Raus aus Berlin!

von Christian Tschirner

Hamburg, 22. November 2018. Bevor es an dieser Stelle bald wieder darum gehen wird, wer fährt und wer nicht, wer zu Recht und wer zu Unrecht und wer schon längst mal hätte fahren müssen, hier ein Vorschlag am Rande: Theatertreffen raus aus Berlin!

Im letzten Jahr war ich zu Karin Henkels Premiere von "Beute, Frauen, Krieg" dort. Sie fand in einer Fabrikhalle statt; das Publikum saß zu beiden Seiten der Bühne und so konnte ich, bevor die Vorstellung begann, erstaunt feststellen, dass ich viele der anwesenden Menschen persönlich, die meisten anderen zumindest dem Namen nach kannte. Die Folge langjähriger Tätigkeit in einer zahlenmäßig überschaubaren Branche, sagte ich mir, und trotzdem blieb das Erlebnis als sinnliche Bestätigung eines länger gehegten Verdachts im Gedächtnis.

Als dieser Tage von vielen Theatern, auch dem meinen, eine "Erklärung der Vielen" veröffentlicht wurde, fiel es mir wieder ein. "Wir begreifen", heißt es in der Erklärung, "die Kunst und ihre Einrichtungen, die Museen, Theater, Ateliers, Clubs und urbanen Orte als offene Räume, die Vielen gehören. Unsere Gesellschaft ist eine plurale Versammlung".

Theatertreffen2018 560 Pierro Chiussi uVolksfest für Hauptstädter: vor dem Haus der Berliner Festspiele beim Theatertreffen im Mai 2018 © Pierro Chiussi

Ich bezweifle nicht, dass unsere Gesellschaft plural ist, noch meine ich, dass Theaterpublikum sei vollkommen homogen. Worauf ich hinweisen möchte, ist die Tatsache, dass die Kunst und ihre Einrichtungen zwar Vielen gehören mag, aber gleichzeitig von sehr vielen nicht in Anspruch genommen wird. Das betrifft ganz verschiedene Menschengruppen und hat auch verschiedene Ursachen, eine davon ist unbestritten rein geografisch: Museen, Theater, Ateliers, Clubs und urbanen Orte sind in der Landschaft äußerst ungleich verteilt. In Städten und Metropolen häufen sie sich, während man in so genannten strukturschwachen Regionen oft vergeblich danach sucht.

In einigen dieser Regionen sind in den letzten Jahren Kultureinrichtungen geschlossen worden, in anderen wurde einfach die Hoffnung begraben, dass es dort je welche geben würde. Dass die Geografie kultureller Teilhabe ziemlich genau die Geografie politischen Wahlverhaltens abspiegelt, sollte eigentlich niemanden überraschen. Da draußen, in den dünnbesiedelten, kulturarmen und oft auch wirtschaftlich abstiegsbedrohten Regionen gibt es eine Parallelwelt, in der „wir Vielen“ inzwischen eindeutig eine Minderheit sind. Erklärungen helfen da wenig. Um was zu tun und auch den eigenen Ansprüchen wie „Solidarität statt Privilegien. Es geht um alle.“ gerecht zu werden, mein Vorschlag: Theatertreffen raus aus Berlin!

Regionen ohne Anschluss

Theater, Clubs und andere urbane Orte lassen sich nicht ohne weiteres verpflanzen. Kulturelle Ereignisse dagegen schon. Die Ruhrtriennale wurde gegründet, um auf den Strukturwandel im Ruhrgebiet zu reagieren. Das erste Berliner Theatertreffen fand 1964 statt, drei Jahre nach dem Bau der Mauer. Die Frontstadt Westberlin, sollte, so das kulturpolitische Ziel, den Anschluss an die Bundesrepublik nicht verlieren.

Heute liegen die Regionen, die den Anschluss zu verlieren drohen oder längst verloren haben, in jede Himmelsrichtung keine 2 Stunden Autofahrt außerhalb Berlins. Ein Theatertreffen in der Hauptstadt bedeutet Eulen nach Athen tragen. (Oder in Athen umhertragen, wie im letzten Jahr.) Kulturpolitisch sinnvoll wäre es doch, das Theatertreffen in eine oder – jährlich wechselnd – verschiedene jener abstiegsbedrohten Regionen zu verlegen. Die Auswahl ist groß.

Pulsierendes Kraftzentrum

Das ist sicher kein Allheilmittel, aber mehr als bloße Meinungsbekundung und vielleicht eine Möglichkeit, relativ unkompliziert zu reagieren. Das Theatertreffen gibt es, die Gelder sind da, also: Raus aus Berlin!

Abgesehen von der kulturpolitischen Sinnhaftigkeit, bin ich überzeugt, dass für ein Festival mit den bemerkenswertesten Inszenierungen, mit diskursiven Veranstaltungen aus Kultur, Politik, Wirtschaft, Lesungen des Stückemarktes, mit Publikumsgesprächen, Premierenpartys Konzerten etc. Gera, Bautzen, Bremerhaven oder Neumünster (nur zum Beispiel) die spannenderen Orte wären. Vielleicht würde das Theatertreffen dort wieder zu dem lustvoll pulsierenden Kraftzentrum des deutschsprachigen Theaters, das es früher einmal gewesen sein soll.

