Unter dem Großwetter-Radar

von Sophie Diesselhorst

29. November 2018. In einer großen Plakatkampagne spricht das Bundesinnenministerium seit Mitte November Geflüchtete an: Auf Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch, Russisch und Persisch wird in deutschen Städten für eine Webseite mit der Adresse returningfromgermany.de geworben, die Beratungsangebote für eine "freiwillige Rückkehr" ins Heimatland bereithält. Die Botschaft "Refugees Welcome" ist also offiziell in die Vergangenheit verbannt. Auch die Wirklichkeit dahinter? Im Herbst 2015 hatten wir bei nachtkritik.de unter dem Hashtag #refugeeswelcome eine Liste geführt mit den willkommenskulturellen Engagements der Theater. Was ist aus ihnen geworden? Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Spontanes Engagement

Die meisten Formate, die die Theater spontanaktivistisch einrichteten, waren auf Kurzfristigkeit angelegt: Am häufigsten waren Benefizkonzerte und Spendenaktionen, beim Theatertreffen 2015 verlasen die Ensembles der zehn eingeladenen Produktionen nach jeder Vorstellung ein Statement und forderten dazu auf, am Ausgang Geld zu geben. Es gab "Lange Nächte der Begegnung", zum Beispiel in Mannheim und Potsdam. Theater-Mitarbeiter*innen wurden temporär freigestellt, um zu helfen, manche Häuser öffneten sich gar spontan als Notunterkunft, so das Deutsche Theater Berlin, das Hamburger Schauspielhaus und das Europäische Zentrum der Künste Hellerau in Dresden.

Hellerau gestern heute560 chr AnyStudio uBotschaften am Festspielhaus in Dresden-Hellerau 2015 und heute © chr / Any Studio

"Refugees Are Welcome Here" war bereits im Januar 2015 auf einer freistehenden Tür vor dem Portal des Hellerauer Festspielhauses zu lesen. Viele Theater zeigten Flagge. "Verweile doch! Akzeptanz Toleranz Hilfsbereitschaft" stand auf einem Aufsteller vor dem Staatstheater Cottbus. Insgesamt viermal wurde er im Laufe der Spielzeit 2015/16 mit rechtsradikalen Parolen beschmiert – und erneuert und wieder aufgestellt. In Meiningen lud das Südthüringische Staatstheater bereits im Herbst 2015 zu einem Bürgersalon, in Reaktion auf fremdenfeindliche Kommentare auf seiner Facebookseite, nachdem dort Bilder der Solidaritätsbanner für Geflüchtete veröffentlicht worden waren, die das Theater an seiner Fassade angebracht hatte. Der ehemalige Intendant des Theaters Stendal Alexander Netschajew erinnert sich an mehrere Offene Briefe an ihn "mit verschiedenen Gedanken und Parolen als Reaktion auf das vielseitige Engagement des Theaters", den die/der anonyme Schreiber*in "dutzendfach am und im Theater" verteilt habe.

Kalter Wind in Ostdeutschland

Dieser Rückblick konzentriert sich auf die neuen Bundesländer. Den Theatern, die "Refugees Welcome" sagten, blies hier am frühesten ein kalter Gegenwind ins Gesicht. Es gibt also auch am meisten Erfahrung im Umgang mit fremdenfeindlichem Ressentiment – das sich mittlerweile im gesamten Land in steigenden AfD-Wählerstimmen und populistischen Verzweiflungstaten der alten Volksparteien manifestiert.

Cottbus Aufsteller 560 Marlies Kross uAufsteller am Staatstheater Cottbus im Herbst 2015 © Marlies Kross

Stand 2015 noch Dresden mit "Pegida" für die besorgniserregende Popularisierung rechten Gedankenguts, so erfasst das Negativ-Image mittlerweile eine wachsende Anzahl von Städten wie Chemnitz mit der rechten Bewegung "Pro Chemnitz" oder Cottbus, wo die "Zukunft Heimat" regelmäßig aufmarschiert und sich im Frühjahr das Gegenbündnis "Cottbus ist bunt" gründete – unter Beteiligung von Theatermitarbeiter*innen.

