Endlich im Klassiker-Himmel?

von Kai Bremer

3. Januar 2019. Die im Netz gut zugänglichen Volltext-Versionen von Goethes "Faust" (zum Beispiel hier) präsentieren den Klassiker bisher in Fassungen, die im Hinblick auf die Zuverlässigkeit des Textes mindestens problematisch sind.

Meist sind sie sogar fehlerhaft. Zwar sind das nur selten Fehler, die einen faustischen Geist aus der Fassung bringen. Aber zumindest für Leser*innen, die sprachlich sensibel etwa auf Betonungen und Akzentuierungen achten, weil sie an den performativen Dimensionen von Goethes Tragödie interessiert sind, für solche Leser*innen waren die Fassungen im Netz bislang unbefriedigend. Für sie dürfte in Zukunft www.faustedition.net das Nonplusultra sein – zumal sie Teil einer von den Herausgebern Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis "Hybridausgabe" genannten Edition ist, die zugleich auf dem guten alten Papier in zwei Varianten erschienen ist.

Das Problem der zusätzlichen Silbe

Ein kleines Beispiel mag die Fehlerhaftigkeit zahlreicher Ausgaben verdeutlichen. Nachdem der Leichnam Fausts ins Grab gelegt ist, ertönt im letzten Akt der Chorus Mysticus: "Das Unbeschreibliche, / Hier ist's getan; / Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan." – so schließen bis heute vielfach "Faust"-Inszenierungen, zahlreiche wissenschaftliche Editionen wie Schulbuchausgaben kennen diese Wortwahl. Ebenso die umstandslos und legal zugänglichen Internet-Ausgaben. Das Problem an diesem Ende ist, dass davon die letzten von Goethe autorisierten Handschriften abweichen. Im drittletzten Vers heißt dort nämlich eindeutig "Hier ist es gethan;".

Buch Faust Online 3D CoversDieses vermeintliche Detail ist wichtig, weil der Vers dadurch eine Silbe mehr hat als der letzte Vers des Dramas ("Zieht uns hinan."), auf den sich der drittletzte Vers durch den Reim besonders bezieht. Das wirft die Frage auf, auf welchen Silben der drittletzte Vers zu betonen ist. Die bisher im Netz kursierenden Fassungen mit der Abweichung folgen älteren germanistischen Editionen, die den drittletzten Vers einer früheren "Faust"-Fassung entsprechend metrisch an den Schlussvers anpassten, um alles hübsch eingängig zu schmieden. Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne, der in seiner 1994 publizierten "Faust"-Ausgabe im Deutschen Klassikerverlag erstmals mit dieser Praxis gebrochen hat, kritisierte seinerzeit zurecht das "Harmoniebedürfnis" der Kollegen. Im Netz und in zahlreichen Schulbuchausgaben herrscht es noch heute.

Zuverlässig: Die Reclam-Ausgabe

Doch auch wenn Schöne zwar präzise in die Handschriften geschaut hat – seine Ausgabe hat andere Defizite. Sie ist zum Beispiel nach dem Willen des Verlags modernisiert. So heißt es in ihr "Hier ist es getan" statt "Hier ist es gethan", was nun auch keinem faustischen Geist schlaflose Nächte bereiten wird. Aber wer sich bewusst einen "Faust " zulegt, möchte in der Regel eine Ausgabe in den Händen halten, die sich möglichst exakt am Goetheschen Wortlaut orientiert. Die aktuell zuverlässigste Ausgabe ist deswegen bisher die Studienausgabe des Reclam-Verlags, die Ulrich Gaier besorgt hat. Sie setzt konsequent das um, was in den Handschriften steht, greift nur bei offenkundigen Fehlern und ähnlichem ein oder löst Abkürzungen auf. Sie ist eine Paradebeispiel dafür, dass der gerade von Philologen nicht selten geschmähte Verlag seit inzwischen rund zwei Jahrzehnten vielfach ganz hervorragende Ausgaben erstellt – zu denken ist etwa an die Studienausgaben der Dramen Büchners, Kleists oder Lessings.

Nun aber, ratatata, Faust Online

Ähnlich wie Gaiers "Faust"-Ausgabe präsentiert www.faustedition.net zunächst einen Lesetext. Die Herausgeber nennen ihn "konstituierter Text". Besorgt wurde er von Gerrit Brüning und Dietmar Pravida. Begrifflich soll diese Bezeichnung klar machen, dass es 'den' "Faust" ohnehin nicht gibt, sondern dass jede Ausgabe das Ergebnis philologischer Überlegungen und Entscheidungen ist. Diese begriffliche Unmissverständlichkeit kennzeichnet das gesamte Vorhaben. Das mag Schöngeister abschrecken und klingt auch manchmal etwas technisch, wenn etwa die textkritischen Prinzipien und Verfahren unter dem Begriff "Textherstellung" subsumiert werden. Aber angesichts des Umstands, dass Goethe-Philologen oft eher Priester des Weimarer Titanen waren als die Anwälte seines Textes, sind die präzise und gleichwohl prägnanten Hinweise zu der Textkonstitution schlicht wohltuend unaufgeregt.

