Kalt gefließte Rache

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 14. Dezember 2018. Revolutionärin? Urfeministin? Oder doch einfach nur eine rachsüchtige Kindermörderin? Der Medea-Mythos ist ein starker, vielgedeuteter Stoff und fasziniert bis heute – wie alle Märchen und Mythen, in denen es blutrünstig zugeht. Nichts scheint so sehr zu faszinieren wie Mord und Totschlag. Vor allem, wenn dann auch noch die Liebe mit ins Spiel kommt. Die Königstochter und Zauberin Medea handelt ja stets aus Leidenschaft: Riskiert für den Griechen Jason alles – und verliert. Folgt ihm mit den beiden Kindern ins Exil nach Korinth, wo er nichts anderes zu tun hat, als sich berechnend der Königstochter Kreusa an den Hals zu werfen, Medea zu verstoßen, ihr die Kinder wegzunehmen. Medea, verzweifelt, gedemütigt, benutzt die einzige Waffe, die sie noch hat: Sie tötet ihre Söhne, um sie Jasons Einfluss zu entziehen.

Weil Medeas Schicksal auch ein Migrationsdrama ist – schließlich ist sie in Korinth permanent Vorurteilen und Fremdenhass ausgesetzt –, wundert es nicht, dass nicht nur Euripides' "Medea", sondern auch Franz Grillparzers Bearbeitung des Mythos derzeit auf deutschsprachigen Bühnen boomt. So zeigt jetzt auch das Stuttgarter Staatstheater Grillparzers "Medea" – den letzten Teil seiner Trilogie "Das goldene Vlies" von 1819.

Ein zugiger Ort, ein eiskalter Mann

Eigentlich ist "Medea" ein Fünfakter. Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik macht es aber kurz: Sie gibt der Geschichte ganze 75 Minuten. Die recht rabiaten Striche, die sie dem Stück angedeihen ließ, kochen die Geschichte ein zu einer Art Sorgerechtsdrama: Medea will sich nach der Trennung von ihrem Partner die Kinder nicht nehmen lassen. Papas neue jüngere Geliebte Kreusa, die Katharina Hauter sehr gekonnt als eine aufdringlich herzige und naive Upperclass-Tochter spielt, zerrt die beiden Kleinen (Tom Pekarski und Emil Wipfler) sofort unter ihre Fittiche.

Der so gut wie überhaupt nicht empathische König Kreon (Klaus Rodewald gibt ihn als einen eiskalten und ein bisschen beschränkten Mann) findet es selbstverständlich, dass der zwielichtigen Medea die Kinder entzogen werden. Jason wiederum ist ein Schwächling, der eigentlich gar keine Meinung dazu hat. Am Ende würde er Medea sogar freiwillig einen der Knaben überlassen. Benjamin Pauquet spielt Jason als ein solches Weichei, dass man größte Probleme hat, zu verstehen, was Medea am Anfang dazu bringt, sich in liebesbedürftigem Wahn mit ihm zu einem veritablen Körperknäuel zu verknoten. Und das in Schräglage auf der Treppe.

Medea2 560 ThomasAurin uEin stetes Auf und Ab für die Figuren. Statisterie, Jannik Mühlenweg, Klaus Rodewald, Katharina Hauter, Sylvana Krappatsch, Benjamin Pauquet © Thomas Aurin

Denn gespielt wird in einem imposanten Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt: Ein wuchtiges Treppenhaus steht da auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses, mit kalt gefließten Wänden und einem großzügigen, milchig verglasten Lichtschacht in der Mitte. Ein zugiger Ort, keiner, wo man sich heimisch fühlen darf. Über zu wenig Bewegung kann man sich an diesem Abend nicht beklagen: Ständig kommt irgendjemand um die Ecke, läuft die Treppen behände herauf und wieder herunter, warten Diener in dunklen Winkeln, wird miteinander gesprochen, wenn sich zufällig oder geplant die Wege kreuzen, aber auch unsichtbar gemunkelt, irgendwo unten, wo die Treppen beginnen. Wobei man sich wundert, dass selbst der König die Stufen zu Fuß überwinden muss – und es keinen Aufzug gibt.

Final glimmt noch einmal das Lichtschacht-Jenseits auf

Schließlich spielt das Stück – darauf verweisen vage die Kostüme – in der heutigen Zeit, auch wenn die Protagonist*innen in original fließenden Blank- und freien Versen sprechen. Wenn Medea die mickrigen Überbleibsel ihres großen Monologes rezitiert – der ihr eigentlich die Zeit gäbe, hörbar ihren Entschluss zu fassen, die Kinder zu töten – qualmt sie Zigaretten und denkt das Wesentliche still vor sich hin.

Gerade dem Bühnenbild entspringen die magischen Theatermomente an diesem Abend. Wenn Medea die Geister ihres Vaters und ihres Bruders erscheinen, an dessen Tod sie Mitschuld trägt, dann sieht man den Lichtschacht aufleuchten und die verschwommenen Konturen zweier nackter Körper werden sichtbar. Und auch in der Schlussszene, wenn Medea sich endgültig von ihrem Ex-Gatten verabschiedet, glimmt final noch einmal das Lichtschacht-Jenseits auf und es erscheinen die geisterhaften Umrisse der getöteten Jungen.