Die Dialektik der Ausgrenzung

Der Cottbuser Schauspieldirektor Jo Fabian war zu dieser Zeit gerade ein halbes Jahr im Amt und sieht die Dialektik Demo – Gegendemo skeptisch: "Ausgrenzung mit Ausgrenzung zu beantworten, ist nicht meine Sache." Ohnehin vermische sich für ihn in symbolpolitischen Gesten wie der "Erklärung der Vielen" der Kampf gegen Rechts auf ungute Weise mit einer Existenzangst der Kultur-Institutionen. Es bringe aus seiner Sicht nichts, immer schnappatmiger einen Offenen Brief nach dem anderen zu unterschreiben und seine Ängste gebündelt auf die AfD zu projizieren, die schließlich nach demokratischen Spielregeln zum Erfolg gelangt sei.

Fabian setzt stattdessen auf das Potential des Theaters "als öffentlicher und gleichzeitig geschützter Raum", ein Raum, den es so woanders nicht gebe und in dem es möglich sei, die subjektiven Wirklichkeiten einer erodierten Öffentlichkeit auf die Idee einer gemeinsamen Realität prallen zu lassen. "Das Theater ist nur der Anlass, das Wesentliche passiert danach", sagt er. Also hat er zum Beispiel angeregt, dass die Theater-Bar, die in Cottbus nach den Vorstellungen immer schon geschlossen war, länger aufbleibt. Das eigentlich Wichtige sei doch, dass die Menschen wieder miteinander redeten. Nur das helfe gegen die "zunehmenden Verkrustungen". Fabian hat sich trotzdem nicht dagegen gesperrt, als sein Schauspiel-Ensemble im Frühjahr zur "Cottbus ist bunt"-Demo ein Plakat am Theater aufhängen wollte mit dem Satz "Brücken bauen statt Mauern".

Die Gesprächspartner*innen

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Auch am Europäischen Zentrum der Künste Hellerau gibt es ein neues Willkommens-Plakat, auch hier ist es etwas neutraler formuliert als 2015. So wie in Cottbus das provozierend einladende "Verweile doch" weggefallen ist, kommt in Hellerau das Reizwort "Refugees" nicht mehr vor; es heißt jetzt nur noch "Willkommen", in 23 Sprachen. "Die Situation jetzt ist eine andere als 2015 und wir hören von Geflüchteten und Migrant*innen, dass sie den ewigen Stempel der Geflüchteten so nicht mehr tragen möchten", schreibt Carena Schlewitt, die Hellerau seit dieser Spielzeit künstlerisch leitet. Man wolle jetzt "neue Formen der Begegnung schaffen": "Uns interessieren generell verschiedene Bevölkerungsgruppen, auch die Frage, wie 'alte' Migrationsgruppen und neue Migrant*innen in der Stadtgesellschaft zusammenkommen können."

Das Dresdner "Montagscafé" und seine Nachahmer

Ähnlich denkt man sieben Kilometer stadteinwärts im Montagscafé des Dresdner Staatsschauspiels und steckt dort längst mittendrin im Begegnungs-Experiment. "Wir wollen die Bürger*innen zusammenbringen, die sich aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen fühlen", so formuliert es Wanja Saatkamp, die das wöchentlich stattfindende Montagscafé seit einem Jahr kuratiert. Es ist an die Bürgerbühne des Staatsschauspiels angedockt, die regelmäßig Spieler*innen aus dem Montagscafé-Publikum rekrutiert.

Das Montagscafé in Dresden war das erste seiner Art und hat bundesweit Nachahmer inspiriert: Wilfried Schulz hat das Format an der Elbe erfunden und beim Intendanzwechsel nach Düsseldorf mitgenommen. Er nennt es dort "Café Eden". Die Münchner Kammerspiele laden monatlich zum "Welcome Café", die Bühnen Halle haben einen "Welcome Treff" gegründet.

MC1 560 StaatsschauspielDresden uZusammenarbeit im Dresdner "Montagscafé" © Staatsschauspiel Dresden

Entstanden ist das Dresdner Montagscafé aus einer spontanen Hilfsaktion, die der damalige Dresdner Intendant Wilfried Schulz und seine Bürgerbühnen-Chefin Miriam Tscholl zusammen initiierten. Zunächst für drei Monate sollte jeden Montagnachmittag, wenn in der Altstadt "Pegida" demonstrierte, ein Safe Space und Begegnungsort für Geflüchtete und Dresdner*innen entstehen. "Es fehlte ein Scharnier zwischen der Stadtbevölkerung und den Massen in der provisorischen Zeltstadt. Der Ansturm von Geflüchteten im Sommer 2015 war groß, und es gab sonst nichts", erinnert sich Miriam Tscholl.

