Heilige des Lasters

von Sascha Westphal

Bochum, 22. Dezember 2018. "Die Fantasie ist der Stachel der Lust", verkündet der unersättliche Libertin Dolmancé. Sofort fügt seine Freundin, die nicht weniger wollüstige Witwe Madame de Saint-Ange, hinzu: "Die Fantasie ist der Feind der Norm." Aus diesen beiden Glaubenssätzen des Marquis de Sade erschafft Herbert Fritsch eine ganze Welt. Seine Bühnenadaption der 1795 von de Sade erstmals veröffentlichten "Philosophie im Boudoir" am Schauspielhaus Bochum illustriert diese beiden Lehren und fügt ihnen noch eine dritte hinzu: Die Fantasie ist der Raum, in dem der Mensch seinem Innersten gegenübertritt. "Der Stachel der Lust" wird zum Stachel des Denkens, "der Feind der Norm" ist zugleich der Feind der Lügen, die sich eine ganze Gesellschaft oder auch ein einzelner Mensch erzählt, um sich selbst in Sicherheit zu wiegen.

Madonna der Verderbten

Im Zentrum der kaum beleuchteten leeren Bühne, undurchsichtig wie das Schwarz, aus dem so vielen Schöpfungsmythen zufolge das Universum erwachsen ist, lässt sich ein Seil erahnen. Als es von unsichtbarer Hand nach oben gezogen wird, steigt eine Frau, deren Zopf an ihm befestigt ist, in einem weißen Kleid aus der Tiefe des Bühnenbodens auf und entschwindet langsam in Richtung Bühnenhimmel. Gut zwei Stunden später wird sie an dem gleichen Seil wieder herabschweben und erstmals mit den fünf Frauen und dem einen Mann vereint sein, die kurz nach ihr aus dem rechteckigen Loch im schwarzen spiegelnden Boden aufgestiegen sind – in einem roten Fahrstuhl-Quader. Angesichts des strahlenden Rots dieses Blocks, der sich im Lauf der Inszenierung mehrmals aus der Unterbühne erheben wird und wieder in ihr verschwindet, an die Hölle zu denken, liegt nahe und verbietet sich doch. Das wäre nur eine dieser Lügen, gegen die sich Herbert Fritsch mit de Sade wendet.

Boudoir1 560 BirgitHupfeld uFahrstuhl zum Schaffott? In die Hölle? Zur Lust? © Birgit Hupfeld

Denn die 26-jährige Madame de Saint-Ange, ihr Bruder, der Chevalier de Mirvel und ihr Vertrauter Dolmancé, die als "lasterhafte Lehrmeister" die 15-jährige Klosterschülerin Eugénie de Misitval in eine Welt der Ausschweifungen und Grausamkeiten, der Lüste und der Verbrechen einführen, sind keine Geschöpfe der Hölle. Ebenso wie ihre Opfer sind auch sie Ausgeburten der Fantasien, Manifestationen des kollektiven wie des individuellen Unterbewussten. Victoria Behr hat diesen göttlichen Wesen des "göttlichen Marquis" entsprechende Kleider auf den Leib geschneidert, in denen sich Elemente der Fetischmode wie extrem hohe Schnürstiefel mit aus dem Kirchlichen entlehnten Accessoires harmonisch verbinden. So erinnern die Hauben, die Jele Brückner und Anne Rietmeijer tragen, an Nonnen, während Ulvi Tekes Kleidung das Ornat eines Weihbischofs zitiert. In einer Szene, in der sie praktisch über den Boden zu schweben scheint, trägt Jing Xiang gar eine Art Monstranz auf dem Kopf und wirkt damit wie eine Heilige des Lasters, eine Madonna des Verderbten.

Ausschweifungen im Märchenton

Dennoch hat Herbert Fritschs Inszenierung anders als noch de Sades Texte, die auch lustvolle Kriegserklärungen an den katholischen Klerus waren, nichts Blasphemisches an sich. Die bizarren Kostüme betonen die rituellen Charakter von de Sades Schriften ebenso wie jene Szenen, die mit kirchlicher Symbolik spielen. Etwa die, in der sich Anna Drexler in eine wahrhaft messianische Figur verwandelt, als sie Teile aus dem revolutionären Manifest "Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt" (aus "Philosophie im Boudoir") verkündet.

Boudoir3 560 BirgitHupfeld u Madonna der Verderbten: Jing Xiang (Mitte) mit einer Art Monstranz auf dem Kopf © BirgitHupfeld

Fritsch verbannt so von Anfang an jeglichen Realismus aus seiner Annäherung an die Gedankenwelten des Marquis’. Dessen akribische Schilderungen sexueller Handlungen und Stellungen sind ja selbst keineswegs realistisch. Auf die ständigen Wiederholungen und endlosen Variationen des Immergleichen reagieren Fritsch und sein Ensemble mit ausgelassener Spielfreude. Wenn Jele Brückner, Anna Drexler und Svetlana Belesova Passagen aus de Sades "Die neue Justine", die Fritsch und sein Dramaturg Vasco Boenisch in ihre Bearbeitung der "Philosophie" eingefügt haben, im Märchenton vortragen, scheinen sie sich regelrecht an den geschilderten Ausschweifungen zu berauschen. Während Anna Drexler und Svetlana Belesova körperlich fast außer sich geraten, spiegelt Jele Brückner die Ekstasen der Juliette im Spiel ihrer Augen.

