Wer wandert, muss dem Tod nicht begegnen

von Dorothea Marcus

Frankfurt am Main, 11. Januar 2019. Eine einzige trauernde Mutter muss zu viel ertragen. Deshalb sind es zum Glück auch vier Frauen, die sich die komplexe Hauptfigur Ora aufteilen, um den über 730 Seiten langen, grandiosen, klugen und traurigen Roman des israelischen Schriftstellers David Grossman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt zu erzählen. Vier verschiedene Typen von Frauen (Eva Bühnen, Altine Emini, Christina Geiße, Sarah Grunert) mit Microport, die eine pathetischer, die andere resoluter, die dritte kontrollierter, die vierte mädchenhafter.

Vier Frauen, vier Aspekte einer Figur

Als Gespann widersprechen, streiten, fahren sie sich über den Mund, manchmal aber umarmen, stützen sie sich auch, beratschlagend flüsternd oder nehmen sich schwesterlich den Rucksack ab. Manchmal wirken sie etwas hölzern mit Text-Monologen auf die Bühne gestellt, aber insgesamt fängt diese kluge Lösung der Regisseurin Jessica Glause die psychologische Tiefe des Romans komplex auf. Poetologisch ist sie sogar durch das Buch gedeckt, sagt dort Oras Exmann Ilan doch einmal ganz am Anfang, dass das Aufteilen des Ichs eine gute Strategie sei, um Verletzungen zu vermeiden.

EineFrauFliehtNachricht 3 560 JessicaSchaefer uMutter und Sohn als Gruppenbildnis: mit Christina Geiße, Sarah Grunert, Altine Emini, Eva Bühenen v.: David Campling
© Jessica Schäfer

Dunkelbraun, in Beinahe-Trauer, sind die vier Oras gekleidet – denn noch ist Schwarz nicht angemessen. Auch am Schluss bleibt in der Schwebe, ob Oras Sohn Ofrin im Krieg wirklich umkommt, für den er sich freiwillig gemeldet hat. Oras Wandersachen, Schuhe, Rucksack und Funktionsjacken, sind in trotzig lebenszugewandtem Rot gehalten (Kostüme: Hugo Holger Schneider).

Die vier Oras sind Aspekte einer einzigen starken Frau, sich aus der passiven Opferrolle herausgeholt hat, indem sie mit sich selbst eine irrationale Wette abgeschlossen hat: So lange sie auf Wanderschaft nicht erreichbar ist, so lange sie sich permanent an ihren Sohn erinnert, wird er nicht sterben.

Eine Familie zerbricht am Krieg

Eine abgründige Verzweiflung, aber auch große Menschlichkeit liegen unter Grossmans Meisterwerk von 2009, in dem sich auf furchtbarste Weise Realität und Fiktion kreuzten. Denn David Grossmans jüngster Sohn ist während des Schreibprozesses am letzten Tag des Libanon-Krieges von 2006 wirklich gefallen. Jessica Glause und ihrem Dramaturgen Alexander Leiffheidt gelingt in ihrer Theaterfassung das Kunststück, auf der Bühne diesen psychologisch komplexen Innenraum sichtbar zu machen – und zugleich eine spannende, konkrete Geschichte zu erzählen.

Unerschrocken schälen sie eine ganz eigene Erzählung aus dem riesigen Stoff: Ein großer Akzent liegt auf Avram, dem traumatisierten Kindsvater von Oras Sohn. Matthias Redlhammer spielt ihn als gleichgültig-durchironisierten Ewig-Single. Er, Folteropfer, alte Liebe von Ora, gelangt auf der Wanderung sukzessive ins Leben zurück – und ist zugleich als Sparringpartner auf der Bühne unverzichtbar, damit die vier Oras ihn erzählend anspielen können.

