Sandmann im Wunderland

von Valeria Heintges

Luzern, 6. Dezember 2018. Ein riesiges, mit rosafarbenem Stoff bespanntes Spinnennetz hängt über der Bühne des Luzerner Theaters, auf der E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" gegeben wird. Zu Beginn bewegt es sich langsam, stülpt sich auf zum Schlauch, zieht sich wieder zurück zum flachen Netz. Eine große Qualle, die atmet, sich aufpumpt, wieder leer wird. Fünfmal, sechsmal. Oder ist es doch nur ein Stab- und Stoffgerüst, das von der Technik bewegt wird?

Als es nach oben verschwunden ist, zeigt die Bühne (Ausstattung: Pia Greven) zwei riesige Hasen, die anmutig und überlebensgroß an der Wand lehnen. Im Hintergrund an einem groben Tisch drei Wesen mit riesigen Puppenköpfen, grauen Gesichtern und Kleidung, die in Falten an ihnen herunterhängt. Am auffälligsten: die Augen! Große, kalte Glaskörper, die das Gesicht beherrschen. Die drei, ein Junge, ein Mann, eine Frau, haben nichts zu tun. Gelangweilt baumeln sie mit den Beinen, kratzen sich am Kopf, trommeln auf die Baumscheibe, die als Tischplatte dient, popeln einander im Ohr, in der Nase, und fressen das Gefundene. Dräuende Musik dazu, eine ferne Melodie.

Die Zeit läuft ab

Nein, zu denen will man nicht eingeladen werden. Erst recht nicht, als plötzlich ein Knochen krachend von der Decke fällt. Und auch nicht, als der vierte Typ auftaucht. Mit hämmernden Schritten kommt er die Treppe hoch, einen Cricketschläger über der Schulter. Aber vor allem nicht, weil die Zeit verrückt spielt: Mal tickt eine Uhr normal im Hintergrund. Dann dreht sie auf, tickt schneller. Nur, um kurz danach beinahe stehen zu bleiben. Überhaupt: die Zeit. Sie dehnt sich auf der Bühne, wird aber auch im Zuschauerraum langsam lang, als erst nach 20 Minuten das erste Mal ein paar Worte gesprochen werden. "Clara, wo bist du?" und "Nathanael?" hört man, maschinell verzerrt, geraunt. Kaum verständlich. Und unendlich oft wiederholt.

SandmannHP2 560 Ingo Hoehn19122 uHoffmanns Horrorpuppen © Ingo Höhn

Dann alles neu. Alle Figuren verschwinden und die Schauspieler Christian Baus, Lukas Darnstädt, Wiebke Kayser, Mira Rojzman und Julian-Nico Tzschentke treten in völlig normalen Kleidern auf; ein bisschen bürgerlich, ein bisschen spießig vielleicht, aber ganz heutig. Und endlich!, nach 30 Minuten, sprechen sie Text aus Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann", allerdings brutal gekürzt. Der Anfang überlebt erkennbar. Nathanael berichtet seiner Verlobten Clara von den traumatischen Erlebnissen seiner Jugend, wie der Advokat Coppelius die Familie tyrannisierte und Nathanael ihn als "Sandmann" enttarnte, der den Kindern die Augen ausschlägt. Und nach dessen letztem Besuch der Vater tot auf dem Boden lag.

Licht und Liebe

Der zweite Teil wird radikal verkürzt. Kaum verständlich, dass Nathanael glaubt, Coppelius wiederzusehen, dass er seiner Verlobten Clara untreu wird, weil er sich in Olimpia verliebt, die Tochter seines Professors. Wer es nicht weiß, versteht nicht, dass Olimpia eine stumme, mechanisierte Puppe ist, die nur "ach" sagt und "Gute Nacht, mein Lieber", und die Nathanael trotzdem vergöttert. Auf der Luzerner Bühne bleibt nicht viel mehr von ihr übrig als ein kleiner Lichtstrahl, das aus einem Podest kommt.