Medea3 560 ThomasAurin uTreppenplausch der Nebenbuhlerinnen: Sylvana Krappatsch als Medea, Katharina Hauter als Kreusa © Thomas Aurin

Aber ansonsten? Den Charakteren wird jegliche Chance genommen, sich zu entwickeln. Auch, weil ihnen die Vergangenheit weggekürzt wurde. An Sylvana Krappatsch liegt es jedenfalls nicht, dass Medeas Ermordung der Kinder nicht als zwingende Konsequenz erscheint. Wenn sie nach Worten ringt, sie herauspresst, in Verzweiflung erstarrt, ja körperlich gefriert angesichts Jasons Untreue, Abweisung und Verrat, so spielt sie die Medea glaubwürdig und mit großer Intensität: diese völlige Überraschung über sein Verhalten, diese ungeheure Verletzung. Aber warum diese Frau dann ihre Kinder unbedingt töten muss, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Wäre Koležniks Inszenierung konsequent, müsste sie im erweiterten Suizid Medeas enden. Grillparzers durchaus psychologierendes Drama verkümmert so aber zur eindimensionalen Story.

 

Medea
von Franz Grillparzer
Fassung von Carolin Losch, Mateja Koležnik und Alina Zeichen
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Alan Hranitelj, Musik: Nikolaj Efendi, Choreographie: Matija Ferlin, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Carolin Losch, Dramaturgische Mitarbeit /Dolmetscherin: Alina Zeichen.
Mit: Katharina Hauter, Sylvana Krappatsch, Marietta Meguid, Jannik Mühlenweg, Benjamin Pauquet, Tom Pekarski, Klaus Rodewald, Emil Wipfler, Statisterie.
Premiere am 14. Dezember 2018

Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause



www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Auf der karg aber beeindruckend kompakt gestalteten Bühne umreißt Koležnik den grundsätzlichen Konflikt um Liebe, Flucht und Verrat in wenigen flotten Zügen", schreibt Kathrin Horster in den Stuttgarter Nachrichten (15.12.2018). Anstatt sich mit den komplizierten Grundlagen der antiken Sage zu beschäftigen, setze Mateja Koležnik auf die psychologisch-emotionale Ebene des Stoffes. "Ohne krampfhafte Modernisierungen öffnet die Inszenierung die Perspektive auf das psychische Leid geflüchteter Menschen, die in der Fremde auf Vorurteile und Ablehnung stoßen, weil man sie als potenzielle Bedrohung der eigenen Kulturauffassung und Moralvorstellung einstuft."

"'Medea' wird verflacht zur Schnellskizze irgendeiner zerbröselnden Beziehung im vagen Hier und Jetzt", schreibt Otto Paul Burkhardt von der Südwest Presse (17.12.2018). "Dass es um Krieg, Macht und Unterwerfung geht, um Eroberer und 'Barbaren', um Hybris, Verrat, Fremdenhass und archaischen Zauber, geht nahezu unter – im seltsam harmlos wirkenden Beziehungsgezerfe dieser Inszenierung. In einem derart von der Regie geschrumpften Echoraum des Dramas haben es die Schauspieler schwer." Burkhardts Fazit: "Kantenlos designt und heruntergebrochen auf heute. Banalisiert und fast ohne Tiefendimension."

"Steile Stiegen, steile Verse, steile Fallhö­hen-­Symbolik – doch bei allem Auf und Ab im Treppenraum herrscht ein Tonfall, der in beschleunigter Beiläufigkeit durch die rabiat auf 75 Minuten gekürzte Vorla­ge rattert", schreibt Martin Mezger in der Eßlinger Zeitung (17.12.2018). "Um Facetten und Reflexionen beschnitten nimmt ein Flachpassspiel auf Stichwort­zuruf seinen quasi automatisierten Verlauf. Als wüssten alle Beteiligten von An­fang an, wie es ausgeht." Mezger schließt: "Koležnik hat mit dem eingedampften und abgekühlten La­bortext nur einen Umweg über Grillpar­zer-­Verse genommen, um zu zeigen, was man von vornherein weiß, und im Dun­keln zu lassen, was man nicht weiß: Wer ist Medea?"

"Was sonst Koležniks Inszenierungen auszeichnet, der Mut zur radikalen Kürze und die atemraubend engen Bühnenbilder von Raimund Orfeo Voigt, gerät hier zur Belastung", findet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.12.2018). In Korinth gingen alle ständig treppauf, treppab, begegneten sich nur im Vorbeigehen und selten auf Augenhöhe, blieben hin und wieder ganz unsichtbar im Keller, nur als Stimmen anwesend. "Das erfordert höchste Konzentration und wirkt doch seltsam spröde und kühl, wo doch eigentlich Leidenschaften brennen müssten."

 

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