2019 01 02 12 32 34 Mozilla FirefoxScreenshot aus der faustedition.net

Bei historisch-kritischen Buch-Ausgaben müssen die Leser*innen sich meist erst in die Konzeption und in ein Verweissystem einarbeiten. Das wird ihnen bei der Internet-Ausgabe auf beeindruckend unkomplizierte Weise abgenommen. Besonders leicht erschließt sie sich vom konstituierten Text aus. Hinter jedem Vers sind alle Varianten hinterlegt. Fährt man mit der Maus auf den genannten Vers 12109 ("Hier ist es gethan;"), erscheint über dem Vers eine Sprechblase: "2 Varianten in 3 Textzeugen". Wer jetzt wissen möchte, welche zweite Variante das neben der sichtbaren ist, klickt den Vers an und findet die drei Textzeugen genannt. In einer Papierausgabe müsste umständlich in die jeweiligen Teile geblättert werden, in denen die Textzeugen abgedruckt sind, oder es müsste ein kompliziertes genealogisches Darstellungsprinzip entwickelt werden, das den Lesefluss erheblich hemmt. Hier nun kann jede Variante mit einem Klick aufgerufen werden – zunächst als Transkription. Ergänzend können weitere Ansichten eingeblendet werden, beispielsweise eine Paralleldarstellung links des Originals und rechts der Transkription.

Die Edition spielt also alle Vorteile der Bildschirmdarstellung hervorragend aus. Sie eignet sich damit insbesondere, wenn bei der Lektüre konkrete Fragen auftauchen, um unkompliziert Auskunft über den Text zu erhalten – inklusive des konkreten Einblicks in die originalen Textzeugen und Varianten. Worauf sie hingegen gänzlich verzichtet, ist ein Kommentar. Wer Antworten auf die Frage sucht, warum Goethe zunächst "Hier ist's gethan;" schrieb, zuletzt aber nicht mehr, muss weiterhin die Forschungsliteratur konsultieren.

Das Buch zur Online-Version

Angesichts der Stärken der historisch-kritischen Ausgabe stellt sich freilich die Frage, warum die Edition ergänzend den Weg zurück ins Analoge gewählt hat. Im Göttinger Wallstein-Verlag ist eine einbändige Ausgabe des konstituierten Textes und eine monumentale zweibändige Faksimile-Ausgabe erschienen. Diese letztere mag ihre Berechtigung für wissenschaftliche Bibliotheken und vielleicht als Coffee Table Book für die letzten Bildungsbürger haben. Für die konkrete Lektüre, zumal bei einer vor- und zurückblätternden mit Bleistift, lohnt sich jedoch die Anschaffung der Einzelausgabe des konstituierten Textes. Wo im Netz Varianten der Überlieferungsgeschichte mit einem Klick hervorragend einsichtig sind und wo zudem textkritische Randnotizen den Text bereichern, ohne den Lesefluss zu unterbrechen, bietet die Buch-Ausgabe den konstituierten Text nur mit wenigen Lesarten am Fuß der Seite. Der Wallstein-Verlag hat das Buch, wie üblich, äußerst zuverlässig und haptisch wie optisch ansprechend besorgt. Leser*innen, die sich bei längeren Lektüren im Buch besser orientieren als am Bildschirm, werden deswegen die Buch-Ausgabe des konstituierten Textes schätzen – zumal die Internet-Version keine eigenen Notizen ermöglicht. Die Begeisterung für die Ausgabe ist offenbar so groß, dass sie bereits in der 2. Auflage vorliegt, in der einige wenige Fehler und Missverständlichkeiten behoben wurden. Wer freilich schon den Reclam-"Faust" im Regal stehen hat, wird sein Philologen-Glück auch ohne die Buchausgabe des konstituierten Textes allein mit der Internet-Ausgabe finden.

Was immer noch fehlt

Sind wir jetzt also endlich im Klassiker-Himmel angekommen? Die Ausgabe vom konstituierten Text ist nicht substantiell teurer als die kritische Studienausgabe bei Reclam. Virtuell überzeugt die Internet- Ausgabe im Hinblick auf die Möglichkeiten, aber auch durch umfassende Suchfunktionen und weitere Hilfen. So ist etwa klar geregelt, wie aus der Online-Fassung zitiert werden sollte.

Was aber eindeutig fehlt, sind Download-Möglichkeiten. Die Ausgabe wurde umfassend von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Bei anderen DFG-Digitalisierungen ist es längst üblich, dass die Scans als PDF-Dateien allen interessierten Nutzern und teilweise sogar mittels optischer Zeichenerkennung generierte Volltext-Varianten präsentiert werden. Darauf wird bei dieser Ausgabe verzichtet, obwohl sie in erheblichem Maße aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde. Die Ursache für diesen Mangel wird kaum der Umstand sein, dass Download-Möglichkeiten das Engagement des Wallstein-Verlags infrage gestellt hätten. Schließlich wird kaum ein Mensch ernsthaft anfangen, hunderte Seiten von Goethe-Handschriften zuhause durch den Drucker zu jagen, um sich die dann abgeheftet ins Bücherregal zu stellen. Wenn es etwa Theatern auf diese Weise ermöglicht würde, die eigene Stückfassung auf der Basis des konstituierten Textes zu erstellen, wäre das zweifellos ein Gewinn. Die Seite technisch um diese Möglichkeit zu erweitern, dürfte ein Leichtes sein. So würden in Zukunft nämlich nicht mehr nur einige Philologen von www.faustedition.net profitieren, sondern auch Regisseur*innen und Dramaturg*innen.

