Die Abweichungen - Elmar Goerden bringt Clemens Setz' neues Stück am Staatstheater Stuttgart zur Uraufführung
Der Teufel im Detail
von Steffen Becker
Stuttgart, 18. November 2018. Erst im Frühjahr der Erfolg mit den Flüchtlingen auf der Wasserrutsche und jetzt das! "Man arbeitet lange so im Schatten dahin. Und dann plötzlich, wow. Fällt einem einfach alles servierfertig in den Schoß." Worüber sich die Galeristin so freut, sind Miniaturen aus dem Nachlass einer Selbstmörderin. Sie hatte als Putzfrau gearbeitet und die Wohnungen ihrer Kunden nachgebaut. Als diese nach und nach in der Galerie zu einer Preview auftauchen, stellt sich heraus, dass die Tote in ihren ansonsten perfekten Kopien kleine, aber wesentliche Details verändert hat. Diese "Abweichungen" geben dem Stück von von Clemens J. Setz den Namen. Die Galeristin (abstoßend-elektrisiert und mediengeil: Josephine Köhler) bringen sie aus dem Häuschen – das wird noch viel besser als das mit den Flüchtlingen auf der Wasserrutsche! Das Zuhause der Betroffenen bricht dagegen nach und nach zusammen.
Die Tote hatte ihre Miniaturen feinsäuberlich gestapelt, die Schicksale ihrer Porträtierten fließen dagegen im Laufe des Stücks ineinander. Regisseur Elmar Goerden präsentiert sie in einem offenen Würfel dessen Bereiche verschränkt sind. Die optischen Barrieren (Podeste, Stufen) ignorieren die handelnden Figuren bei den teilweise parallel verlaufenden Erzählsträngen zunehmend. Das Setting ist weiß, leer, clean – die Putzkolonne des Stuttgarter Staatstheaters hat ganze Arbeit geleistet.
In gewisser Weise trifft das auch auf die Inszenierung zu. Autor Setz erzählt im Programmheft von einer Freundin, die ihre Kunst mit Putzen finanziert und von den "endlosen Demütigungserfahrungen", die sie dabei macht. Von den sozialen Aspekten des Szenarios – hier die Mittelschichtsfamilien, dort die in der Erinnerung so ruhige Putzfrau mit dem Prollnamen "Jennifer", deren Unsichtbarkeit offenbar genauso gewünscht war – spürt man kaum etwas. Die Uraufführung verhält sich ein wenig wie die Galeristin. Was zählt ist der Effekt, der zwischenmenschliche Grusel. Gesellschaftskritik macht Kunst nur sperrig.
Die Putze Jenni
Am ehesten zu spüren ist sie noch bei einem alten Paar. Er ist dement, störrisch-aggressiv, sie versucht ihr "Eselchen" unter Kontrolle zu halten. In ihre Mini-Wohnung hat die Tote ein Krokodil montiert, das sich durch alle Räume windet. Der alte Mann schimpft über "die Jenni" als Vieh, das nicht so faul sein soll. Die Frau lobt sie für die Art, wie sie sich auf die Paranoia ihres Gatten eingestellt hatte. Da blitzt sie kurz auf, die strukturelle Gewalt im Verhältnis Gesellschaft-Putze. Aber eben nur kurz. Trotzdem sind die sensibel-traurig gespielten Momente der beiden Alten (Anke Schubert und Peter Rühring) das Highlight der Aufführung.
Boris Burgstaller und Reinhard Mahlberg überzeugen als schwules Paar. Ihre Abweichung – ein in ein anderes Zimmer verrückter Schrank – stellt die Hierarchie ihrer Beziehung in Frage. Ihr passiv-aggressives Spiel hat Schmackes und lässt auch Raum für Tragikomik. Aber zwischen den Zickereien geht verloren, dass einer der Partner spekuliert, Sozialneid könnte das Motiv der Toten für ihr Werk sein. Es wäre interessant gewesen, das weiterzuspinnen.
Der Abend überdreht, als Sven Prietz als Karikatur eines pedantischen Deutsch/Geschichte-Lehrers zunehmend hysterisch die Galeristin stalkt, während seine Gattin (Katharina Hauter) am Telefon um einen Termin bei der Psychotherapeutin bettelt. Hier driften die Abweichungen ins Klamaukige ab.
