Wie lang ist ein Moment?

von Michael Bartsch

Dresden, 19. November 2018. Eine Woche vor dem "Fast Forward"-Festival für junge Regie war an gleicher Stätte, im Kleinen Haus des Staatsschauspiels, die Dresdner Variante der Erklärung der Vielen vorgestellt worden. Hier liefen schon vor vielen Jahren das Festival "Politik im Freien Theater" oder das erste Bürgerbühnenfestival. Es zeigt sich hier also das aufgeklärte und helle Gesicht des janusköpfigen Dresdens, und es hat eine Bereicherung durch das Treffen des europäischen Theaternachwuchses erfahren. Für seine erste Spielzeit als Intendant brachte es Joachim Klement 2017 aus Braunschweig mit. Als Preis winkt ein Inszenierungsauftrag am Dresdner Staatsschauspiel, was durchaus für das Selbstbewusstsein der Gastgeber spricht.

Acht Inszenierungen flirren in dreieinhalb Tagen vorüber und man sitzt wie an einem Laufsteg. Was ist trendy, wann kommt DAS neue Theater, wer sind die Macher? Lauern auf Unerhörtes, vielleicht Aufsässiges in quirligen Zeiten. Denn ein Europäisches Festival für junge Regie, das auch noch "Fast Forward" heißt, klingt mindestens nach Sturm und Drang. Aber Trend und Mode gehen immer einher mit Uniformität auch des scheinbar Unangepassten. Gerade dieses am Sonntag in Dresden zu Ende gegangene Festival demonstrierte, dass Erwartungen an ein Trendsetting altem Denken in homogenen Strukturen entspringen. Denn vielfältiger können Themen und Formen kaum erscheinen. Zur abschließenden Preisverleihung zog Gastgeber und Jurymitglied Joachim Klement aus der "Diversität der Perspektiven" sogar den hoffnungsvollen Schluss, "dass Nationalismen in Europa dauerhaft keine Chance haben".

prinses 560 Kurt van der Elst u"Yvonne, Prinzessin von Burgund" von Witold Gombrowicz © Kurt van der Elst

Nur zwei der acht Festivalbeiträge boten Dramatik im klassischen Sinn. Davon fußte wiederum nur eine auf einer bekannten Textvorlage. Aus Belgien kam eine reduzierte, abstrahierende Version des absurden Klassikers "Yvonne, Prinzessin von Burgund" von Witold Gombrowicz. Aus einer Laune heraus will Prinz Philipp die störrische, hässliche, mysteriös schweigende Yvonne heiraten und damit den Hof provozieren. Doch das skurrile, passive Wesen sprengt durch seine bloße Anwesenheit alle Konventionen, entlarvt die Erbärmlichkeit der Adligen, die sie schließlich umbringen. In der Arena-Atmosphäre des Festspielhauses Hellerau genügten zwei Klappstühle als Requisiten und sieben Spieler in Alltagsklamotten, durch intensives Spiel dennoch Hochspannung zu erzeugen.

Das zweite Drama "Keturi" aus Litauen folgt der literarischen Vorlage "Buddhas Kleiner Finger" des russischen Kultautors Viktor Pelewin. Drei rohe, ungeschlachte, gewaltbereite Männer im postkommunistischen Submilieu der Drogenszene. Völlig überraschend schleichen sich philosophische Überlegungen in ihre derben Dispute, ihre Suche nach dem "ewigen High" erinnert an Becketts "Warten auf Godot". Das zwischen heftigstem Körpereinsatz und surrealen Momenten bis hin zu einem religiösen Erlösungsrausch pendelnde Stück beeindruckte die junge Zuhörerschaft, die es auf Platz zwei der Publikumswertung setzte. Angesichts dieser reifen Leistung verblüffte die Jugend der erst 26-jährigen Regisseurin Kamile Gudmonaite.