 

Faust
von Johann Wolfgang Goethe
Herausgegeben von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis
Unter Mitarbeit von Gerrit Brüning, Katrin Henzel, Christoph Leijser, Gregor Middell, Dietmar Pravida, Thorsten Vitt und Moritz Wissenbach
Frankfurt am Main, Weimar, Würzburg 2018
kostenfrei im Internet: www.faustedition.net

Faustedition komplett
Gesamthandschrift und konstituierter Text
Herausgegeben von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis
In der Reihe: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Historisch-kritische Edition (hg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis)
Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 3 Bände, 1370 Seiten, 224,00 EURO (D), 230,00 EURO (A)

Faust. Eine Tragödie
Konstituierter Text, bearbeitet von Gerrit Brüning und Dietmar Pravida, Reihe: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Historisch-kritische Edition (Herausgegeben von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis)
Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 574 Seiten, 39,00 EURO (D), EURO 40,10 (A)

 

Kommentare  
Faust online: Dank
Danke für die kurze und prägnant vergleichende Besprechung des Gebrauchswertes der diversen Herausgaben.
Faust online: Des-Illusion-ierung
Wenngleich ich mich durch Kai Bremer wohl belehren lassen muss, dass meine Reclam-Ausgabe von 1971 es verdient, von Philologen geschmäht zu werden, so mag ich mich doch nicht recht damit abfinden, dass dem Chorus Mysticus die letzten Worte des FAUST zukommen sollen, egal ob da nun steht „Hier ist es gethan“ oder „Hier ist’s getan“. Die unterschiedliche Schreibweise bringt mich nicht aus der Fassung, wohl aber die Illusion des „Ewig-Weiblichen“, weshalb ich wohl ein ‚faustischer Geist‘ sein muss.
Die Reclam-Ausgabe zitiert im Klappentext aus dem Brief Goethes an Reinhard vom 07.09.1831. Goethe beschreibt darin zunächst, wie er mit seinen Enkeln vor den Feierlichkeiten anlässlich seines Geburtstages nach Ilmenau geflohen ist, zu Leuten, „die das ganze Jahr weder Brod, noch Butter, noch Bier zu sehen kriegen und nur von Erdäpfeln und Ziegenmilch leben“ …, „aber alle heiterer als Unsereiner, dessen Kahn sich so voll gepackt hat, daß er jeden Augenblick fürchten muß, mit der ganzen Ladung unterzugehen.“ Dann gesteht er vertraulich – und hier setzt der Klappentext ein -, dass es ihm gelungen sei, „den zweiten Theil des Faust in sich selbst abzuschließen“. Aber: „Aufschluß erwarten Sie nicht; der Welt- und Menschengeschichte gleich, enthüllt das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues, aufzulösendes.“
In die gleiche Richtung weist der in Rüdiger Safranskis Goethe-Biographie hervorgehobene Brief an Wilhelm von Humboldt vom 17.03.1832, wo Goethe die Gründe darlegt, die ihn von einer Veröffentlichung des Faust II abhalten: „Der Tag aber ist wirklich so absurd und confus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt,…“
Diese Brief-Passagen sind mir die FAUST-Conclusio, sie schließen den Kreis zur ZUEIGNUNG: „Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage / Des Lebens labyrinthisch irren Lauf,…“ Und zum VORSPIEL: „Was hilft’s, wenn ihr ein Ganzes dargebracht, / Das Publikum wird es euch doch zerpflücken.“ „Sucht nur die Menschen zu verwirren, / Sie zu befriedigen ist schwer…“
Das gilt wohl auch für den Menschen Faust, der irrt so lang‘ er strebt und seinem ‚Wahn‘ folgt: „Daß ich erkenne was die Welt / Im Innersten zusammenhält,…“
Und so lässt die Reclam-Ausgabe von 1971 der Chorus-Mysticus-Illusion die Weisheit der viel früher geschriebenen Abkündigung folgen: „Des Menschen Leben ist ein ähnliches Gedicht: / Es hat wohl Anfang, hat ein Ende, / Allein ein Ganzes ist es nicht.“
Kann ein weniger exakter FAUST-Text der wahrhaftigere sein? Auf jeden Fall helfen im Internet frei zugängliche klassische Werke, die im „trüben Blick“ der Erinnerung „schwankenden Gestalten“ fest zu halten. Der FaustEdition und dem Hinweis von Kai Bremer sei gedankt!
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