Ich atmete die Asche der Toten

von Sascha Westphal

Dinslaken, 11. Januar 2019. Das Tamburin, das Oskar Schell eigentlich ständig dabei hat, ist nirgends zu sehen und, ein leichtes Aufatmen sei erlaubt, auch nicht zu hören. Mirko Schombert hat in seiner Inszenierung von Jonathan Safran Foers Bestsellerroman auf dieses Accessoire verzichtet und damit schon einmal alles richtig gemacht.

Auch wenn sie weit mehr als nur ihr Vorname verbindet, ist der neunjährige New Yorker Junge kein zweiter Oskar Matzerath. Der US-amerikanische Schriftsteller verbeugt sich zwar vor Günter Grass und dessen unbändiger Fabulierlust. Aber sein Roman ist keine bitterböse Satire, sondern eine melancholische Hommage an all die Menschen, die Opfer von Kriegen und Terroranschlägen geworden sind, und ein hoffnungsvolles Porträt der Überlebenden, die trotz aller Trauer und allen Schmerzes die Kraft finden weiterzumachen. Diese Neigung Foers zu Pathos und Sentimentalität macht "Extrem laut und unglaublich nah" zu einem reizvollen Bühnenstoff. Mirko Schombert kann sogar auf aufwendige Bühnenmaschinerien und exzessiven Technikeinsatz verzichten, um die Welt nach dem 11. September 2001 heraufzubeschwören. Foers spielerische und sachliche Sprache und einfachste Theatermittel reichen aus, um einen in ganz großen Gefühlen schwelgen zu lassen.

Die Welt nach dem Einsturz des World Trade Centers

Seit sein Vater Thomas Schell beim Einsturz des World Trade Centers ums Leben gekommen ist, empfindet Oskar in seinem Innern eine Leere, die sich einfach nicht füllen lässt. Weder seine Mutter noch Großmutter können ihm in seiner Trauer helfen. Erst als er zufällig unter den Sachen seines Vaters einen Umschlag mit einem Schlüssel findet, bekommt sein Leben wieder eine Richtung. Auf dem Umschlag steht noch der Name Black. Also beschließt er, alle in New York lebenden Blacks aufzusuchen, und hofft dabei, etwas über seinen Vater zu erfahren. Parallel zu Oskars Odyssee durch die Five Burroughs von New York, erzählt Mirko Schombert auch noch die Geschichte von Oskars Großeltern, die im Februar 1945 die Bombardierung Dresdens überlebt haben und sich sieben Jahre später in Manhattan wiederbegegnet sind.

ExtremLaut 3 560 MartinBuettner uEin Kind vereint die Menschen nach dem Trauma von New York: Jonathan Safran Foers Erzählung über die Folgen des 11. Septembers auf der von Jörg Zysik gestalteten Bühne © Martin Büttner

Mehr als eine leicht schräge hölzerne Spielfläche und zwei im rechten Winkel angeordnete Holzwände braucht Bühnenbildner Jörg Zysik nicht, um eine aus den Fugen geratene Welt anzudeuten. Alles Weitere ist nur noch eine Frage des Lichts, das manchen Szenen eine geradezu geisterhafte Atmosphäre verleiht und andere in einem magischen Glanz erstrahlen lässt. Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerungen und Phantasien, gleiten ineinander und zeugen so vom zyklischen Charakter des Lebens und der Welt. Als Oskars von Jan Exner gespielter Großvater von der Dresdner Bombennacht erzählt, ist die Bühne in tiefes Dunkel getaucht. Ein einzelner Spot fällt auf Exner, der mit leiser, unendlich trauriger Stimme von den Schrecken der Bombardierung spricht. Sein Bericht kulminiert in dem ebenso poetischen wie erschütternden Bild, dass er die Asche seiner ersten Anna und ihres ungeborenen Kindes eingeatmet hat. Die Toten mögen sich in Luft auflösen, aber sie verschwinden nicht. Fast sechzig Jahre später wird der zugleich von Julia Sylvester, Philip Pelzer und Malte Sachtleben verkörperte Oskar Ground Zero besuchen, um seinen Vater Thomas einzuatmen.