Charme, Witz und Hintersinn

Im gleichen Alter befindet sich auch die französische Preisträgerin Camille Dagen. Publikum und Jury stimmten gemeinsam für ihre hochartifizielle Collage "Durée d´exposition", die sich jeder Kategorisierung entzieht. Die Produktion eines analogen Fotos inspirierte sie und zwei hinreißende Darsteller zu einer Parabel über den "flüchtigen Moment", wie die Jury meinte. Motivsuche und Motivrahmen, Entstehung und Entwicklung des Bildes stehen zugleich in einer subtilen Verbindung zu einer Paarbeziehung, wobei das Ergebnis unsichtbar bleibt. Charme, Witz und Hintersinn schufen für eine "Durée" von genau einer Stunde und elf Minuten eine liebenswürdige Atmosphäre.

Für andere Festivalbeiträge galt die Binsenweisheit, dass nicht alles, was jung und neu ist, auch automatisch besser sein muss. Der Erfolg des Festivals könnte an zwei Merkmalen gemessen werden, die Festivalleiterin Charlotte Orti von Havranek zur Eröffnung benannte. Für den Aspekt der Künstlerbegegnung, des "Blind Date" der sich und ihren Stil Findenden, war dieser Erfolg garantiert. Einer kleinen Theatergemeinde von Studierenden internationaler Theaterhochschulen oder aus Dresden begegnete man bei jeder der meist ausverkauften Inszenierungen. In den Foyers oder Cafés und bei den nächtlichen Partys war Englisch die Lingua Franca, deren Beherrschung manche Inszenierung auch voraussetzte. Und eine Begegnung freier Gruppen an einem komfortabel subventionierten Staatstheater ist ja schon ein Wert an sich.

superquadra 560 nico schmied uIn "Superquadra" von F. Wiesel aus Gießen entwerfen zwei Performer*innen einen Wohnquader der Zukunft © Nico Schmied

Nicht alle Beiträge aber erfüllten den Anspruch der gesellschaftlichen, gar politischen Relevanz. Wenn, dann war dies ähnlich wie in der Bildenden Kunst mit der Flucht ins Dokumentarische verbunden. "Passa Porte" der portugiesischen Gruppe "Hotel Europa" schildert die Zustände in Portugals afrikanischen Kolonien und ihre Nachwirkungen bis hin zum heutigen Rassismus. Engagement und Leidenschaft der Spieler erzielen die größte Wirkung. Aber an die Mittel, die beispielsweise Rimini Protokoll benutzt, reicht dieses Dokumentartheater nicht heran. Der Stil einer Lecture Performance schafft eher wieder Distanz.

Die aus Tonfragmenten zusammengesetzten "Mining Stories" aus Belgien über einen Staudammbruch in Brasilien verzichteten außerdem ganz auf emotionale, betroffenheitsheischende Dimensionen. Hier war aber zumindest ein Festivaltrend abzulesen, der nicht nur mit der deutschen oder englischen Übertitelung vieler Stücke zusammenhängt. Text wurde oft projiziert oder von der Tontechnik eingespielt, löst sich damit vom agierenden Subjekt auf der Bühne. Das können Belanglosigkeiten oder so ein treffender, skurriler Theateressay wie bei "Superquadra" sein, den man gern noch einmal nachlesen möchte. Das deutsche Duo F.Wiesel aus Gießen benutzt den Bauhaus-Begriff von der "Wohnmaschine" als Aufhänger und entwirft ironisch einen gewaltigen Wohnquader der Zukunft, in dem wir wieder Gefangene des vermeintlich befreiten Wohnens werden. Simpel bleibt die szenische Illustration. Futuristische Puppenstuben sind aufgebaut, in die die Kamera hineinhält und die Puppe Oskar in ihrem Irren zwischen dritter und vierter Dimension beobachtet.