Jede*r kann alles sein

Doch der Effekt ist derselbe. In allen drei Szenen begegnet man Menschen, die so tief in ihre dunkelsten Fantasien eintauchen, das sie plötzlich sich selbst erkennen und darüber ganz aus der Fassung geraten.

Boudoir5 560 BirgitHupfeld uAus der Fassung geratene Köpfe: Svetlana Belesova, Anne Rietmeijer, Jele Brückner, Jing Xiang, Ulvi Teke, Anna Drexler © Birgit Hupfeld

In dem schwarzen Reich der Lüste wie der Philosophie, des Egoismus wie der Politik, das Herbert Fritsch aus dem Schwarz der Bühne erschafft, gibt es keinerlei Abgrenzungen mehr. Svetlana Belesova, Jele Brückner, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke und Jing Xiang wechseln ständig die Rollen. Mal sind sie Verführer mal Verführte, mal Verbrecher mal Opfer, mal Mann, mal Frau. Die Übergänge sind fließend und doch immer genau zu erkennen. In seiner Fantasie kann jede*r alles sein. Dabei sind noch die extremsten Grausamkeiten Teil eines befreienden Gedankenspiels, das alle Lügen des Anstands wie der Zivilisation entlarvt.

 

Die Philosophie im Boudoir
von Marquis de Sade
in der deutschen Übersetzung von Rolf Busch
Regie, Bühne: Herbert Fritsch; Kostüme: Victoria Behr; Musikalische Konzeption und Arrangement: Otto Beatus; Lichtdesign: Bernd Felder; Dramaturgie: Vasco Boenisch.
Mit: Svetlana Belesova, Jele Brückner, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke, Jing Xiang, Julia Myllykangas, Otto Beatus.
Premiere am 22. Dezember 2018 im Schauspielhaus Bochum
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Hoch virtuos gemacht, ein Theater maximaler Künstlichkeit, in dem die maskenhaft geschminkten Darsteller mit höchstem Körpereinsatz agieren", schreibt Regine Müller im Tagesspiegel (27.12.2018). Obwohl der Abend eine gute halbe Stunde zu lang sei, weil Tempo und Perversionen irgendwann nicht mehr zu steigern sind, "gelingt Fritsch eine fulminante de Sade-Revue, eine schwarze Messe der Gedankenfreiheit, die sich in einen schwerelosen Applaus-Tanz auflöst".

Fritsch lasse Text und Darstellung asynchron laufen und "findet eine wunderbare Lösung, das unspielbare Werk zum Bühnenereignis zu machen", so Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (27.12.2018). Der Regisseur mache den Text zugänglich über das Erschrecken hinaus. "Man erkennt die geradezu kindliche Angeberei in den Stellen, wo Sade seine Figuren ihre unbegrenzte Lust und Potenz behaupten lässt. Man bemerkt die kalte Künstlichkeit in den Stellungsarrangements von Dolmancé, eigentlich der perfekte Lusttöter. Und das 'Ficken' wird unbeteiligt in den Raum gesprochen." Dieser Kontrast zwischen deklamierten Abscheulichkeiten und absurder Putzigkeit reichere Sades Erzählung an und "ist hoch unterhaltsam".

Von einem "denkwürdigen Abend inklusive eines schwer an den Nerven zerrenden Stücks, sechs famoser Schauspieler und eines am Ende mächtig über die Bühne irrlichternden Regisseurs" spricht Sven Westernströer in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (23.12.2019). Der Abend begegne "all den eklatanten Ausschweifungen im Text" mit größtmöglicher Künstlichkeit. So wirkt die Inszenierung auf den Kritiker "beinahe keusch, weder Busen noch Pobacke blitzen unter den riesigen Kostümen (von Victoria Behr) hervor, die an kirchliche Ornate ebenso erinnern wie an Lack und Leder." Trotzdem seien die Zuschauer "gleich scharenweise und Türen knallend aus der Vorstellung" geflüchtet,  was, so der Kritiker "ja durchaus eine legitime Form des Protestes ist."

"Diese Inszenierung schwankt nur so sehr von einem todlustigen Extrem ins abgrundtief Seelenlose, dass sie mitunter das Gleichgewicht verliert," so Christiane Enkeler in der Sendung "Fazit" vom Deutschlandfunk Kultur (22.12.2018). Zwar zeichnet den Abend aus ihrer Sicht ein "unglaublicher Ideenreichtum" aus. "Das Ensemble ist präsent, schneidet Grimassen, zeigt Körpereinsatz und insgesamt eine großartige Leistung, nimmt den Text Wort für Wort auseinander und bringt ihn sorgsam auf die Bühne." Aber es ist zu viel, findet die Kritikerin, "zu viel Zungenstrecken und Körperverrenken, zu viel Sexgelaber". "Grauen, Abgrund und Langeweile lassen Teile des Publikums das Weite suchen – fatal für die Dunkelheit des Raumes, die so ständig gestört wird, und ein Schlag ins Gesicht für Ensemble und Konzept."

Die "provozierend offenen, fiktionalen Anleitungen zu Formen der Lust und der Gewalt" von de Sade seien "tabufrei, auch offen frauenverachtend", schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (28.12.2018). Dem versuche Fritsch mit Ironie und Übertreibung zu begegnen. "Dennoch reproduziert die reflektierte Uraufführung letztlich eine männlich-pornografische Perspektive." Die Inszenierung besteche durch ihre hohe, immer auch pervertierte Ästhetik, "das Ensemble spielt brillant, mit Witz und am Anschlag", so Fiedler. "Dennoch wirkt die Perfektion monoton und die Inhalte beginnen zu rauschen."

 

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