Gleich beim ersten Mal kamen statt der erwarteten 40 Menschen 280. Das Projekt wurde verstetigt, das Theater schuf eine Planstelle und holte Barbara Kantel. "Die Bedürfnisse haben sich mit der Zeit verändert. Erst haben wir Sprachunterricht und Gesellschaftsspiele angeboten, niedrigschwellige Aktivitäten zum Kennenlernen", sagt Kantel. Im nächsten Schritt habe man das Montagscafé "als Gefäß für engagierte Menschen" begriffen, als Ort der Vernetzung, wo sich neue Dresdner Initiativen treffen konnten, aber auch Schauspieler*innen aus dem Ensemble Theaterkurse anboten.

Es sei nur logisch, dass man sich wieder mehr in Richtung der Kernkompetenz des Theaters bewegt habe: "Wir sind keine Sozialarbeiterinnen, wir machen Theater und können unser Expertentum für Rollen- und Perspektivwechsel einbringen."

Kosmopolitisches Karaoke

"Die praktische Hilfe ist eine Mammutaufgabe, die das Theater auf Dauer nicht bewältigen kann, zum Glück haben wir mit dem Montagscafé andere Initiativen mit angestoßen", sagt auch Wanja Saatkamp, die das Montagscafé von Kantel übernahm – und dort jetzt was macht? Kunst? "Ich würde es eher 'real fiction' nennen. Wir beschreiben eine utopische Zukunft, um sie Realität werden zu lassen." Saatkamp lädt Künstler*innen ein, in offenen Workshops mit dem Montagscafé-Publikum zu experimentieren. Es werden Lieder geschrieben, Comics gezeichnet und Flaggen gebastelt. "Wir kommunizieren nicht, dass wir Kunst machen, machen es dann aber.“ Hier entstünden auch "zukunftsträchtige neue Formate wie unser kosmopolitisches Schlager-Karaoke", zu dem auch Dresdner*innen aus den Vororten kämen.

MC3 560 StaatsschauspielDresden uPerformance im Dresdner "Montagscafé" © Staatsschauspiel Dresden

Die Dresdner aus den Vororten, das ist das schwerer zu erreichende Publikum. Wenn Wanja Saatkamp sagt, sie will "die Ausgeschlossenen zusammenbringen", dann meint sie damit ja auch die, die sich "besorgte Bürger" nennen und von denen das Buch handelt, mit dessen Lesungen die sächsische Migrationsministerin Petra Köpping in Ostdeutschland zur Zeit Hallen füllt: "Integriert doch erstmal uns" beschäftigt sich mit dem Frust, den die unverarbeitete Nachwendezeit im Osten mit sich gebracht hat. Es versucht zu erklären, warum er sich jetzt in fremdenfeindlichen Ressentiments ausdrückt. Und fordert eine Aufarbeitung der 90er Jahre in "Wahrheitskommissionen".

Der moralfreie Diskurs

"Wir wollen Themen positiv setzen, dem alten linken Reflex des rechten Feindbilds entkommen", nimmt Wanja Saatkamp die Situation etwas pragmatischer. In Dresden müsse man da gegen eine Negativspirale ankämpfen. "Wir wollen weg vom Reaktionsdruck": weg von Montagscafé gegen Pegida, Geflüchtete gegen Nazis, Gut gegen Böse. "Wichtig ist mir der moralfreie Diskurs", so Saatkamp. Sie glaube, dass es Teil des Erfolgs des Montagscafé sei, "dass wir nicht mit der Moralkeule wedeln. Wir haben deshalb auch wenig Gegenwind." Es gebe "fast keine Hassmails". Das Montagscafé sei erst einmal zur Zielscheibe einer Aktion der in der Stadt allgegenwärtigen identitären Bewegung geworden, die auf Arabisch "Geht dahin, wo ihr herkommt" ans Theater gesprüht hätten – wie aber auch an viele andere Orte in Dresden.