Die Schauspieler teilen den reduzierten Hoffmann-Text untereinander auf, sprechen ihn trocken, fast emotionslos, beinahe wie in einer szenischen Lesung. Der Kontrast könnte stärker nicht sein zwischen ihren trockenen Worten und dem alptraumhaften Geschehen um die Puppen auf der plüschigen, teppichausgelegten Bühne mit den Alice-im-Wunderland-Hasen und den Treppen in die Unterwelt oder ins Unterbewusste. Hart geben sie die Stimme der vernünftigen Freunde, die Nathanael die Angst nehmen wollen und seine Visionen als Irrgebilde abtun.

SandmannHP2 560 Ingo Hoehn19128 u'Alexa, erzähl mir eine Albtraumgeschichte' © Ingo Höhn

Als die Puppen ein drittes Mal auftauchen, wird das Geschehen endgültig zum Horror. Sie stopfen Nathanael Essen zwischen die Maskenlippen, verprügeln ihn mit dem Cricketschläger, als er gekrümmt und sich erbrechend auf dem Boden liegt, und fressen die Eingeweide der Hasen. Ist er der Sonderling, weil er komische Dinge sieht oder träumt? Oder sind sie die Kranken, die in ihm die Gefahr sehen? Ruhe findet Nathanael erst beim Sprung vom Kirchturm. Und bei Olimpia. Jetzt zeigt sich, dass das Podest ein leuchtendes Glas verbirgt, das ganz freundlich mit Nathanel spricht. Es heißt Olimpia. Aber es könnte auch Alexa oder Siri heissen. So wie die beiden Sprachassistentinnen von Google und Apple, die uns durchs Leben begleiten, wenn wir wollen. Die freundliche Künstliche-Intelligenz-Stimme ist Nathanaels Rettung, längst sind die hässlichen Kaninchen-Fresser da abgeschirmt im grauen Kasten verschwunden.

Regisseur Nicolas Charaux nimmt sich viel Zeit, um seine Geschichte zu entwickeln. Auch wenn der Abend nur anderthalb Stunden dauert, zieht er sich in den Puppenszenen zuweilen wie Kaugummi. Doch der Schluss dreht gekonnt die Fragen um, wer hier Visionen und Ängste hat und wer Sonderling ist, der ausgemerzt werden muss. Und er deutet Olimpia als Künstliche Intelligenz, als sprechenden Lautsprecher im Wohnzimmer. Das überrascht mit seiner Konsequenz, seiner Folgerichtigkeit. Und das verwischt die scheinbar starren Grenzen zwischen der Welt der Visionen und der Realität mit ihren harten, scheinbar unumstößlichen Fakten.

 

Der Sandmann
von E.T.A. Hoffmann
Inszenierung: Nicolas Charaux, Bühne und Kostüme: Pia Greven, Licht: Clemens Gorzella, Musik: David Lipp, Dramaturgie: Nikolai Ulbricht.
Mit: Christian Baus, Lukas Darnstädt, Wiebke Kayser, Mira Rojzman, Julian-Nico Tzschentke.
Premiere am 6. Dezember 2018
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.luzernertheater.ch

 

Kritikenrundschau

"Während man zu Beginn des Stücks noch einiges von der Originalgeschichte in den maskierten Szenen wiedererkennt, verkehrt sich das Ganze allmählich in einen wahnsinnigen, triebgesteuerten Exzess“, schreibt Daniela Herzog von Zentralplus (8.12.2018). "Leider gelingt es dem Ensemble rund um Regisseur Nicolas Charaux und Dramaturg Nikolai Ulbricht nicht, die Brücken zwischen dem erzählenden und dem dramatischen Spiel genügend zu schlagen. Das Stück entzweit sich allmählich und die Maskeraden entfernen sich immer mehr vom 'Sandmann'-Stoff."

"Charaux verwendet im 'Sandmann' eine ganz eigene Erzählform, indem er den innerlich zerrissenen und traumatisierten, typisch romantischen Protagonisten einerseits von aussen, andererseits von innen her darstellt. Ebenfalls stehen sich abwechselnd Vergangenheit und Gegenwart gegenüber, bis der Wahnsinn aus dem Unterbewusstsein Nathanaels in seine Erzählung schleicht", schreibt Lyenne Perkmann von Null41.ch (7.12.2018). Es werde vor allem mit Stille und Langsamkeit gearbeitet. "Manchmal fühlt sich dies unerträglich an, wie beim Anstehen in einer ellenlangen Warteschlange im Sommer."

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