Schnee Weiss - In der Uraufführung am Schauspiel Köln lädt Stefan Bachmann zur Rutschpartie mit Elfriede Jelinek
Skifoan!
von Cornelia Fiedler
Köln, 21. Dezember 2018. Es gibt ein paar einfache Regeln: keine Privatsender hören, Kaufhäuser meiden, so oft wie möglich Kopfhörer tragen. Ja, es hätte dieses Jahr wirklich funktionieren können, durch die Adventszeit zu kommen, ohne ein einziges Mal Last Christmas zu hören, den ewigen Weihnachts-Wiedergänger von Wham!. Doch dann passiert es am gefühlt sichersten Ort überhaupt, im Theater! Im letzten Drittel einer Jelinek-Uraufführung! Danke Schauspiel Köln.
Zugegeben, der wüste Après-Ski-Soundtrack von Elektromusiker Matti Gajek, der nicht einmal vor DJ Ötzis "Ein Stern" und Peter Wackels Ich verkaufe meinen Körper zurückschreckt, ist zwar quälend, aber er ist auch absolut stimmig für diesen Abend über kollektive Amnesie, Hierarchie und Machtmissbrauch. In ihrem neuen Stück "Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier)" greift Elfriede Jelinek die sexualisierten Übergriffe im österreichischen Profi-Skisport auf, die Betroffene 2017 nach 40 Jahren Schweigen öffentlich gemacht haben. Daraus entwickelt die Literaturnobelpreisträgerin 90 Seiten Reflexion und Assoziation über das Skifahren als Nationalheiligtum Österreichs, über Moral und Doppelmoral, über Rollenbilder und Gewalt. 90 Seiten, die es in sich haben.
Der Skiverband als religiöse Institution
Auf einem steilen, mit schneeweißen Matten überzogenen Pistenplateau im Depot zwei des Schauspiel Köln präsentieren Schauspiel-Intendant Stefan Bachmann und Dramaturgin Beate Heine eine für eine Uraufführung erstaunlich kurze Textfassung von nur zwei Stunden. Allerdings wird fast pausenlos gesprochen und das, etwa im Fall von Peter Knaack als überheblichem Proto-Opfer Jesus, oft in Hochgeschwindigkeit. Neben Jesus ruft Jelinek auch Maria, einen Engel sowie Gottvater auf den Plan. Denn die katholische Kirche stellt mit ihrem Moralmonopol, ihrer Abwertung der Frau und ihren bekanntlich ebenfalls missbrauchsfördernden Machtstrukturen einen zentralen Bezugs- und Symbolraum in "Schnee Weiss" dar.
So hat Jelinek beispielsweise aus Oskar Panizzas Liebeskonzil, das dem Autor 1895 eine einjährige Gefängnisstrafe wegen Blasphemie einbrachte, eine Szene entlehnt, die erschreckend gut zum realen Skandal passt: Ein Engel schildert, wie er in seinem früheren irdischen Leben als 14-jähriges Mädchen durch einen Schuldirektor vergewaltigt und aus Versehen getötet wurde – im Beisein der Mutter, die sich den Missbrauch bezahlen ließ. Zwar geht es im realen Skandal des Skiverbandes nicht um Zuhälterei. Aber Jelinek schildert, angelehnt an die Berichte von Opfern der Übergriffe, ein Klima, in dem Kinder und Jugendliche um des sportlichen Erfolges Willen Übergriffe hinnahmen, sich schämten, unter den Folgen litten, aber es niemals gewagt hätten, Eltern oder anderen Erwachsenen die Wahrheit zu erzählen.
Verleugnen, Kleinreden und Schuldumkehr, diese reflexhaften Reaktionen aus Skiverband und Gesellschaft auf die ersten Anklagen im Jahr 2017 spitzt Jelinek in ihrem Text schmerzhaft zu. Bachmann illustriert, allerdings oft wenig überraschend mit Kopulations-Choreographien in 70er-Jahre-Skianzügen, Sport- und Partyszenen oder Kreuzigungsmotiven. Die Kostüm- und Bühnenbildner*innen Jana Findeklee und Joki Tewes steuern zudem Kuh-, Engels- und Clownsköpfe zu golden schimmernden Nacktanzügen bei.