EineFrauFliehtNachricht 2 560 JessicaSchaefer uWanderung weg von der Schreckensnachricht und hinein in die Familienerinnerungen: Altine Emini, Sarah Grunert, Eva Bühnen, Matthias Redlhammer, Christina Geiße © Jessica Schäfer

Nach und nach erst decken sich so erst die Verbindungslinien der Liebeskonstellation auf, erst zum Schluss erkennt man, dass letztlich der Krieg der Auslöser für Entfremdung und Trennung von Oras Familie war. Schön wird gezeigt, wie kriegsbegeistert und abenteuerlustig der testosteronstrotzende Sohn (David Campling) ist, wie sehr ihn das von der Mutter entfremdet – die dennoch nicht anders kann, als ihn zu lieben. Ein unauflösbares Dilemma. Und auch wenn er gehirngewaschen von "Terrornestern" oder rassistisch anonymisiert von "dem Araber" spricht, oder von Sehnsucht nach Panzerduft, so wird er als Figur doch nie denunziert, sondern als Teil der israelischen Spaltung gezeigt.

Wolf und Vegetarier

Auch die Szenografie von Mai Gogishvili bildet die Balance aus Abstraktion und konkreter Erzählebene ab und erzeugt starke Bilder: Ein Sprungbrett ragt einsam hinein als unbehaustes Zeichen der Lebensfragilität, darunter liegen rosafarbene, marmorierte Fleischfladen, der Mensch ist dem Menschen ein Raubtier. Ein nicht auf die Bühne gebrachter Erzählstrang des Romans berichtet etwa davon, wie Sohn Ofer als Kind Vegetarier war. Später, als Soldat, erzählt er beim Steak essen locker davon, wie er einen Palästinenser im Kühlhaus vergaß – der Auslöser des Familienzusammenbruchs. In den erzählerischen Rückblicken verändert sich das Licht, die Gipsfelsen, die die Wanderung markierten, werden wie Schlachtvieh an Haken hochgezogen. Zugleich wirken die Fladen wie tektonisch sich überlappende Landparzellen – der Urknoten des Nahost-Konflikts.

Und auch, wenn aus deutscher Außensicht alles über den Konflikt gewusst scheint, wird an diesem Abend – wie auch im Roman – überzeugend die gesellschaftliche Zerrissenheit Israels von innen heraus erzählt. Wie fließend die Grenzen zwischen Friedensbemühung und Kriegslust, Verteidigungsnot und Rassismus sind, was es bedeutet, wenn sie durch die eigenen Familien verlaufen. Ein kompakter, anrührender Abend über menschliche Widersprüche, von dem auch der Autor selbst angetan scheint: Am Ende kommt David Grossman selbst, an den Proben zum Teil beteiligt war, strahlend auf die Bühne.

Eine Frau flieht vor einer Nachricht
von David Grossmann
Deutsch von Anne Birkenhauer, für die Bühne bearbeitet von Jessica Glause und Alexander Leiffheidt
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Jessica Glause, Bühne: Mai Gogishvili, Kostüme: Hugo Holger Schneider, Musik: Joe Masi.
Mit: Eva Bühnen, Altine Emini, Christina Geiße, Sarah Grunert, Matthias Redlhammer, David Campling.
Premiere am 11. Januar 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

"Wesentliche Eckpunkte" des Romans kämen in der Fassung des Dramaturgen Alexander Leiffheidt und der Regisseurin Jessica Glause zur Geltung, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (14.1.2019). Das theatrale Ergebnis sei "erzählerisch spannend und gelungen"; "zwei Stunden, die das Gesprächsniveau bei politischen Themen deutlich heben können".

"Es macht viel Spaß, den vier beim Nacherzählen des Romans zuzusehen," schreibt Nicolas Freund in der Süddeutsche Zeitung (15.1.2019. "Meist handelt, spricht, erlebt eine der vier – die anderen reagieren, kommentieren oder ignorieren. Das könnte eine sehr komplexe und trotzdem plastische Charakterzeichnung sein, nur wirken die vier untereinander zu austauschbar." Deshalb wisse man "in den Aktionen und Reaktionen nie, wie diese in ein Gesamtbild einzuordnen sind. Das hat den eigenartigen Effekt, dass die Hauptfigur, obwohl sie gleich viermal auf der Bühne steht, nie wirklich anwesend ist. Das Stück wirkt dadurch noch nacherzählter, als es bei Romanadaptionen ohnehin meist der Fall ist."

 

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