Mit Leidenschaft so heiß wie Gulaschsaft

von Leopold Lippert

Wien, 8. Januar 2019. "Wir haben da was vorbereitet…". Der frisch gewählte Kaiser Rudolf von Habsburg kommt grade die Donau runtergefahren, allein am Bug des Schiffes, sein Heer freilich im Rücken, und scheint ehrlich verwundert, dass die Österreicher ihn vom Ufer her grüßen und vor ihm ehrfürchtig niederknien. In diesem anachronistischen Anschlussmoment fühlt er sich – kurz – wie der Heilige Sebastian. Und trotz all dem symbolüberfrachteten Gekalauere, trotz der rotzigen Live-E-Gitarre (eine Zither!), die da einsetzt, wissen die beiden älteren Damen auf den Nachbarplätzen selbstverständlich, was jetzt kommt: das Loblied auf Österreich. Es ist ein gutes Land undsoweiter. Und auch wenn Ottokar von Hornek gestrichen wurde, und den Text stattdessen Thomas Frank als Merenberg und Peter Fasching als Rosenberg aufsagen dürfen; und auch wenn sie ihn eher verfremdend krächzen als würdevoll vortragen, werden die beiden älteren Damen auf den Nachbarplätzen halblaut mitsprechen, selig und unbeirrt den wangenroten Jüngling Österreich dem deutschen Kaiser antragen, wie sie es wohl als Nachkriegsschülerinnen auswendig gelernt haben.

Spektakel mit Springbrunnen

Im Wiener Volkstheater inszeniert Dušan David Pařízek Franz Grillparzers "König Ottokars Glück und Ende", der tschechische Regisseur also jenes österreichische Nationaldrama, in dem der Böhmenkönig ziemlich schlecht wegkommt. Und das Schöne an diesem Abend ist, dass die paradoxe Publikumsregung von den Nachbarplätzen perfekt hineinpasst in ein Regiekonzept, das auf Spektakel, Hyperbel und Geschmacklosigkeit setzt, und dabei trotzdem jede einzelne Figur, jeden einzelnen Standpunkt intellektuell und emotional ernst zu nehmen scheint. Das Schöne an diesem Abend ist, dass er gewissenhaft den Gesten und der Sprache der Mächtigen nachspürt und zugleich ebenso ernsthaft vorschlägt, Merenberg möge sich als Springbrunnen "verkleiden", um unerkannt zu bleiben (der spuckende Thomas Frank und seine Wasserflasche machen ihre Sache gut!).

KoenigOttokar2 560 Lupi Spuma uHerrschaftliche Schlachtermeister: der Böhmenkönig Ottokar (Karel Dobrý) und sein Gegenspieler Rudolf von Habsburg (Lukas Holzhausen) © Lupi Spuma

Die politische Auseinandersetzung des glücklosen Böhmenkönigs Ottokar mit dem ersten Habsburger Rudolf ist für Pařízek zuallererst eine Frage des Stils. Der tschechische Schauspieler Karel Dobrý gibt Ottokar als protziges Alphatier und polternd performenden Prahlhans, der allen Ernstes mit goldener Glitzerhose auf einem Pferd einreitet (es ist ein echtes weißes Pferd, das laut Programmheft "Fantastico" heißt, und gleich mal auf die Bühne kackt). Große Reden schwingt er, und versinkt umso sprachloser vor Scham in der Ecke, als er aus der Kaiserwahl als Verlierer hervorgeht und von Rudolf kniend die Lehen erbitten muss. Die losen Holzlatten, die im Bühnenhintergrund hochragen und die scheinbar überwältigende (in Wahrheit äußerst klapprige) Macht Ottokars symbolisieren, sind da schon längst in sich zusammengekracht.

Rudolf von Habsburg mit Schweizer Genauigkeit

Rudolf hingegen tritt auf als netter Junge von nebenan, der der von Ottokar geschassten Königin Margarethe (Rainer Galke als üppige Diva) die Krone richtet und den Stuhl rückt, und allen ihren Gefühlsregungen höflich beipflichtet.

Lukas Holzhausen spielt Rudolf als den Schweizer, der er war, und ist dabei das ganze Gegenteil des cholerischen Herrschers Ottokar: ein jovialer Plauderer, der allen gleich schnapstrinkend das Du-Wort anträgt ("I bin der Ruedi", "Dreimal Küsschen in der Schweiz") und sich nuschelnd schwyzernd mit dem einfachen Soldaten Walter Stüssi aus Luzern verbrüdert. Er trägt einen ockerfarbenen Cordanzug Marke Kulturfeuilleton und ebenso samten ist sein Tonfall, an dem man nie erkennen würde, welche Macht er gerade ausübt. Höchst aufmerksam ist er schließlich auch gegenüber uns unwissendem neuzeitlichem Publikum, dem er nicht ganz uneigennützig erklärt, wie das eigentlich funktioniert mit diesem Lehenswesen – "Da bin ich Schwyzer, da muss ich ganz genau sein!"

KoenigOttokar3 560 Lupi Spuma uWo Macht brüchig wie Holzlatten ist: Peter Fasching und Thomas Frank im Bühnenbild von Dušan David Pařízek © Lupi Spuma

Flankiert werden die beiden Herrscher von einem bunte Wappenpullis tragenden Ensemble an kleineren Fürsten, Burggrafen und Kanzlern, von denen insbesondere der Wiener Bürgermeister hervorzuheben ist (von Rainer Galke bravourös in näselndem Falcowienerisch gespielt), der sich je nach politischer Großwetterlage König oder Kaiser anbiedert. Während er bei seinem ersten Auftritt einen Wien-Schlager nach dem anderen trällert, wird er später auf der "Donauinsel" (es ist die mythische Donau-Insel Kaumberg) FKK baden gehen, so wie das die Wiener auf der Donauinsel eben machen, mit einem ziemlich riesengroßen Umhängdödel aus Stoff, der sich auch sogleich mit Wasser vollsäuft und sorgsam ausgewrungen werden muss.