Keine Kampfansage
Jelinek lässt in ihren assoziativen Machtmissbrauchs-Wortkaskaden unter anderem Motive aus Sophokles' "Ichneutai", Euripides' "Bakchen", Freuds Überlegungen zum Fetisch und einem Essay der Psychoanalytikerin Marie Bonaparte über "Kopftrophäen" einfließen. Einen solchen köperlosen Kopf spielt Simon Kirsch dann auch im ruhigeren zweiten Teil. Der ruht in einem schummrigen, verglasten Museumsraum unter dem Schneehügel und schimpft und wütet minutenlang mit absolut beeindruckender Wucht. Mit den gequälten und vergewaltigten Skischüler*innen teilt er das seltsame Schicksal, moralischen Doppelstandards ausgesetzt zu sein. Als ethnologisches Sammlerstück hat er offenbar kein Anrecht auf Totenruhe, so wie die heranwachsenden Held*innen der Nation offenbar keines auf eine selbstbestimmte Sexualität haben. Beeindruckend sind auch die schneidenden Monologe von Margot Gödrös als uneinsichtiger Gottvater aka Ski-Verbandspräsident im Rollstuhl. Dennoch hält sich der Eindruck aus dem ensemblebetonten ersten Teil, dass die Inszenierung den Text kleiner macht als er ist. Bachmann setzt kaum eigene Schwerpunkte, bezieht selten Position.
"Schnee Weiss" ist nicht als feministisches Fanal geschrieben, nicht als Kampfansage – eher ist es eine resignative Bestandsaufnahme, auch was den Glauben an die Wirkmacht des eigenen Schreibens angeht. So endet das Stück zwar mit der Ermordung eines Mannes, was auf den ersten Blick wirken könnte, als sei es die ersehnte Tat zweier Rächerinnen. Doch es ist de facto die Nachstellung des Mordes an Kim Jong Nam, möglicherweise im Auftrag seines Halbbruders, des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un. Die beiden Täterinnen wähnten sich angeblich in einer Fernsehshow im Stil von "Verstehen Sie Spaß". In jedem Fall wurden sie schlicht instrumentalisiert. Emanzipation sieht anders aus.
Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier)
von Elfriede Jelinek
Uraufführung
Regie: Stefan Bachmann, Bühne und Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Komposition und musikalische Einrichtung: Gajek, Licht: Michael Gööck, Choreografie: Sabine Perry, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Margot Gödrös, Simon Kirsch, Lola Klamroth, Peter Knaack, Nikolay Sidorenko, Sabine Waibel.
Uraufführung am 21. Dezember 2018 im Schauspiel Köln
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspiel.koeln
Das actionreiche Intro könne "der Zähigkeit des Abends nichts anhaben", findet Margarete Affenzeller im Standard (online 23.12.2018). Den Text zu aktivieren, ihn "hörbar" zu machen, gelinge Bachmann nur momenthaft. Wie immer bei Jelinek sei der Text eine polyphone Suada, die hier über 92 Seiten das weitgehende Dulden von (sexueller) Gewalt als krasses kulturelles Defizit kenntlich mache. Aber "ratlos und behäbig wirkt die Illustration des Textmassivs mit den immer ähnlichen Bildern aus dem imaginären Jelinek-Inszenierungskatalog."
Neu an Jelineks Blick auf die Welt sei: "Wer Opfer ist, wer Täter, ist unentschieden, Unschuld ist Schuld und umgekehrt", so Daniele in der Neuen Zürcher Zeitung (online 23.12.2018). Bachmann inszeniere "spielerisch, schillernd". "Nichts Schweres ist ihm schwer genug, um es nicht leicht zu nehmen. Hereinspaziert in die Manege des Skizirkus!"