MC6 560 StaatsschauspielDresden uArbeit gegen Vorurteile im Dresdner "Montagscafé" © Staatsschauspiel Dresden

Spektakulären Kunstaktionen im öffentlichen Raum wie Manaf Halbounis Bussen aus Aleppo, die im Frühjahr 2017 auf dem Dresdner Neumarkt aufgestellt wurden und für erbitterte Diskussionen in der Stadt sorgten, steht Wanja Saatkamp skeptisch gegenüber. "Mir hat das Kunstwerk als solches sehr gefallen, doch die Unrechts-Parallelisierung bewirkt bei manchen Leuten Trotz und Wut. Die fühlen sich belehrt und verschließen sich noch mehr." Aber mit konkreten Einladungen könne man sie erreichen, ist Saatkamp überzeugt.

Die feste Planstelle für die Montagscafé-Leitung gibt es inzwischen nicht mehr, das Dresdner Montagscafé hat unter der neuen Intendanz von Joachim Klement zwar weiterhin am Theater seinen Ort, muss aber seine Mittel sämtlich selbst von externen Förderern einwerben.

Klement sagt, dass er die Arbeit von Montagscafé und Bürgerbühne als Teil der künstlerischen Arbeit am Haus wichtig findet, weil das Theater dadurch "näher dran" sei an der Gesellschaft. Aber grundsätzlich scheint er einer anderen Idee von Öffentlichkeit verpflichtet als die Montagscafé-Macherinnen, die mit ihrem Denken in Communities sozusagen die Filterblase produktiv machen wollen. Klement hingegen setzt in Dresden für die Selbstvergewisserung einer toleranten Stadt auf eine bürgerliche Öffentlichkeit, die derzeit – spät genug – erwache. Außerdem sieht er Initiativen wie die "Erklärung der Vielen" hoffnungsvoll als Solidargemeinschaft.

Der Schock vom Sommer 2018 und "Die Erklärung der Vielen"

Obwohl die "Erklärung der Vielen", der Zusammenschluss von Kulturinstitutionen, den es in Berlin, Hamburg, Düsseldorf und Dresden gibt, sich in Dresden auch auf die sächsische Landeshauptstadt beschränkt und den Rest Sachsens sozusagen im Regen stehen lässt, vertritt der Intendant des Staatstheaters Chemnitz Christoph Dittrich eine ähnliche Position wie sein Dresdner Kollege: "Die Ereignisse vom Spätsommer 2018, die schnelle Instrumentalisierung rechten Ressentiments haben wir als Schock erlebt." Der Schock habe sich aber schnell in Energie verwandelt, "in Zusammenarbeit und Kontakt mit anderen Institutionen wie Kirche, Gewerkschaften, sozialen Einrichtungen, Sportvereinen."

Viele 280 sleVor der Berliner Pressekonferenz zur "Erklärung der Vielen" in November 2018 © sleDass Theater sich derzeit, wie auch andere kulturelle und soziale Institutionen, immer häufiger in städtische oder überregionale Bündnisse wie die "Erklärung der Vielen" begeben, hat vielleicht auch etwas mit dem Vakuum zu tun, das der spontane #RefugeesWelcome-Aktivismus von 2015 in den Häusern hinterlassen hat – oder, positiv gewendet, mit einem neuen institutionellen Selbstbewusstsein, das diese Zeit mit sich gebracht hat.

Doch wofür können solche Bündnisse mit Schlagworten wie "Demokratie" und "Toleranz" konkret stehen, wenn genau diese Begriffe von rechts metapolitisch ausgehöhlt werden, wenn AfD-Politiker*innen sich als wahre Verfechter der Demokratie, als Verfolgte einer Political Correctness-Diktatur stilisieren?

Für Lutz Hillmann, Intendant des Bautzner Theaters, muss das Theater sich nur auf sich selbst besinnen, um sozialen Frieden zu stiften. Seine heilende Kraft liege in der Empathie, die sowohl Spieler*innen als auch Zuschauer*innen aufbringen müssten. "Die Stimmung ist nicht gekippt, die gab's schon immer", sagt Hillmann. "Aber die Fronten haben sich verhärtet. Es triumphiert die selbsterfüllende Prophezeiung, dass Integration nicht funktioniert. Das ist peinlich und dumm und hat mit der abnehmenden Empathie in der Konsumgesellschaft zu tun. Unserem Wohlstand. Deshalb denken wir, dass wir uns viel Übermut leisten könnten, auch Blödsinn."