Ambitionierte Unterhaltsamkeit

Dabei wird kein materieller und technischer Aufwand gescheut. Eine neue Abstraktions- oder Reduktionswelle scheint jedenfalls nicht auf das Theater zuzukommen, denn den Hang zu opulenter Ausstattung konnte man mehrfach beobachten. Der spanische Beitrag "All in" setzte hingegen auf Körpersprache und die Imaginationskraft der Zuschauer. Ein anspruchsvoller und zugleich komödiantischer Exkurs über gemeinschaftsbildende Prozesse bis hin zum koreanischen Arirang-Massenfestival. Dürftig in jeder Hinsicht blieb "Orchiektomie rechts". Der in Israel aufgewachsene Noam Brusilowsky schildert ausführlich die Folgen seines Hodenkrebses und die Turbulenzen seines Liebeslebens als Schwuler. Die performativen Elemente in dieser Anatomievorlesung wirkten bemüht. Eine narzisstische Selbstinszenierung, wenn auch von der sympathischen Art. Übelnehmen war dennoch in keiner Vorstellung angesagt. Denn auch vom überwiegend ambitionierten jungen Fachpublikum entstand zuweilen der Eindruck, dass es weniger große Botschaften hören als gut unterhalten werden wollte.

 

All in (Spanien)
Konzept, Regie, Text & Performance: Atresbandes in Zusammenarbeit mit Melcior Casals Castellar, Licht, Design & Video: Cube.bz, Technische Leitung: Oscar Palenque.
Mit: Mónica Almirall Batet, Melcior Casals Castellar, Albert Pérez Hidalgo, Miquel Segovia Garrell.
Dauer: 1 Stunde 

Durée d’exposition (Frankreich)
ein hybrides Spektakel von Animal Architecte
Konzept & Regie Camille Dagen, Szenografie & Kostüme: Emma Depoid.
Mit: Thomas Mardell, Hélène Morelli
Daue: 1 Stunde 11 Minuten 

Keturi (Litauen)
nach einem Motiv aus Viktor Pelewins Roman "Buddhas kleiner Finger"
Regie: Kamilė Gudmonaitė; Bühnen- & Kostümbild: Barbora Šulniūtė.
Mit: Mantas Zemleckas, Danas Kamarauskas, Gytis Laskova.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten 

Mining Stories (Belgien)
Konzept & Regie: Silke Huysmans, Hannes Dereere; Bühne: Frédéric Aelterman, Luc Cools; Dramaturgische Beratung: Dries Douibi.
Mit: Silke Huysmans.
Dauer: 1 Stunde 

Orchiektomie rechts (Deutschland)
Konzept: Noam Brusilovsky; Bühne & Video: Magdalena Emmerig, Dramaturgie: Lotta Beckers.
Mit: Noam Brusilovsky.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten

Passa Porte (Portugal)
Regie: André Amálio; Musik: Selma Uamusse; Bühne & Kostüme: André Amálio, Tereza Havlíčková.
Mit: André Amálio, Tereza Havlíčková, Selma Uamusse.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

Superquadra (Deutschland)
Konzept & Umsetzung: F. Wiesel (Jost von Harleßem, Hanke Wilsmann), Figurenspiel Caroline Kühner, Ausstattung / Figurenspiel: Friederike Schmidt-Colinet; weitere Texte: Dietmar Dath; Sprecher: Fredrik Jan Hofmann, Dietmar Dath.
Mit: Philip Albus, Jost von Harleßem, Rupert Jaud, Caroline Kühner, Friederike Schmidt-Colinet, Hanke Wilsmann
Dauer: 1 Stunde

Yvonne, Prinzessin von Burgund (Belgien)
von Witold Gombrowicz
Regie: Timeau De Keyser; Konzept & Dramaturgie Kollektiv; Bühne & Technische Leitung: Marie Vandecasteele.
Mit: Simon De Winne, Hans Mortelmans, Eva Binon, Lieselotte De Keyzer, Benjamin Cools, Ferre Marnef, David Van Dijcke.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

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