Fast am Ende gibt es dann noch eine Art Raketenstart der Kinder zweier betroffener Familien (Julius Forster und nochmal Josephine Köhler in einer total anders gelagerten Rolle als ihre Galeristin – ein Spagat, den sie souverän meistert). Eigentlich ein schönes Bild. Die Erwachsenen haben ihre Rolle im Leben eingenommen. Auch wenn sie unzufrieden sind, kämpfen sie gegen die Irritation des Status Quo durch die Miniaturen – aus Angst vor den Folgen jedweder Erschütterung. Für die Kinder ist das Vorkommnis hingegen Impuls, ihren Familien zu entwachsen, etwas Neues zu wagen (hier: ein Kuss und eine Geschäftsidee). Aber auch dieses Bild geht etwas unter im actionreichen Umherwerfen von Putzutensilien. Trotzdem: amüsant war’s. Und mit Sicherheit besser als Flüchtlinge auf einer Wasserrutsche.
Die Abweichungen
von Clemens J. Setz
Inszenierung: Elmar Goerden; Bühne: Silvia Merlo & Ulf Stengl; Kostüme: Lydia Kirchleitner; Licht: Sebastian Isbert; Dramaturgie: Sina Katharina Flubacher.
Mit: Katharina Hauter, Sven Prietz, Julius Forster, Josephine Köhler, Boris Burgstaller, Reinhard Mahlberg, Anke Schubert, Peter Rühring, Verena Buss.
Premiere am 18. November 2018
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
"Die Abweichungen" sei "noch mysteriöser und genialer" als "Vereinte Nationen", findet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.11.2018). "Ist es ein metaphysischer Krimi? Eine Kunstbetriebssatire? Eine nerdige Parabel über die große Sprengkraft feiner, kleiner Unterschiede? Man weiß es nicht." Elmar Goerden mache daraus einen hübschen kleinen Kammertheater-Abend. "In seinem blitzblank geputzten Puppenstuben-Bauhaus fügen sich kleine Dramolette an der Grenze zwischen Komik und Tragik, absurdem Theater und Underdog-Drama zu einem Panorama bürgerlicher Ängste und Aggressionen. Kleine Irritationen, sprechende Staubsauger und fotografische Sommersprossen erzeugen eine Atmosphäre von Paranoia und latenter Bedrohung."
Weniger angetan ist Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (20.11.2018): "Setz scheint selbst nicht gewusst zu haben, wohin er mit dem Stoff will." Allzu gewollt lasse er Sätze ins Leere laufen, mache nur vage Anspielungen, formuliere Motive und Figuren nicht aus. "Goerden und die Schauspieler machen das Beste daraus, am meisten überzeugen Anke Schubert als verzweifelte Seniorin und Peter Rührung als ihr dementer Gatte, der die Putzfrau vermutlich quälte."
Äußerlich erfasse Goerden die geheimen Triebkräfte der "Abweichungen" sehr genau, so Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (20.11.2018). Allerdings verschenke seine Inszenierung "viele der bösen Pointen, die einem aus den 'Abweichungen' entgegen purzeln". Das liege daran, dass er aus den Spielern nicht das raushole, was rauszuholen wäre: "das beklemmende Gefühl, vom richtenden Auge Jassems noch immer im Innersten erkannt und erschüttert zu werden. Die Stückfiguren bleiben Schablonen."
In der Südwestpresse (20.11.2018) ist Otto Paul Burkhardt angetan: "Goerden fächert den Text auf wie ein Kaleidoskop kleiner Sozialporträts." Die fehlerhaften Puppenstuben motivierten "eine kleine Geschichte über Kunst und soziale Realitäten, feinsinnig gespielt, mit lakonischem Zauber inszeniert".
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Es konnte sich dabei um eine weitere Subtilität der Inszenierung handeln, um weitere Spuren der abwesenden/toten Hauptfigur, aber ebensowenig wie das etwas undurchschaubare Eigenleben des (auch im PH niemandem zugeschriebenen) Soundtracks bewirkte diese Komponente lediglich leichte Irritation beim Zuschauen.
Kippen musste die unterstellte Subtilität für mich allerdings letztlich angesichts (sic) der Hauptobjekte der Inszenierung selbst, der Wohnungsmodell-Reliquien. In ihr Gegenteil, in eine gewisse Beliebigkeit: Die Objekte entfalteten weder Magie noch Aura, wirkten weder als Kunst noch als Kunsthandwerk plausibel gewürdigt - dies trotz der großen textlichen Bemühungen gerade um sie und ihre Aufladung mit all den Setz'schen Assoziationsvorbildern in Stücktext und Programmheft.