 

 

Tschirner Christian c bastian lomsche uChristian Tschirner wurde 1968 in Lutherstadt-Wittenberg geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Tierpfleger, später ein Schauspielstudium an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Er erhielt ein Engagement als Schauspieler in Frankfurt/Main, wurde dann freier Regisseur und Autor. Seit 2009 ist er Dramaturg, zunächst am Schauspiel Hannover, seit 2013 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.

 

 

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Kommentare  
Vorschlag Theatertreffen: Hoffnung
Ein sehr sinnvoller, spannender und nachvollziehbarer Vorschlag. Kunst und Theater nicht mehr für die Theatereliten in den Ballungsräumen, sondern für diese vielseitige und heterogene plurale Gesellschaft.
Aber es gibt in den strukturschwachen Regionen auch die ersten Anzeichen für Verbesserung der Situation - wie das Festival THEATERNATUR im Harz seit 4 Jahren beweist. (www.theaternatur.de)
Vorschlag Theatertreffen: Herausforderung
Ein gute Idee und es lohnt sich darüber nachzudenken aber ich denke, dass die meisten Produktionen technisch sehr aufwendig sind und deshalb nur in bestimmten Theatern funktionnieren. Die Räuber konnte man noch nicht mal in Berlin zeigen!!!
Finanziell lohnt es sich auch nur wenn entsprechend viele Zuschauerplätze zur Verfügung stehen und diese ausverkauft sind. Wenn man wie Karin Henkel oder Kay Voges in einer Halle spielt sind Mehrkosten damit verbunden. Meistens sind diese Hallen (in Berlin) für einen Theaterbetrieb schon geeignet oder werden für andere Eventveranstaltugnen genutzt.
Berlin war zu Mauerzeiten ein kulturelles (subventioniertes) Zentrum Deutschlands und ist es auch heute immer noch. Ein jährlich wechselnder Ort ist aber meiner Meinung nach für ein solches Festival sehr schwierig umzusetzen. Aber die Idee ist als eine Herausforderung zu verstehen, auch in Kosten und Umsetzung. Theaterfestivals in der Provinz funktionnieren auch, wie man an Avignon sieht.
Vorschlag Theatertreffen: Saarland
Ich finde die Idee klasse und hätte da auch schon einen Vorschlag, der noch nicht genannt wurde, weil die meisten noch nie hier waren....
Theatertreffen im Saarland: Strukturschwach,abgelegen,aber ein kultur-und theaterbegeisterungsfähiges Ländchen. Wer schon mal beim (Nachwuchs)Filmfestival Max-Ophüls-Preis war, weiß, wovon ich rede. Industriekulturorte gibt es genug und auf frz. Seite direkt hinter der Grenze große Theatersääle und ein interessiertes Publikum.
Vorschlag Theatertreffen: entmotten
Das ist eine großartige Idee! Und dem muffeligen Theatertreffen selbst würde dieser Neustart sehr gut tun!
Vorschlag Theatertreffen: Infrastruktur
Das ist ja ein grundsätzlich interessanter Vorschlag. Aber wenn man sich vor Augen führt, dass es selbst in Berlin mit den sehr vielen Institutionen, Theatern und räumlichen Möglichkeiten in jüngerer Vergangenheit schon zu einigen Absagen von eingeladenen Produktionen gekommen ist, weil sie einfach nicht gezeigt werden konnten, dann frage ich mich schon, was kann in Gera, Neumünster oder Bautzen überhaupt gezeigt werden. Mit welchem Personal? Mit welcher Infrastruktur? Mit welchem Geld für Zusatzaufwendungen? Jede Absage eines Rasche-Abends freut mich persönlich aufgrund ästhetischer Unverträglichkeitsreaktionen, aber das kann ja (den) vielen anderen anders gehen. Ist dieser Vorschlag also vielleicht einfach nur rhetorisch nice und blendet dabei völlig die (finanzielle) Realisierbarkeit dieses Wanderfestivals aus?
Es muß ja nun wirklich nicht um einen weiteren zentralistischen Berlin-Bohei gehen, der wie richtig gesagt, historisch ganz anders begründet wurde in the first place, aber der Thespiskarren in der Pampa mit den tollen Spieler*innen und sonst nüschte ist ja nun auch nicht die up to date mit der ästhetischen Entwicklung.
Vorschlag Theatertreffen: suchen!
Ich denke, es ist gar nicht so wichtig, wo das Treffen stattfindet sondern wer eingeladen wird. Es ist langsam ja nur noch Besichtigung von gr.Produktionen grosser Häuser. Interessant ist es doch durch unsere gr.Theaterlandschaft zu fahren und nach interessanten Aufführungen zu gucken, so wie es frührer mal war und die dann zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen! Das würde unsere ganze Berliner Theaterscenerie beleben, denn es gibt spannende Abende überall: fahren und suchen!!!