Festival der Regionalakzente

Der lächerliche Bürgermeister, so plump er daherkommt, ist Teil eines kalkulierten Spiels mit klischeehaften regionalen Zuschreibungen und sprachlichen Färbungen, die so etwas wie "lokale Identität" vermitteln und immer auch als strategisches Machtinstrument eingesetzt werden. Dass diese vielen Dialekte und Akzente manchmal "authentisch" sind (der Schweizer Lukas Holzhausen schweizert als Rudolf von Habsburg, der Tscheche Karel Dobrý spricht Deutsch mit tschechischem Akzent) und manchmal nicht (Anja Herden erklärt freimütig, dass man für das Ungarisch ihrer Kunigunde bloß alles auf der "ährsten Silbe" betonen muss, und dabei eine "Leidenschaft so heiß wie Gulaschsaft" versprühen muss, und Rainer Galke wechselt ohnehin ansatzlos vom Fränkischen ins Schönbrunnerdeutsch) macht die Sache angenehm komplex. Und dass pingelige Besserwisserfürsten die Sprachunschärfen der anderen auch gerne mal ausbessern, sorgt für nette mehrdeutige Witzchen von der Sorte "Alt und furchtbar! – Nein, unfruchtbar!"

Auch wenn sich mit Pařízeks überkandidelt sprachdurchmischtem "Ottokar" schwer nationale Stimmung verbreiten lässt, so verbindet die vielen Stimmen doch eines: Sie alle müssen sich mit Macht arrangieren, sich auf eine Art und Weise zu ihr verhalten, die ihnen sinnstiftend und zugleich profitabel erscheint. In ihren jeweiligen Färbungen sprechen sie alle zur Macht und versuchen immer auch schon, ein Stück von ihr zu erhaschen. Und das tun schließlich auch die Damen auf den Nachbarplätzen, wenn sie ehrfürchtig Grillparzers seltsames Loblied mitrezitieren. Denn: "Da tritt der Österreicher hin vor jeden / denkt sich sein Teil, und lässt die anderen reden."



König Ottokars Glück und Ende
von Franz Grillparzer
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívkova, Licht: Paul Grilj, Dramaturgie: Roland Koberg.
Mit: Gábor Biedermann, Karel Dobrý, Peter Fasching, Thomas Frank, Rainer Galke, Anja Herden, Lukas Holzhausen.
Premiere am 8. Januar 2019
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

Pařízek bürste das österreichische Nationaldrama lustvoll gegen den Strich, so Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (10.1.2019). Auf der kargen Bühne vermieden die Schauspieler "tunlichst den hohen Ton, der Text wird travestiert, geschmiert und gern auch in Dialekte transponiert". "Die mehr als zwei pausenlose Stunden lange Aufführung könnte noch kompakter und schärfer sein, aber so trocken wie Parizek und sein Ensemble muss man dieses Stück erst einmal über die Bühne bringen."

Martin Lhotzky wird in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.1.2019) generell: "Pařízek gilt weniger als Stückezertrümmerer denn als Stückeerklärer, verändert die vorliegenden Texte, egal, ob Romane oder Dramen, dabei erheblich, lässt seine Darsteller mal aus ihren Rollen heraustreten, um sich oder ihr Handeln dem Publikum näher zu erläutern – welche Hilfestellung man selten bis nie braucht, hätte man ohnehin alles selbst erkannt –-, mal untereinander merkwürdige Gespräche führen". So auch hier. "Das war insgesamt wohl irgendwie lustig, aber mit Sicherheit keine Tragödie, nicht einmal ein Drama. Nur Blödelei."

"Trotz einiger Unstimmigkeiten in den Spiel- und Sprechweisen ist dieser Ottokar eine der mutigsten und überzeugendsten Volkstheater-Arbeiten dieser Saison am großen Haus", findet Margarete Affenzeller im Standard (10.1.2019).  Pařízek schrumpfe hier die allergrößte Macht auf einen stets lachenden, unbändig höflichen und gar ein wenig trottelig erscheinenden Menschen im senfgelben Samtanzug. In der Gegenüberstellung von Ottokar und Rudolph beginne die Inszenierung Spannung zu entwickeln und allmählich kenntlich zu werden – "als Spiel mit den trügerischen Kleidern der Macht".

"Dieser Grillparzer ist poesiefrei, laut und grell", schreibt Barbara Petsch in der Presse (10.1.2019). Doch einmal mehr beweise das Volkstheater, dass es das junge Publikum nicht übel zu bedienen weiß, mit Klassikern, die, zur Kenntlichkeit entstellt, Spaß mit Substanz verbreiten. Flott, frech und bildmächtig schlinge Pařízek U- und E-Kultur ineinander, schmeiße Vers und Trash zusammen und übergieße das Ganze mit Theaterblut. "In dieser Aufführung steckt Wahrheit – von gestern und von heute."

Reservierter ist da Uwe Mattheiss in der taz (10.1.2019): Pařízek entmythologisiere Grillparzers Figuren gründlich. "Von allen schulbuchtauglichen Motiven befreit, sind sie träge Getriebene der Geschichte. Nur was die antreibt, bleibt im Dunkeln". Der Rest sei ein Wechselspiel von schönen Lazzi und derben Scherzen, immer etwas lustiger, als sie sein müssten. "Büchners 'Leonce und Lena' winken am Horizont, der Weg allerdings ist weit, verdammt weit."

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