Kolumne: Als ob! – Michael Wolf regt Ruhezeiten für Regisseure an
Macht mal Pause!
von Michael Wolf
15. Januar 2019. Oft höre ich, man solle Regisseure nicht mehr als Genies betrachten. Diese Forderung mag berechtigt sein, aber sie geht an den Produktionsbedingungen des Theaters weit vorbei. Nicht wenige Regisseure inszenieren 4 bis 6 Arbeiten im Jahr. Schon aus zeitlichen Gründen müssen die Musen ihnen da unter die Arme greifen. Ohne Hilfe von oben ist so ein Pensum gar nicht zu schaffen.
Ich habe das mal grob durchgerechnet. Eine Spielzeit abzüglich der Sommerpause dauert höchstens 46 Wochen. Üblicherweise kommen Produktionen nach 6 bis 8 Wochen zur Premiere, gehen wir von 6 Wochen aus. Bei 4 Produktion bleiben also gut 5 Wochen pro Inszenierung für alles, was Regisseure sonst noch zu tun haben: Recherche, das Sondieren von Stücken und Romanen, die Sichtung von Filmen für eine etwaige Adaption, die Erstellung einer Spielfassung.
Überfrachtung des Terminplans
Hinzu kommt die Konzeption der verabredeten Arbeit, Besprechungen mit Dramaturgen, Kostüm- und Bühnenbildnern, Bauproben, die Auswahl von Schauspielern undsoweiter. Bei fünf Inszenierungen pro Spielzeit bleiben für all das nur noch drei Wochen. Selbstvermarktung durch Kontakte zur Presse, zu Autoren, Festivals und Intendanzen und weiteres Lobbying in eigener Sache sind da noch gar nicht drin.
Nicht nur Schauspieler arbeiten zu viel, auch eine gewisse Klasse Regisseure müsste dem Burnout nah sein. Persönlich verübeln möchte ich ihnen die Überfrachtung ihres Terminplans nicht. Es sind Künstler, etwas Selbstüberschätzung gehört dazu. Sie wollen ihre Arbeiten zeigen, sie wollen ein Publikum gewinnen, sicher wollen sie auch etwas Geld verdienen.
Zum Beispiel Lastwagenfahrer
Dass sie kaum geeignet für eine Familiengründung oder überhaupt ein Privatleben sein dürften, sei dahingestellt. Es geht mich nichts an, wenn ihre Partner oder Kinder sie nur vom Hörensagen kennen. Aber als Zuschauer fühle ich mich schon hin und wieder allein gelassen. Denn der Verschleiß ist auf der Bühne nicht zu übersehen. Im Fußball verwenden Kommentatoren in diesen Fällen das schöne Adjektiv "überspielt".
Lastwagenfahrer müssen sich an Ruhezeiten halten, in den Intendanzen scheint niemand misstrauisch zu werden, wenn Regisseure eine Produktion nach der anderen auf die Bretter wuchten. Gerade prominente Namen gelten als Versprechen. Man will halt mal wieder diesen oder jenen als Kirsche auf der Torte namens Spielplan haben.
Noch mehr Beispiele
Die Regie vertraut also auf die allgemeine Begeisterung über das eigene Talent und inszeniert irgendwas zusammen, was in drei von vier Fällen durchfällt und rasch vom Spielplan fliegt. Die vierte Produktion sorgt für das Weiterbestehen des Rufs als Wunderkind, woraufhin eine Flut neuer Angebote eingeht. (Beispiel Ersan Mondtag)
Andere Regisseure sparen viel Zeit dadurch, sich kaum noch Gedanken über die einzelnen Stücke, machen zu müssen, inszenieren sie doch ohnehin alles in der gleichen Ästhetik. Ein Aischylos darf bei ihnen im Zweifel genau wie ein Shakespeare oder Ibsen klingen, und gerne auch dieselbe Botschaft verbreiten. (Beispiel Michael Thalheimer)
Im schlimmsten Falle sind die ständig beschäftigten Regisseure auch noch stilprägend geworden. Viele junge Regisseure scheinen ihren Auftrag im Kopieren eines Großmeisters zu sehen. (Beispiel Frank Castorf)
Mehr Vertrauen wagen
Das ist nicht nur furchtbar öde, es hemmt auch die Entwicklung. Unfair wäre es, dem Nachwuchs einen Vorwurf zu machen. Wie soll man sich und seinen Stil etablieren, wenn die große Bühne immer schon von einem erfolgreichen Kollegen besetzt ist? Der Ball liegt bei den Theatern. Sie sollten mehr Vertrauen in unbekannte Namen setzen. Und die Stars hin und wieder auf die Ersatzbank schicken.
Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.
Zuletzt bat Michael Wolf die Theaterschaffenden, doch bitte wieder etwas mehr an die eigene Kunst zu glauben.
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Das Problem liegt natürlich eher auf der Seite der Newcomer*innen. Die produzieren nämlich auch, wenn sie dazu eingeladen werden, gerne bis zu 6 Inszenierungen im Jahr. Da folgt direkt auf den Abschluss die erste szenische Lesung, dann ein thematisches Randprojekt mit 6 Stücken an 6 Tagen, eine Moderation, dann endlich die erste Studiobühne - und am Ende der ersten zwei Jahre sind Ideen und/oder Begeisterung verloren. Und das, wenn es nach allgemeinem Empfinden "gut" läuft. Kein Wunder, dass damit oberflächliche Stile ausgebildet werden - auch weil Theatermachen dann kein leidenschaftlicher Ausnahmezustand mehr ist, sondern eigentlich Routine. Schade drum.
zu #2: ich bin mir relativ sicher, daß die genannten Regisseure, und jene, die meiner Erinnerung nach sonst noch in dieser Statistik weit vorne waren, alle eher nicht aus Geldmangel so viel arbeiten. Sondern weil sie es können / dürfen. Und es sicher viele andere gibt, die nicht allein aus künstlerischer Konsequenz wenige Arbeiten machen.