Die Schule der Empathie

In Ostdeutschland befänden sich die Theater in einem besonderen Spannungsfeld. "Vor der Wende arbeiteten die ostdeutschen Theater aus feiner intellektueller Opposition heraus, dann sind sie erst einmal in ein Loch gefallen", so Hillmann. "Wir müssen unsere Geschichte als Theater mitbearbeiten. Die Situation ist kritisch, aber auch eine Gelegenheit für uns, unsere Wichtigkeit zu beweisen."

Theater lehre Mitgefühl, indem es Identifikation fordere. In besonderem Maße natürlich die, die selber mitmachen. Deshalb hat Hillmann aus dem transkulturellen Jugendtheater-Festival "Willkommen Anderswo" heraus 2017 das Thespis Zentrum am Theater Bautzen begründet, eine Bürgerbühne mit sechs Theaterpädagog*innen, "wo es nicht nur um die Begegnung von Geflüchteten und Einheimischen geht, sondern auch darum, zum Beispiel Alt und Jung zusammenzubringen. Brücken zu bauen."

"Es muss auch um das Thema der stigmatisierten Stadt gehen. Das ist ein Riesenthema", sagt Hillmann. "Es gibt konkrete Anlässe, schlecht über Chemnitz und Bautzen zu denken. Es gibt hier ein rechtes Selbstbewusstsein, das jeder Beschreibung spottet." Aber die Stigmatisierung der Städte bewirke das Gegenteil von Veränderung, "und wenn der Westen mit dem moralischen Zeigefinger auf Sachsen zeigt, ist das für mich ein Symptom genau der gleichen abnehmenden Empathie, die hinter dem Fremdenhass steckt."

 

 Demonstration der Teilnehmer des Festivals "Willkommen Anderswo" 2017 durch die Bautzener Altstadt © Julika Bickel

 

Und was ist mit den Geflüchteten? Das Thema sei "nicht mehr so heiß wie vor zwei Jahren". Das schlage sich in allen Bereichen nieder, so Hillmann. "Das ist mal ein Vorteil der autokratischen Strukturen am Theater, dass wir es trotzdem hartnäckig weiterverfolgen können." In der Tat ist ja auch das Dresdner Montagscafé Ergebnis einer "Top-down-Entscheidung" des damaligen Intendanten Wilfried Schulz; und wenn sich aus der Arbeit dort ergibt, dass das Theater sich insgesamt diversifizieren müsste, dann kann auch das nur von oben wirklich nachhaltig umgesetzt werden, glaubt auch Montagscafé-Leiterin Wanja Saatkamp.

Privilegien hinterfragen

Skeptischer ist da Björn Bicker, der als Vordenker eines "Theaters der Teilhabe“ gelten kann. "Die Theater könnten viel mehr leisten. Ihre feudale Struktur nutzbar machen", sagt zwar auch Bicker. "Aber genau diese Struktur führt auch dazu, dass sie eben nicht für solche Entwicklungen genutzt wird".

Die Chance der #RefugeesWelcome-Bewegung sei gewesen, "sich endlich der Frage zu stellen: Wie können sich Theater in der Einwanderungsgesellschaft formieren?" Dafür müssten jedoch Privilegien hinterfragt werden. "Das Theater ist ein Ort der inszenierten Begegnung. Und in unserer Gesellschaft fehlen Orte der togetherness." Wie gut sich das Theater dafür eigne, habe sich für ihn in konkreten Projekten bewahrheitet, "aus denen paradigmatische Projekt-Communities gewachsen sind", so Bicker. "Aber darüber hinaus habe ich irgendwann gemerkt, dass sich an der Verschlossenheit der Institutionen nichts Grundlegendes ändert."

MarkthalleStendal 560 MagdalenaBurkhardtTheater in der "Kleinen Markthalle" in Stendal © Magdalena Burkhardt

Bicker illustriert das am Projekt "New Hamburg", das er im Auftrag des Deutschen Schauspielhauses mit entwickelt hat: "Dort haben wir in der Kirche auf der Veddel ein Community Arts Center gegründet und das irgendwann an ein Komitee aus Bewohner*innen und Aktivist*innen übergeben. Es geht weiter, und es bildet sich dort ein neuer Kunstbegriff heraus." Das Theater als Mitinitiator "müsste doch jetzt noch beherzter zugreifen, noch massiver und langfristig investieren und sich davon inspirieren lassen." Aber das sieht Bicker nicht.

