Das Böse herbeifantasieren

von Mirja Gabathuler

Basel, 11. Januar 2019. Pause. Auf der Frauentoilette des Theaters Basel wird Schlange gestanden. Kurz vor Klotür geraten zwei ältere Damen aneinander:

"Verzeihen Sie, aber Sie haben mich überholt."
"Aber ... Was bitte wollen Sie damit sagen?"
"Nichts. Nur, dass ich zuerst dran bin."
Irritierte Stille. Dann Lachen: "Tut mir leid. Ich bin ja bereits paranoid."

"Hexenjagd" heißt das Drama, das an diesem Abend offensichtlich auch in Toiletten-Querelen nachhallt. Arthur Miller hat sein bekanntes und oft aufgeführtes Stück 1953 veröffentlicht. Beschrieben werden darin die Hexenprozesse in der Kleinstadt Salem im Sommer 1692. Gemeint ist auch die Kommunistenverfolgung in der McCarthy-Ära der späten 1940er- und 1950er-Jahre, von der Miller selbst betroffen war.

Wahn und Gewalt

Beschuldigen, denunzieren, das Böse herbeifantasieren: der Eifer, mit dem sich Salem in seine Hexenjagd stürzt, kommt einer Epidemie gleich. An deren Anfang wird eine Gruppe junger Frauen nachts beim nackten Tanzen im Wald erwischt. Um der öffentlichen Scham zu entkommen, behaupten die Jugendlichen, man habe sie verhext. Darauf beginnt in der Stadt eine Masseninquisition nach dem Schneeball-Prinzip: Wer die falschen Bücher liest, gilt bald als vom Teufel besessen. Wer mit jemandem eine Rechnung offen hat, sowieso.

Hexenjagd 3 560 SandraThen uVor dem Gericht: Philip Neuberger, Leonie Merlin Young, Katja Jung, Simon Zagermann, Helmut Berger, Andrea Bettini, Florian von Manteuffel @ Sandra Then

Das Paranoide, Überhitzte und Gewaltbereite dieses Wahns wird an diesem Abend erfahrbar. Das hat viel mit dem konzentrierten, sehr körperlichen Schauspiel zu tun. Bereits in den ersten Szenen entspinnt sich das Psychogramm der Gemeinde Salem, ein Geflecht aus unterdrückten und offenkundigen Idealen, Interessen und Sehnsüchten.

Das Überkommene weglassen

Die kühle und reduzierte Ausstattung gibt dem Geschehen einen, ja, makellosen ästhetischen Rahmen. Das Bühnenbild versetzt einen optisch in die 1950er-Jahre: eine Behördenstube mit grauem Spannteppich, grauen Sesseln und dunklen Holzwänden, an denen ein Zähler hängt. 000, 039, 055 – im Lauf des Abends steigt die Zahl derer, die das Gericht, das hier an langen Tischen tagt, als Hexe oder Hexer verurteilt. Am Ende steht er bei knapp 900.

Ein zweiter Raum über dem Gerichtssaal erinnert an ein Wartezimmer. Dort harren die vier Mädchen aus und starren aus ihrem erhöhten Plexiglaskäfig lustvoll und angespannt auf das Chaos, das sie anrichten. Mit ihren schwarzen Röcken und eigentümlichen Kopfbedeckung wirken sie wie eine Mischung aus Klosterfrauen, Sturmtrupp und Amateurboxer. Wie zwischen gestern und heute aus der Zeit gefallen.

Zwischen gestern und heute: Es scheint das bevorzugte Aufenthaltsgebiet von Robert Icke zu sein. Mit seinen Klassiker-Adaptionen sorgt der 32-jährige Autor und Regisseur in seiner britischen Heimat aktuell für Aufsehen: Indem er alles Unwesentliche und Überkommene weglässt und nach innovativen, zeitgemäßen Dramaturgien sucht. Gerade erst hat er für die "Orestie" in Stuttgart den Kurt-Hübner-Regiepreis erhalten. Nun inszeniert Icke mit "Hexenjagd" zum ersten Mal in der Schweiz. Hat sich das Theater Basel also eine Perle aus dem Pool der internationalen Shootingstars gefischt?

Hexenjagd 2 560 SandraThenReverend John Hale (Thiemo Strutzenberger) und die vermeindlich besessene Abigail (Linda Blümchen)  © Sandra Then

Mit "Hexenjagd" ist Icke auf jeden Fall ein beeindruckender Auftakt gelungen. Zwar fehlen große Überraschungen. Aber Icke beweist ein Auge für starke Bilder und den Mut, Figuren umzudeuten. So tritt etwa John Proctor, die Identifikationsfigur des Miller-Stücks, mit solcher Aggressivität auf, dass alle Sympathien daran abprallen.

Atmosphäre der Überwachung

Oder es tauchen rätselhafte Beobachter, später das Justizpersonal, auf der Bühne auf. Einer gibt als eine Art Spielleiter per Tischmikrophon Regieanweisungen, sagt, wo eine Szene unterbrochen wird, kommentiert ungefragt. Das schafft von Beginn weg eine unbehagliche und gegenwärtige Atmosphäre der Überwachung.

