Disaster - machina eX präsentieren am Berliner HAU ihr "Theater-Game über Game-Theater"
Die Zeitbombe tickt nicht ganz sauber
von Esther Slevogt
Berlin, 6. Dezember 2018. Der Wendepunkt besteht aus einem kleinen Ständer mit zehn Röhrchen. In diesen Röhrchen sollen sich Bakterien befinden. Unsichtbarkeitsbakterien zum Beispiel, aber auch ein Unsterblichkeitsbakterium. So richtig gut sind die Aufschriften nicht zu lesen, und wir müssen uns schnell entscheiden, hier im Kinderzimmer des achtjährigen Nerd-Kindes Hans Hövel, wo er zwischen Spielzeug, Puppen und Kinderbett an einem Serum mixt. Die ersten Zutaten, eine basische Lösung und rätselhafte Enzyme, sind bereits in dem kolbenförmigen Reagenzglas zu einer grünlich-schäumenden Lösung zusammen gerührt.
Wir, das sind eine Gruppe Zuschauer, die hier in eine verschrobene Welt aus Requisiten geraten sind, darunter viel altertümliches Laborgerät und historische Technologie, auf Schreibtische und Regale verteilt. Wir sind zu Interaktion und Zusammenarbeit verdonnert, wenn wir etwas von dem Theaterabend haben wollen. Wer bloß gucken will, wird nichts zu sehen bekommen als leere Oberflächen. Auch was wir erzählt bekommen, bestimmen wir selbst. Das ist bei diesen Theater-Game-Formaten so. Und die Aufgabe des neuen Games des Kollektivs machina eX besteht darin: zu rekonstruieren, warum der junge Mann, den wir anfangs mit einer tickenden Zeitbombe um den Bauch im Theaterraum vorgefunden haben, in diese lebensgefährliche Lage geriet.
Da lag die Spielwelt der Theatergamer mit all ihren möglichen Wendungen noch im Dunkeln vor uns. Zerfledderte Bücher über die Physikerin und Chemikerin Marie Curie zum Beispiel, deren Foto sich auch irgendwo auf einem der Schreibtische findet. Verstreute Notizen und kryptische Kassiber, Kabel, uralte Disketten aus dem Computerpleistozän. Aber auch diverse Rattenkäfige.
Eine Ratte verschwindet
Jetzt also stehen wir im Kinderzimmer des kleinen Hans, dessen Leben wir hier nun ebenso zur entscheidenden Wende verhelfen sollen, wie dieser Geschichte: mit der Auswahl des Bakteriums, aus der dann das bahnbrechende Serum entsteht, das Hans zum Gejagten werden lässt: irgendeine Geheimorganisation will ihm das Serum abjagen. Wir wählen also die Unsichtbarkeitsbakterie aus und mit dem daraus gemixten Serum wird sogleich die Ratte Paula im Kinderzimmer in ihrem Käfig unsichtbar gemacht (wo sie auch zuvor bloß aus einem kleinen Bluetooth-Lautsprecher bestand, aus dem ihr altkluges Stimmchen drang). Später wird sie in einem Waldstück, das aus einem Flokati und drei Gummibäumen besteht, freigelassen. Dass die Geschichte bei Wahl eines anderen Bakteriums durchaus eine andere Wendung hätte nehmen können, darauf deutet das Rattenskelett in einem der anderen Käfige hin.
So weit so gut. Aber die Geschichte ist ja "Disaster" überschrieben. Doch dieses Disaster besteht nicht darin, dass es uns Zuschauern trotz hektischer Anstrengung und intensivster Kooperation nicht gelang, den zitternden Protagonisten Hans (alias Martin Schnippa) zu Beginn davor zu bewahren, mit der Zeitbombe in die Luft zu fliegen, weil die Geräte nicht funktionierten. Das Spiel ist nicht fertig geworden, bevor die Zuschauer*innen kamen.