Die "Kleine Markthalle" Stendal

Einen ähnlichen Prozess beschreibt der ehemalige Intendant des Theaters in der Altmark Alexander Netschajew. Sein Theater habe mitgewirkt am Entstehen der "Kleinen Markthalle" in Stendal, "ein Ort, der mit Hilfe der Freiwilligen-Agentur Altmark zu einem echten Begegnungsort ausgebaut und etabliert wurde". Das Theater der Altmark bringe sich dort nach wie vor mit unterschiedlichsten Formaten ein, "die Verantwortung liegt aber in den Händen der Ehrenamtlichen, die zivilgesellschaftliches Engagement auf der Basis demokratischer Grundwerte fördern, vernetzen und stabilisieren. Es ist großartig zu sehen, wie sich ein solches idealistisches Projekt verstetigt und durchsetzt, weil Verantwortungsträger aus Kommunalpolitik und Verwaltung, Wirtschaft, Gewerkschaft, Kirche und Verbänden angesprochen und eingebunden werden", so Netschajew: "Wir als Theater haben mit wenigen durchsetzungsstarken Persönlichkeiten 2015 ein zwischenmenschliches Feuer gelegt, das bis heute brennt und wärmt."

Netschajews Begriff vom "zwischenmenschlichen Feuer" heimelt an in einer Zeit, in der der symbolpolitische Kampf um den öffentlichen Raum das Wetter dort rau macht: Im Herbst 2015 wurden die #RefugeesWelcome-Plakate des Staatstheaters Cottbus von Rechtsextremen kaputtgemacht. Im Herbst 2018 fliegen in Berlin-Neukölln Farbbomben auf die "ReturningfromGermany"-Plakate von Horst Seehofer. Sowohl rechts als auch links setzen auf große Gesten: Gegen die Empörungslogik von AfD-Politiker*innen bilden sich kämpferische Bündnisse der Vielfalt. Das Ringen um medial weithin sichtbare Repräsentation bestimmt die Agenda.

Die theatralen Begegnungs-Formate, denen die Willkommenskultur von 2015 Aufwind gegeben hat, arbeiten unterhalb dieses Radars der Medienwirksamkeit. Sie ducken sich unter den Frontlinien weg und setzen ganz pragmatisch auf ein Miteinander ohne groß tönende politische Behauptung.

Ein neues Expertentum

Die ostdeutschen Theater haben ihre #RefugeesWelcome-Plakate abgehängt. Das wirkt aus einer gewissen Distanz betrachtet womöglich feige. Aus der Nähe sieht es hoffnungsvoll realistisch und sozial progressiv aus. Im Dresdner Montagscafé oder im Bautzener Thespis-Zentrum werden identitätspolitische Label aufgelöst in Richtung eines "Als ob", das mit der Vorstellungskraft einer diversen Stadtgesellschaft arbeitet. Hier bildet sich ein Expertentum dafür heraus, wie das Publikum = die Öffentlichkeit sich verändert und vom Theater neu begriffen werden könnte.

Natürlich ergeben sich aus dieser Arbeit Ansprüche an eine Diversifizierung des gesamten Theaterapparats, wie Björn Bicker sie im Sinn hat – nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter den Kulissen. Wie soll dem neuen Publikum sonst vermittelt werden, warum es nicht nur ins Montagscafé, sondern auch abends ins Theater gehen sollte? Diese Ansprüche müssen ernst genommen werden, wenn die Theater sich selbst weiterhin ernst nehmen wollen als gesellschaftliche Verhandlungsorte, als Öffentlichkeits-Experten und als Partner in Bündnissen für Vielfalt.



s.diesselhorst kleinSophie Diesselhorst, Jahrgang 1982, ist Redakteurin von nachtkritik.de. Sie studierte Philosophie und Kulturjournalismus. Seit 2005 ist sie von Berlin aus als freie Autorin und Redakteurin für verschiedene Print- und Online-Medien tätig.


 

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