Vorschlag Theatertreffen: Richtlinienkompetenz entziehen
Sehr geehrter Christian Tschirner. Es kommt doch recht pauschal daher, zu meinen, dass abseits der kulturellen Zentren, die mit ihren Häusern/Produktionen stets potentielle Theatertreffenkandidaten sind, alles kulturell/künstlerisch strukturschwach sei. Die Orte, die sie benennen, haben ja größtenteils noch Theaterhäuser mit durchgehendem Programm. Ob sie den eh unklaren Richtlinien der Theatertreffen-Bundesliga entsprächen, muss an dieser Stelle nicht erörtert werden.
Ihr "Vorschlag am Rande" klingt wie Entwicklungspolitik der letzten Jahrzehnte. Schickt den armen Regionen unsere Hochkultur, dann geht es den Menschen dort ein wenig besser, weil sie auch mal am kulturellen Diskurs partizipieren dürfen und dann weniger rechts wählen. In Ihrem Text klingt mit, dass es abseits der Theatertreffen-Player eh keine künstlerische Qualität gäbe. Eine Auseinandersetzung mit den spezifischen Gegebenheiten solcher Regionen/Orte thematisieren Sie mit ihrem Vorschlag leider auch nicht. Einen programmatischen/inhaltlichen Ansatz für ein solches Vorhaben ist Ihrem Text ebenfalls nicht zu entnehmen. Letzteres ist natürlich nicht allein Ihnen vorzuwerfen, sondern ist m.E. das grundsätzliche Problem des Theatertreffens. Ihr Vorschlag wäre konsequent, wenn sie das Theatertreffen nicht nur aus Berlin verbannen würden, sondern gleich aus der gesamten Theaterlandschaft. Die Abschaffung dieser Leistungsshow der "Großen" würde zur Sichtbarkeit der vielen "Kleinen", die in der Peripherie bereits Großes leisten, mehr beisteuern. Wesentlicher ist jetzt, die Vielfalt der Theaterlandschaft zu präsentieren (auch im Sinne der "Erklärung der Vielen"). Dafür braucht es neue passende Formate, Strukturen und den kulturpolitischen Willen. Es wird Zeit, dem Theatertreffen endlich diese antiquierte Richtlinienkompetenz zu entziehen, die ihm seit Jahrzehnten immer noch zugesprochen wird. Das Theatertreffen sollte nicht mehr weiter zum Barometer für Theatertrends stilisiert werden. Das interessiert dann in den von Ihnen genannten Orten im Zweifelsfall nur noch herzlich wenig.
Vorschlag Theatertreffen: richtig
Absolut richtig. Dieser Schritt ist nötig und würde ein ganz anderes Theatertreffen ermöglichen.
Es gibt genug Fokus auf Berlin.
Danke für das Einbringen des Vorschlags.
Vorschlag Theatertreffen: nach Gera
Tolle Anregung: Bringt das Theatertreffen nach Gera! Nach Theaterpreis des Bundes 2017 und Preis der Theaterverlage 2018 genau der richtige Ort dafür!
Vorschlag Theatertreffen: Kulturhauptstadt
@9 das finde ich auch, zumal sich Gera anschickt "Kulturhauptstadt 2025" zu werden.
Vorschlag Theatertreffen: Kulturhauptstadt
@10 Ich habe nichts gegen einn TT in Gera. Die Aussicht auf Kulturhauptstadt ist allerdings kein Argument, dafür bewirbt sich gerade gefühlt jede zweite mittelgroße Stadt und von denen hat Europa viele.
Vorschlag Theatertreffen: eine Art Messe
dass man beim theatertreffen jede und jeden kennt hat ja viel damit zu tun dass es eine art messe ist
ich habe nicht das gefühl, dass die ausgewählten inszenierungen die sind, die man in abgeschiedenen regionen zeigen würde (das würde glaube ich die trennung noch verstärken. dass lieschen müller dann denkt "das verstehe ich eh alles nicht und dann sitzen neben mir diese ganzen leute in den feinen Anzügen". Außerdem überflutet man dann regionen ähnlich wie beim wacken. nur halt mit anzugleuten.
Vorschlag Theatertreffen: Selbstvernichtung
Das Theatertreffen in der Provinz zu veranstalten kann keine Lösung sein und käme einer Selbstvernichtung des TT gleich. Wie das dann womöglich aussehen würde, kann man in der Schweiz besichtigen. Der dortige Versuch, eine Leistungsschau nach dem Vorbild des TT zu installieren, hat sich bis jetzt nicht etablieren können und ist beklagenswert randständig geblieben. Ich denke, dass das auch an den wechselnden, manchmal dezentralen Veranstaltungsorten liegt. Dort gab und gibt es kaum interessiertes Publikum, die Spielerinnen und Spieler der eingeladenen Produktionen blieben bislang fast vollständig unter sich, sofern sie der Einladung überhaupt gefolgt sind. Bezeichnenderweise blieben grade die großen, teuren und glamourösen Produktionen dem Schweizer TT fern. Das kann doch in Deutschland niemand wirklich wollen, oder?
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