Harmonie ist eine Strategie

von Vera Urweider

Zürich, 5. Dezember 2018. Es ist immer so eine Sache, wenn man nicht in der Stadt lebt, wo abends der Anlass ist, zu dem man hingehen soll/darf: Kommt man noch nach Hause? Bett organisieren? Risiko eingehen? Zwei Stunden soll das neue Marthaler-Stück dauern, könnte knapp werden, und dann, wie aus dem Nichts, der erlösende Einfall: Hey, es ist Marthaler der da inszeniert. Und: Er inszeniert von und über John Cage. Wenn da also "zwei Stunden, ohne Pause" steht, dann wird das ganz genau so sein. Also kein Problem, denke ich. Wenigstens etwas das klar ist an einem ansonsten doch ziemlich skurrilen Abend.

"In den nächsten 8/4-Stunden geht es um Harmonie, Personen, Pilze und … Harmonie." Bereits der Eingangsmonolog von Ueli Jäggi amüsiert. Und legt dar, was in den nächsten 120 Minuten tonangebend ist: Satzfetzen, Collagen, manchmal mit, manchmal ohne Zusammenhang, verständliche Erklärungen, unverständliche Überhäufungen von Information, die wohl eher Klangerlebnis als Klarheit geben sollen, Wiederholungen, irrtümliche Nicht-Enden von Passagen, und eben: die ewige Suche nach Harmonie, irgendwie in Zusammenhang mit Pilzen. Denn "Harmonien haben zwei Gesichter (...) und über Pilze wissen wir fast nichts".

44Harmonies2071 560 TanjaDorendorf uWie klingen Pilze? Nadja Reich, Vanessa Hunt Russell, Hyazintha Andrej, Isabel Gehweiler, Graham F. Valentine © Tanja Dorendorf

In diesem Jahr wurde Christoph Marthaler mit dem prestigeträchtigen Ibsen-Preis ausgezeichnet, dem "Nobelpreis" des Theaters. Er habe seine eigene, einzigartige Bühnensprache kreiert, die den Weg ebne für neue Einsichten in zwischenmenschliche Beziehungen, so die Begründung der Jury. Diesen Beziehungen versuchen nun Darsteller und Musiker auch in "44 Harmonies from Apartment House 1776" auf den Grund zu gehen. Und weil wir ja eben über Pilze fast nichts wissen und sie mit Menschen kaum kommunizieren können, treten die Personen als Harmonien auf. Vielleicht, so immer noch Jäggi in seinem Anfangsmonolog, funktioniere das ja besser. "Wir werden sehen."

Wer nun aber irgendwie schön aufgezählt 44 Harmonien und ein paar Pilze erwartet, der täuscht sich gewaltig. "44 Harmonies from Apartment House 1776" ist viel mehr. Marthaler gelingt eine wunderbar komische Hommage an einen der wichtigsten Komponisten der zeitgenössischen Musik und des Théâtre Musical: John Cage, bekannt für seine minutiös durchgetakteten Kompositionen. Obwohl definitiv nicht nur Cage gespielt wird, dringt er überall durch.

Ein Genuss!

Der Titel von Cages Komposition aus dem Jahr 1976 stammt von seiner Idee, dass zu jeder möglichen Zeit in jedem Wohnhaus viele Dinge gleichzeitig geschehen. So auch in der Halle des Schiffbaus in Zürich. Was eben bei Cage noch ein Wohnhaus war, wird durch das fabelhafte Bühnenbild und die komischen Kostüme Anna Viebrocks zu einer Art Schul-Aula aus den Siebzigern: zwei Klaviere an der Wand, ein Harmonium erhöht in einer Ecke, Notenständer, Stühle, alte Computer und große Müllsäcke. Ueli Jäggi könnte der Schuldirektor sein, Susanne-Marie Wrage eine Lehrerin, Elisa Plüss ein Schulmädchen. Und dann ist da noch Graham Valentine. Diese Haare! Diese Stimme! Und diese Schlaghose! 1969 lernten sich Marthaler und der Schotte kennen, seitdem taucht der ehemalige Germanistikstudent immer wieder in seinen Produktionen auf. Ein Glück! Ein Glück auch, dass Marc Bodnar dabei ist. Seine nonchalante Art aufzutreten, sei es in der Rezitation des einzigen französischen Textes, gegen die graue Betonwand oder der urkomische eklektische Schwebetanz zu Klavierklängen – ein köstlicher Genuss!

44Harmonies1334 560 TanjaDorendorf uBühne und Kostüme von Anna Viebrock. Von links nach rechts: Susanne-Marie Wrage, Ueli Jäggi, Marc Bodnar © Tanja Dorendorf

Es wird keine zusammenhängende Geschichte erzählt. Es sind einzelne Szenen, die irgendwie zueinandergehören, sich überschneiden und ablösen. Die Protagonisten sprechen manchmal zusammenhanglose Texte, oder einen Dialog, aber verteilt auf vier Personen, während der fünfte immer wieder nach Luft holt und dann wieder nichts sagt, sondern aus der Blumenvase trinkt. Marthaler mischt Musik von Cage (logisch) mit Satie, Bach, Beethoven, Mahler, Schumann, Watson und Wagner mit Texten unter anderen von James Joice über Gertrude Stein bis zu Beatrice Egli. Ein Potpourri, was zu einem großen Ganzen zusammenwächst. Ein organisiertes Chaos. Oder in den Worten Cages: anarchische Harmonien.