Klug verdichtete Romanadaption

Natürlich muss Mirko Schombert den Roman extrem verdichten und dabei auf viele kleine Details und einige Nebenstränge der Handlung verzichten. Zudem besteht sein Ensemble gerade mal aus zwei Schauspielerinnen und drei Schauspielern. Außer Julia Sylvester, die fast ganz in Weiß durchgehend Oskar spielt, übernehmen alle mindestens zwei oder sogar noch deutlich mehr Rollen. Aber diese Konzentration erweist sich letzten Endes als Gewinn. Sie schärft den Blick für die sichtbaren und unsichtbaren Verbindungslinien, die sich durch Foers Roman ziehen. Sowohl Oskars Mutter Linda als auch seine Großmutter haben ihren Mann verloren, was sie an dem 11. September umso fester zusammenschweißt. Christiane Wilke betont in ihrem Spiel die Nähe dieser beiden Frauen und lässt doch die Unterschiede in ihren Reaktionen durchschimmern. Während sie sich in der Rolle der Mutter in sich zu verkapseln scheint, geht sie als Großmutter aus sich heraus.

ExtremLaut 1 560 MartinBuettner uGrenzenlose Liebe im Angesicht des Verlusts: Christiane Wilke, die Mutter und Großmutter spielt, und Julia Sylvester als neunjähriger Oskar © Martin Büttner

Jeder Blick Christiane Wilkes zeugt von der grenzenlosen Liebe der Großmutter zu Oskar. Seit Thomas' Tod ist er endgültig zum Zentrum ihrer Welt geworden. Und dieses Zentrum erhält durch Julia Sylvester eine ungeheure Strahlkraft. Wenn sie auf eine kindliche Art die anderen um sie herum manipuliert und zugleich mit sich hadert, erfüllt sie Jonathan Safran Foers Vision von einem Jungen, der die Menschen nach einer Katastrophe wieder zusammenbringt, mit Leben. Natürlich ist dieser Oskar ein Konstrukt. Bei Julia Sylvester hat der altkluge Neunjährige, etwas erfrischend Spitzbübisches. Seine Erfindungen und Träume werden durch ihr Spiel zu poetischen Arabesken, die einen direkt ins Herz treffen.

Am Ende des Romans steht eine Reihe von Fotos, die den Lauf der Zeit umkehren. Auf der Bühne spult Julia Sylvester die Ereignisse des 11. Septembers alleine mit Worten zurück. In diesem Moment entwickelt ihre Stimme eine hypnotische Wirkung. Magische Bilder entstehen vor dem inneren Auge des Zuhörers. So wird etwas wieder lebendig, was auf ewig verloren schien. Die Toten sind nicht tot, und die Asche, die Oskar und sein Großvater eingeatmet haben, werden sie immer in sich tragen.

 

Extrem laut und unglaublich nah
nach dem Roman von Jonathan Safran Foer
in einer Fassung von Peter Helling
Regie: Mirko Schombert, Bühne und Kostüme: Jörg Zysik, Musik: Jan Exner, Dramaturgie: Nadja Blank, Regieassistenz: Julia Kempf.
Mit: Julia Sylvester, Philip Pelzer, Malte Sachtleben, Christiane Wilke, Jan Exner.
Premiere am 11. Januar 2019
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause

www.burghofbuehne-dinslaken.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist ein komplexer, mit Themen, Bildern, Zitaten, aber auch psychologischen Allgemeinplätzen fast überfrachteter Text", schreibt Bettina Schack in der Rheinischen Post (14.1.2019). "Mirko Schombert gelang es mit seinem Ensemble, diese Dichte über die gesamte Zeit zu rhythmisieren." Hauptfigur Oskar gelinge es, viele Herzen zu öffnen. "Und dazu gehörten wohl auch die des Premierenpublikums."

 

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