Alles sitzt passgenau in dieser Inszenierung, jedes visuelle und akustische Detail scheint durchdacht, jeder Dialog durchgetaktet. Auch wenn die Zeit sich im zweiten Teil, dem Prozess, auszudehnen scheint – und sich die über drei Stunden dann doch wie über drei Stunden anfühlen.

Es brennt!

Für manchen Geschmack geht der Abend wohl durch dieses absolut Durchgeplante etwas zu glatt über die Bühne. Tatsächlich gleicht die sinnliche Erfahrung eher einer, wie man sie aus dem Kino kennt: Jeder Augenblick des Abends scheint wiederholbar. Das macht das Theatererlebnis nicht weniger bezaubernd, aber vielleicht etwas weniger unmittelbar.

Wären da nicht immer wieder Momente, wie sie wohl nur in der Unmittelbarkeit des Theater möglich sind. So viel sei verraten: Gegen Ende wird Feuer eine Rolle spielen. Es brodelt nicht mehr in Salem, es brennt. Und im Publikumsraum? Wird es einem angesichts des Ideenreichtums dieses Abends warm ums Herz.

 

Hexenjagd
von Arthur Miller
Übersetzung: Annelene Limpach und Dietrich Hilsdorf, Mittarbeit: Alexander F. Hoffmann
Regie: Robert Icke, Dramaturgie: Constanze Kargl, Bühne: Chloe Lamford, Kostüme: Wojciech Dziedzic, Sound: Tom Gibbons, Licht: Tom Visser.
Mit: Urs Peter Halter, Steffi Friis, Yodit Tarikwa, Linda Blümchen, Wanda Winzenried, Kathrin Strömer, Thomas Reisinger, Massiamy Diaby, Leonie Merlin Young, Florian von Manteuffel, Heidi Kriegeskotte, Helmut Berger, Thiemo Strutzenberger, Barbara Horvath, Andrea Bettini, Philip Neuberger, Simon Zagermann, Katja Jung.
Premiere am 11. Januar 2019
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine  Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Robert Icke verzichtet in Basel auf Politisierung, zeigt aber, wie schwer man gerufene Geister wieder los wird", schreibt René Zipperlen in der Badischen Zeitung (13.1.2019). Die Wahrheit, sie bleibe bei Robert Icke so ungreifbar wie im katastrophalen Prozess von Arthur Millers "Hexenjagd". "Klar scheint nur: Wer lange genug von Verschwörungen des Bösen spricht, den suchen sie am Ende heim." Ansonsten zeige sich in gut drei Stunden, dass Millers 60 Jahre alte Sezierung von Heuchelei, Paranoia und falscher Frömmigkeit inzwischen etwas von dem Staub alter Gerichtsfilme habe.

Robert Icke nehme Millers Drama vollkommen wörtlich. "Das Stück von 1953 wurde in den vergangenen Jahren an vielen Häusern gespielt, ist historisches Drama, aber auch Reaktion auf McCarthys aus dem Ruder laufende Kommunistenjagd in den USA. So stellt sich heute die Frage, auf welche historische Schicht eine Aufführung rekurriert", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (14.1.2019). "Icke ist McCarthy wurscht. Er inszeniert mit höchster Präzision ein zeitloses Gerichtsdrama, das lange Zeit in Perfektion und mit großer Spannung wie ein Krimi abläuft." Hier gehe es nicht um einen konzeptuellen Überbau, hier wirke das Spiel für sich. "Und das machen die Darsteller in Basel so gut, dass jede Szene mühelos in diesem Gerichtssaal ablaufen kann, auch die privaten, was dramaturgisch auch äußerst sinnstiftend ist, da bei Miller eigentlich jede Szene eine Verhandlung ist, auch im Privaten", so Tholl und freut sich über "Szenen von einer emotionalen Wahrhaftigkeit, die Millers Parabel als allgemeingültig legitimieren".

"Das hat Sog, Drive und ist ein unaufhaltsames Fallen ganz nach unten, in die tiefste Schicht menschlicher Triebe ," schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (14.1.2019). 18 Darsteller sind auf der Bühne, Welttheater und Globe Theatre ist das – und dann wieder verwandt mit den Gericht-Shows im Fernsehen."

"Icke verzichtet zum Glück bis auf ein paar halbherzige Schlenker auf alle Aktualisierungsversuche," schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.1.2019). "Energisch und immer schön puristisch, wenn nicht puritanisch am Text entlang, entfesselt er in Basel ein Höllenfeuer, an und mit dem man nicht so recht warm werden kann."

Eine "gut gemachte, spannende Inszenierung", sah Andreas Klaeui vom SRF (14.1.2019). "Durchaus effektvoll, aber auch effekthascherisch." Die Basler Schauspieler seien erstklassig, gerade die hysterisierten jungen Frauenfiguren seien sehr eindrücklich. "Insgesamt mutet aber alles ein wenig holzgeschnitzt an." Und weiter: "Icke ersetzt Tiefenschärfe mit viel Gepolter und Geschrei auf der Bühne, unvermittelten lauten Ausbrüchen, die was Angestrengtes haben und den Abend auf Dauer unnötig zäh machen."

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