Ich erlaube mir nun, die Pappmodelle wegzudenken und hätte dann immer noch einen schauspielerisch überzeugenden und vielseitigen Abend gesehen, ein funktional eleganten Bühnenbild, großartig schlichte Kostüme und eine raffiniert dichtgetaktete Personenregie.
Und jenen jugendlichen Raumfahrtutopiemoment, angemessen rührend, irgendwo zwischen Kubrick-Parodie, nur weniger weiß, zwischen Werner Herzogs ekstatischer Wahrheit - von Setz ausgiebig herbeizitiert - und, so ehrlich wollen wir hier sein, dem fernen Nachklang großer Kammerspielmomente der Ära Petras.
(Lieber Stuttgarter,
wenn Sie Beschwerden haben, die Kundigkeit der nachtkritiker*innen betreffend, vielleicht schreiben Sie einmal hin was genau, wenn genau, wann genau Sie im Blick haben, anstatt en passant die Qualifikation anderer zu bezweifeln, ohne selbst einen nennenswerten inhaltlichen Beitrag zur auseinandersetzung über den Gegenstand zu leisten.
Mit schönem Gruß
jnm)
Eine Putzfrau hat sich in ihrer winzigen Wohnung umgebracht und hinterlässt akribische Modelle der Wohnungen ihrer Arbeitgeber, die angeblich kleine Fehler enthalten. Das zumindest behaupten die Wohnungsbesitzer. Und schon sind wir beim Kernthema des Stückes: Was ist Wahrheit? Zur allgemeinen Überraschung wird diese Frage nach etwa zwei Drittel des Stücks sogar beantwortet. Werner Herzog meldet sich in seiner kryptischen Art, als Tonkonserve aus dem Off und verkündet, quasi ex cathedra, dass die Wahrheit jenseits des Faktischen liege.
Aber bleiben wir dennoch erst mal beim Faktischen. 1. Eine Putzfrau hat sich umgebracht. 2. In ihrer Wohnung werden Modelle von Wohnungen gefunden. 3. In einer Ausstellung werden diese Modelle öffentlich gezeigt. Die Welt, die sich in den Zwischenräumen dieser Fakten auftut - Herzogs 'ekstatische Wahrheit' - ist wohl auch für Clemens J. Setz das Zentrale.
Drei bürgerliche Wohnungsgemeinschaften, eine ältere fürsorglich genervte Ehefrau die ihren zu Gewalt neigenden übergriffigen senilen Ehemann unterwürfig pflegt, ein schwules Paar mit Tochter, die mit dem Sohn eines rechthaberischen Gymnasiallehrers befreundet ist, der seine Frau mit Tabletten ruhig stellt. Ihre Geschichten, Gespräche, Telefonate laufen auf der Bühne parallel und oft gleichzeitig ab. Diese Verschränkungen korrespondieren mit dem Bühnenbild, aus mehrfach verzahnten geometrischen Körpern. Vordergründig geht es den Protagonisten darum, die angeblichen Abweichungen richtig zu stellen, aber vermutlich geht es eher darum, ob die Abweichungen nicht näher an der Wahrheit liegen als die angebliche Wirklichkeit des Faktischen.
Das hat mich spontan an Egon Fridell erinnert, der an einer Stelle seiner 'Kulturgeschichte Neuzeit' schreibt, Martin Luther habe seine Thesen nicht an die Kirchentüre genagelt, sondern sie einfach nur veröffentlicht. Die Vorstellung der wuchtigen, dröhnenden Hammerschläge, die das universale Menschenbild des Mittelalters zertrümmern, sei dagegen viel wahrer als die Wirklichkeit. Aber es funktioniert leider auch andersrum in Form von Verschwörungstheorien. Dazu passt, dass gegen Ende immer öfter kurze unverständlich Funksprüche aus den Bühnenlautsprechern zu hören sind. Möglicherweise handelt es sich dabei um Tonaufzeichnungen von der Mondlandung aus dem Jahr 1969, die außerdem vom jugendlichen Liebespaar im umgestürzten Kleiderschrank nachgespielt wird.
Vom gesprochenen Text ist in der letzten Reihe leider nicht alles angekommen. Ob das nur an den akustischen Rahmenbedingungen liegt, kann ich nicht beurteilen. Herausragend fand ich Boris Burgstaller aber auch Anke Schubert und Peter Rühring haben mir gut gefallen. Insgesamt fand ich die Grundidee interessant, bin aber am Ende nicht wirklich schlauer als zuvor. Verhaltener Applaus und ein paar wenige Pfiffe.