Von einer "Rutschbahn ins Theaterglück" spricht Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (24.12.2018), der dem Abend Bestnoten ausstellt. Und Stefan Bachmann ein untrügliches Gespür für die Bühnenwirklung Jelinekscher Texte bescheinigt - der im vorliegenden das Paradox, dass das "dissonante Rauschen" der Texte in der Regel übertönt, wovon die Texte sprechen, auf das Schönste zur Wirkung bringt.
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Wer jemals ORF-Übertragungen von alpinen Skirennen gesehen hat, weiß, mit wie viel Herzblut und Chauvinismus die Kommentatoren ihre Athlet*innen anfeuern. Jelinek bezeichnet den alpinen Rennsport als eine „heilige Kuh“ ihrer Landsleute, die Uraufführungs-Regisseur Stefan Bachmann auch symbolisch über die Bühne trotten lässt. In den zugänglicheren, weniger kryptischen Passagen ihrer Textfläche führt Jelinek das „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“-Prinzip der sprichwörtlichen drei Affen vor. Niemand will etwas gewusst haben. Margot Gödrös karikiert im Rollstuhl und mit Schweizer Akzent den Unternehmer und ÖSV-Präsidenten Peter Schröcksnadel, der wie Gottvater über den Dingen stehen möchte.
Hier schlägt Jelinek den Bogen zu einer anderen patriarchal und autoritär geprägten Organisation, die von Missbrauchsskandalen erschüttert wurde: zur katholischen Kirche. Sie bedient sich bei Motiven des kaum bekannten, 1894 erschienen, satirisch-grotesken Dramas „Das Liebesdomizil“ und lässt sich von ihrer assoziativen Sprachbegeisterung treiben.
Nach der ersten der beiden Stunden lichteten sich viele Reihen beim Autorentheatertage-Gastspiel der Kölner Uraufführungs-Inszenierung in Berlin: zu schwer wiegen die Textbrocken, zu langatmig ist der Mittelteil des Abends. Die Spielfreude des starken Ensembles, das mit Skifahr-Einlagen unterhält, die tollen Kostümen (Jana Findeklee und Joki Tewes) und die provozierend-schräge Musikauswahl (Gajek) von DJ Ötzis „Ein Stern“ bis zu „Last Christmas“ sorgen zwar für unterhaltsame Momente.
Dem regieführenden Kölner Intendanten Stefan Bachmann ist es aber nicht gelungen, den ausufernden Text in den Griff zu bekommen und eigene Akzente zu setzen. Margarete Affenzeller fühlte sich im Wiener „Standard“ zurecht an einen „Jelinek-Inszenierungskatalog“ erinnert.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/05/31/schnee-weiss-elfriede-jelinek-schauspiel-koln-kritik/
Und so verliert der Abend früh seine Zuschauer*innen und potenziellen Mitdenker*innen. Wie eine aufwändige szenische Lesung spult er den Text ab, ohne ihm dramatisch etwas abzugewinnen – oder dies auch nur zu wollen. Das Ergebnis ist Beliebigkeit: Die seidenen, fragilen Fäden, die das Disparate in Jelineks Vorlage zu verbinden suchen, fehlen gänzlich. Da kann sich das exzellente ensemble noch so mühen: Die giftig drastische Sabine Waibel oder die vielfarbig schillernde Ungreifbarkeit einer Lola Klamroth etwa, die schweizerisch eingefärbte Larmoyanz von Margot Gödrös' Rollstuhl-Gott oder Peter Knaacks angeknacks angepisster Jesus vermögen es nicht, aus dem Rezitierten Theater zu machen, weil Stefan Bachmann jegliche Dramatisierung versagt. So bleibt Jelineks wahnwitzige Zeit- und Raum- und Gedankenreise blutleeres Papier, theaterferne Aufzählung, unverstandene Illustration. Kaum mag man bei all dieser aufwändigen und effekthascherischen Unambitioniertheit von einer Uraufführung sprechen. Eine, die dem Text gerecht wird oder gar versucht, ihn – wie es einer Uraufführung geziemt – zum theatralen Leben zu erwecken, ist zumindest nicht zu erleben. Eher eine Abfahrt ins Belanglose.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/05/31/abfahrt-ins-belanglose/