Dies nämlich eröffnet die zweite Spielerin Katharina Bill, die immer wieder das Steuerpult am Ende des Saals verlässt und hysterische Anmerkungen zum Stand der Spielentwicklung macht. Auch das soll Teil der Geschichte sein, die hier erzählt wird: in diesem Theater-Game über Game-Theater, das uns sozusagen auf Bauweisen und Erzähltechniken und -versatzstücke aufmerksam machen soll. Das aber ist leider nicht sehr erhellend und führt auch all unsere fröhlichen Versuche ad absurdum, die Rätsel zu lösen, beispielsweise die Codes zu knacken, mit deren Hilfe das nächste Level oder Kapitel des Spiels erreicht werden kann. Denn wir dürfen einfach nicht hinein in die Geschichte, die zu Ende ist, bevor sie angefangen hat. machina eX, das waren mal Pioniere dieses Theaterformats. Aber hier geht es gerade nicht weiter.
Disaster
Ein Theater-Game über Game-Theater von machina eX
Konzept: machina eX, Text und Game-Design: Clara Ehrenwerth, Regie und Ausstattung: Anna Fries, Technische Leitung und Programmierung: Lasse Marburg, Dramaturgie und Gamedesign: Yves Regenass, Musik und Sounddesign: Malu Peeters, Elektronik und Programmierung: Sebastian Arnd. Performance: Katharina Bill, Martin Schnippa.
Premiere am 6. Dezember 2018
Dauer: ca. 1 Stunde, keine Pause
www.machinaex.com
www.hebbel-am-ufer.de
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Warum müssen hier andauernd leute die auf bestimmte formate keinen bock haben, genau diese formate dann besuchen um sie zu zerreissen? weil sie einfach grundsätzlich von der jeweiligen art theater zu machen nix halten, sich vermeintlich aber gerne eines besseren belehren lassen würden? ist das der sinn der nachtkritik? so ja mache ich hier vielleicht gerade den gleichen fehler und bitte um entschuldigung.
ich fand „Disaster“, auch ohne großer fan des genres zu sein, sehr anregend, inspirierend und ästhetisch gelungen. Die performance hat mich immer wieder sehr gepackt, den wechsel zwischen den erzählebenenen fand ich immer wieder sehr fruchtbar.
ihre kritik hält sich sehr mit der detaillierten beschreibung der szenographie auf, was ohne weitere inhaltliche einbettung höhnisch wirkt („waldstück, das aus einem flokatiteppich und drei gummibäumen besteht.“) dass in der „nicht sehr erhellenden“ verhandlung von game-theater- oder theater-mechanismen auch generelle machtverhältnisse, z.b. zwischen publikum und erzähler*innen verhandelt werden fällt ihnen scheinbar nicht auf.
aus ihrem „wir dürfen einfach nicht hinnein in die geschichte“ lese ich einen wunsch nach ungebrochenen illusionstheater und mehr gunmibäumen heraus. das hätte ich persönlich als rückschritt empfunden.
leider muss ich Sie enttäuschen: ich habe sehr große Lust auf immersive Formate, beschäftige mich immer wieder mit großem Gewinn damit und schreibe auch gerne darüber. Zum Beispiel über das Komplexitätswunder "Fleck und Frevel" von Prinzip Gonzo im Ballhaus Ost neulich, wo ich mich mit dem allergrößten (Denk)Vergnügen in eine Figur / Mitspielerin eines Dostojewski-Games verwandelt habe. Hier hingegegen habe ich mich noch nach Tagen geärgert, nicht härter mit dem Abend und seiner Denkfaulheit ins Gericht gegangen zu sein. Die Verhandlung eines Machtverhältnisses zwischen Publikum und Theatermacher*innen, von dem im Ankündigungstext die Rede war (den sie hier ja auch so treulich zitieren), blieb eine uneingelöste Behauptung.
Doch natürlich ist niemals ausgeschlossen, dass mir als Kritikerin etwas entgangen ist, ich Dinge schlicht nicht kapiert oder übersehen habe. Deswegen lasse ich mich hier sehr gerne von Ihnen eines Besseren belehren. Dazu müssten Sie allerdings etwas konkreter werden, als mir zu unterstellen "auf bestimmte Formate keinen Bock" und "Sehnsucht nach ungebrochenem Illusionstheater" zu haben.