Wer nicht geht, der bleibt

Also. Wir haben Pilze, Chaos und Harmonien, manchmal auch Disharmonien, das sind ja aber auch Harmonien, vermeintlich willkürliche Bewegungen, Abläufe und Auftrittspunkte, und präzise Wiederholungen, die das Absurde unterstreichen und so manchem im Publikum laute Lacher entlocken. Eine Länge hat das Stück dennoch, selbstverständlich ist auch diese bewusst gesetzt. Als würde Marthaler hier sein Publikum testen wollen. Wer es aushält, den vier Cellistinnen beim Versuch zu spielen zuzuschauen, über geschätzt mindestens zwanzig Minuten, wer jetzt nicht aufsteht und geht, der bleibt. Unbehagen, Unruhe, verzweifeltes Lachen auf der Tribüne. Doch gehen tut niemand.

Und nach ganz genau "zwei Stunden, ohne Pause" singen alle zusammen in einer der letzten Szenen "Es ist genug" und stellen rund 60 Notenständer auf. In aller Ruhe. Und am Ende liegen sie alle da, außer einem, der in aller Gelassenheit die Notenständer gießt.

 

44 Harmonies from Apartment House 1776
von Christoph Marthaler und Ensemble
Regie: Christoph Marthaler, Bühne und Kostüme: Anna Viebrock, Musik: Bendix Dethleffsen, Isabel Gehweiler, Christoph Marthaler, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Benito Bause, Marc Bodnar, Raphael Clamer, Bendix Dethleffsen, Ueli Jäggi, Bernhard Landau, Elisa Plüss, Graham F. Valentine, Susanne-Marie Wrage.
Celli: Hyazintha Andrej, Isabel Gehweiler, Nadja Reich, Vanessa Hunt Russell.
Premiere am 5. Dezember 2018
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Der Abend sei wie sein Gegenstand – Pilze – mit Bedacht zu konsumieren und schwer verdaubar, so Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (6.12.2018). "Marthalers Theater erklärt das Ende der Vernunft, weil es an die Macht der Sinneswahrnehmungen glaubt: Musik, zum Beispiel!" Er inszeniere sehr laut schiere Stille, und er verzichte auf Narrative. "Er ist der Regisseur geblieben, der künstlerisch unbeirrbar und einer entwaffnenden Empfindsamkeit verpflichtet auf der Suche nach einem anderen als dem geläufigen gesellschaftlichen Massstab ist: Wie leben und wonach suchen wir? Und wo sind unsere letzten Freiräume geblieben?"

"Ein eigentümlicher Rhythmus von traurig-komischem Versanden und Versickern grundiert ein permanentes Zerreden, Abgehen, Auftreten, Warten. Von Geschehen, gar Handlung kann keine Rede sein", so Cornelie Ueding vom Deutschlandfunk (6.12.2018). "Marthaler sagt nicht – er zeigt: All diese Variationen klirrender Choräle, wissenschaftlicher Erörterungen, leerer Rituale, festgefressener Dialoge, die aberwitzigen, sinnfrei erscheinenden Aktivitäten von zu Automaten geschrumpften Pilzköpfen haben einen sehr realen Bezug. 44 Harmonies der Entmündigung – das ist ein zur Kenntlichkeit verzerrtes, gespiegeltes Selbst-Portrait Europas im Stadium seiner Ruhigstellung."

Im Grunde könne man die Theaterarbeit von Christoph Marthaler als eine stillvergnügte Meditation über Schellings große Frage 'Warum ist nicht nichts, warum ist überhaupt etwas?' lesen, so Simon Strauß in der FAZ (7.122018). "Gemeinsam mit seiner Bühnenbildnerin Anna Viebrock erfindet er Warteräume zwischen Phantasie und Wirklichkeit, in denen sich letzte Menschen zum ersten Mal wiederbegegnen." Der Abend ziehe sich hin wie eine nächtliche Fahrt im Schienenersatzverkehr. "Die Idee der Entleerung von jeglichem Inhalt wirkt leicht abgenutzt, und die schöne, vor allem durch die Celli getragene Stimmung kann das nur bedingt kompensieren, wohl auch, weil es ihr an der letzten Verlorenheit fehlt."

"Willkommen am Nullpunkt des Theaters. Wo nichts passiert, wird alles zum Ereignis", schreibt Barbara Villiger Heilig für Die Republik (8.12.2018). "Wo steckt die Magie? In den Zwischenräumen, den Lücken, den Pausen. In der Perfektion, mit der sich minimale Spannung auf- und abbaut. In der Farbensymphonie der Bühne, wo der Wechsel von (künstlichem) Tageslicht und Nachtbeleuchtung Innen- und Aussenwelt verschränkt. Im surrealen Witz, der die Realität zur Kenntlichkeit entstellt. In der Freiheit des Traums, den wir hier und jetzt mitträumen. In der Nonchalance des Ganzen."

Marthaler liefere seine im Kern sprödeste, intellektuellste, abstrakteste Arbeit seit Langem ab, findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (11.12.2018). "Nur merkt das kaum jemand, denn um diesen thetischen Kern herum gibt es die ikonisch gewordenen Marthalereien seines gewohnt windschiefen All-Star-Ensembles in einem Bühnenbild von Anna Viebrock, das diesmal einen Wartesaal mit kleiner Bühne und großem Sandkasten zeigt." Der einzig inhaltlich nachhaltige Moment des Abends sei Ueli Jäggis grandioser Vortrag zu Beginn. "Der Rest ist reines Musiktheater, voll mit allem Möglichen."

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