. "Die nämlich sorgt sich nicht um die Entwicklung der Künstlichen, sondern um die Stagnation der menschlichen Intelligenz. Vielleicht hätte ihr Jan Bosse besser zuhören sollen."

Am Thalia-Theater rasten einige Humanoide und ihr Schöpfer in kurzen Szenen so ergreifend, "dass man gerne etwas über sie erfahren hätte – dazu taugt diese Szenencollage allerdings nicht", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (24.11.2018). "Cyborg Pascal Houdus hat eine Menge Science-Fiction-Filme gesehen und destilliert daraus sehr komisch den verzweifelten Maschinenmensch, der so gerne Gefühle hätte. Oder Sebastian Zimmler und Marie Löcker als Frankenstein und Igor dürfen ein Viertelstündchen in einem furiosen Ballett der Filmzitate das traurige Monster erschaffen, womit der titelgebende Stoff aber auch schon erschöpft war."

 

Kommentare  
Frankenstein/Homo Deus, Hamburg: unterhaltsam
Die Uraufführung „Frankenstein/Homo Deus“ ist durchaus unterhaltsam, aber bei weitem nicht so tiefschürfend wie erhofft. Im ersten Teil eine bunte Revue kleiner Nummern, nach der Pause treffen sich alle Gruppen wieder im großen Saal.

Das Finale „Schöne neue Welt“ schleppt sich zwischen Kissenschlacht und Philosophiezitaten etwas ziellos und vor allem zu lang dahin. In seiner Anspielungswut streift Bosse so unterschiedliche Autoren wie Isaac Asimov, Stanislaw Lem, David Foster Wallace, Marc-Uwe Kling und Monty Python. Dabei gelingen aber noch einige schöne Momente wie ein Duett von Pascal Houdus und Karin Neuhäuser, die gemeinsam Bachs „Komm süßer Tod“ singen, bevor auch die Welt der Posthumanisten, die von der Bühne auf den Homo Sapiens im Zuschauerraum herabblicken, im Schwarz versinkt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/11/18/frankenstein-homo-deus-thalia-theater-kritik/
Frankenstein / Homo Deus, Hamburg: Spiegel
Frankenstein – Homo Deus
Visionen sind die Grundlage dieser Inszenierung. Einerseits Marry Shelleys (Alp)Traum von der Erschaffung eines „menschlichen“ Wesens im 19. Jahrhundert, das sich an seinem Schöpfer rächt und Yuval Noah Hararis Vision im 21. Jahrhundert, wie der Mensch zum Homo Deus wird und der Dataismus, Individualismus und freien Willen ersetzt. Der Homo sapiens in der Gefahr sich durch die rasante Entwicklung der Gentechnik und Digitalität in seiner Existenz zu gefährden. Diese brisanten Themen unserer Gegenwart und Zukunft transferiert Jan Bosse in einen trashigen, schwarzhumorigen Theaterabend über Menschen und Androiden sowie freien Willen und digitale Algorithmen. Der Abend besteht aus 5 Stationen, die von 4 Zuschauergruppen besucht werden unter Leitung ihrer Androiden (Blau, Grün, Gelb, Rot). Der Abend begann mit dem Film „Im Menschen Reservat“. Androiden besuchen ein Menschenreservat wie einen Zoo. Die Übergänge zwischen Androiden und Menschen sind fließend. Der Mensch ist noch kenntlich durch Emotionen, auch wenn diese bereits verkümmert sind. Der Film eine typische Low-Budget-Produktion, die im tristen Schwarz-Weiss farblos blieb. Der zweite Part war „Das Anatomietheater“. Dr. Frankensteins Erschaffung eines „menschlichen Wesens“. Eine Reminiszenz an Frankenstein-Filme mit den Mitteln des Theaters. Der Reiz dieser Szene lag in der schauspielerischen Leistung von S. Zimmler (Frankenstein), M. Löcker (Igor) und P. Houdus (Monster). M. Löcker als Igor brillierte mit Blicken, Gesten und erinnerte mich an Riff Raff aus der „Rocky Horror Picture Show“. Ihr zuzuschauen war ein wahrer Genuss. S. Zimmler wie immer stark in exaltiertem Spiel und ein eleganter Jongleur der Sprache. P. Houdus stark im körperlichen Ausdruck dieses Monsters. Es war ein kleines Fest der Schauspielkunst. Weiter ging es ins „Forschungslabor“. Wo sitzt der Mensch im Publikum unter den Androiden. Surreale, trashige Comedy im Sinne Monty Pythons wurde geboten unter der Thematik Mensch und Emotion. P. Schröder und J. Zett, beide begnadete Komödianten, lieferten ein herrliches Kabinettstück zur Frage, wie unterscheide ich zwischen Menschen und Androiden. Weiter im Mittelrangfoyer zum „Vortrag Homo Deus“. K. Neuhäuser als Putzfrau. Der Abend erhält zum ersten Mal Glanz, wenn sie über künstliche Intelligenz und deren Folgen „philosophiert“ in ihrem die Welt verachtenden Monolog. Besonders schön die Story des Spatzen Scronkfinkle als Metapher für die Risiken einer digitalen Superintelligenz. Pause und Zeit für ein erstes Resümee. Ist diese trashige, schwarzhumorige Performance der Schlüssel zur emotionalen Wahrnehmung einer gefährlichen Zukunft, in der wir uns des Menschseins womöglich selbst entledigen? Sind da nicht Abende von Rimini Protokoll ehrlicher und erhellender als trashige, schwarzhumorige Horrorszenarien einer digitalen Zukunft, die den freien Willen des Menschen unterbindet. Letzter Teil „Schöne neue Welt“. Androiden unter einem Himmel von Spiegelneuronen. Alles wird noch trashiger und surrealer. Alle Ensembleandroiden liefern nochmals grandioses Theater ab, als seien sie die besseren Schauspieler. Die Akteure waren die Garanten für einen unterhaltsamen, trashigen, schwarzhumorigen Abend zum Thema digitale Superintelligenz und Gentechnik als möglicher Garant für gottähnliche Unsterblichkeit. Doch blieb der Gedanke Hararis „History began when humans invented gods, and will end when humans become gods“ nicht zu nebulös und wäre mehr Schärfe nicht der stärkere Spiegel gewesen, um uns zu ernsthaftem Nachdenken und Handeln zu bewegen? Doch im vermeintlichen Scheitern dieser Inszenierung liegt vielleicht ihre wahre Größe. Man beginnt zu überlegen: Warum? Wieso? Weshalb? Ich beschäftige mich aktiv mit dem Stoff und damit folge ich der Putzfrau, indem ich über die Stagnation der menschlichen Intelligenz nachdenke. Ich denke also bin ich (hier falsch?)!!!
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