Was Herr Wolf doch sagt: einige wenige machen viel, das ist teilweise schlecht, weil sie so viel machen. Und es gäbe viele, die gerne mehr machen würden, aber die Plätze sind besetzt.
Man könnte zynisch sagen: Theater ist eh' fast vollständig von der öffentlichen Hand bezahlt, da spielen wirtschaftliche Kriterien keine Rolle; insofern sind vermeintliche Erfolgskriterien oder Besucherzahlen belanglos und man kann einfach schön gleichmäßig alle mal arbeiten lassen. Dann bekommt Herr Mondtag seine Pause, und Frau Dienstag darf auch mal was zeigen.
Dieser Zynismus hat sich aber noch nicht durchgesetzt, es gibt noch Illusionen: gute Kritiken = erfolgreiches Stück; wenige Besucherinnen = schlechtes Stück; viele Besucherinnen = gutes Stück; total wenig Besucherinnen, aber in Berlin = legendäres Stück. Oder eben: erfolgreicher Regisseur = gutes Stück / viele Besucherinnen = wirtschaftlicher und künstlerischer Erfolg für das Theater.
Daß verhältnismäßig wenig Geld im Theater vorhanden ist, hängt vor allem damit zusammen, daß zu wenige Menschen ins Theater gehen (in Deutschland gehen unter 5% der Bevölkerung zwei- oder mehrmal jährlich ins Theater, wozu übrigens auch Karl-May- oder Störtebeker-Festspiele zählen). Dadurch gibt's zuwenig Geld vom Markt, und die Politik muß auch an die übrigen Bürger ein bisschen denken.
Gingen mehr Menschen ins Theater, könnte man besser bezahlen und es gäbe auch Arbeit für die vielen ausgebildeten Theatermacherinnen, die jetzt noch wenig machen dürfen. Und vielleicht wäre da dann auch Kunst dabei. Wer weiß?
Ebenso René Pollesch, der 2013 sogar sechs Inszenierungen stemmte, sich im letzten Jahr allerdings mit nur 3 Inszenierungen eine Pause gönnte. Von Claudia Bauer sind in unserem Lexikon in den letzten beiden Jahren 4 Inszenierungen dokumentiert. Auch Christian Weise, Armin Petras (den "dabeigewesen" schon nannte) sind sehr viel beschäftigt. Das sind nur Beispiele. Mindestens vier Inszenierungen scheinen eher normal zu sein bei durchgesetzten Regisseur/innen. Schauen Sie doch mal in unser Lexikon, da sind die Nachtkritiken archiviert. Und bedenken Sie, dass dort eben nur die Arbeiten stehen, die wir besprochen haben; außerdem kaum Opern)
https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_seoglossary&view=glossaries&catid=78&Itemid=67
@Pensum: Richtig, 22 Wochen. Ich habe aber pro Inszenierung gerechnet, und da komme ich auf 5 1/4 Wochen pro Produktion für alles andere.
Und im Ernst: "Schauen Sie doch mal nach"? Sie stellen eine These auf und ob die stimmt soll man dann selber nachzählen?
Ich will ja übrigens gar nicht widersprechen, Sie haben möglicherweise vollkommen recht mit den Zahlen. Aber ich würde es gerne aus der gefühlten Wahrheit rausholen.
Und das ist bei den Kunst-TheoretikerInnen und KulturjournalistInnen vielleicht auch so?
Danke, lieber Michael Wolf, für diesen Appell! Nachfolgend einige Einlassungen bzw. Ergänzungen aus dem bürgerlichen Regieleben. Zur Einordnung: Ich bin 33 Jahre alt, inszeniere seit 14 Jahren Theaterstücke und werde seit 8 Jahren dafür bezahlt.
#pensum
6 oder mehr Inszenierungen pro Jahr sind nach meiner Erfahrung nicht zwangsläufig eine Frage der Genialität sondern des eigenen Verhältnisses zum Umfeld.
So kann man etwa einen autoritären Nimbus des Genialen um sich her erschaffen, wodurch sich gegebenenfalls viel Zeit einsparen lässt. Ich weiß beispielsweise von Kolleg*innen aus der A-Liga, die sich ihre Romanadaption komplett von der Dramaturgie schreiben lassen, die Fassung dann auf der K-Probe zum ersten Mal lesen, für schlecht befinden, bei der Dramaturgie eine neue bestellen und nochmal ne Woche die Füße hochlegen. Dass am Ende der Lappen auch nach 5 Wochen Probenzeit und de facto unvorbereiteter Regie doch noch hochgeht, ist häufig nicht zuletzt der Ultra-Hochleistungsmaschinerie Stadttheater zu verdanken – welche zuletzt im Zuge des Wechsels Castorf-Dercon von vielen so fetischisierend besungen wurde – und die im sektschwangeren Post-Premierentaumel des „Ham-wers-mal-wieder-jeschafft-wa?“ regelmäßig den unsäglichen Verschleiß an Menschen ersäuft.
#geld
Kolleg*innen wie die oben genannten verdienen dann auch gerne mal 75.000 € pro Inszenierung. In diesem Fall nicht 4 bis 6 Inszenierungen pro Jahr zu machen wäre natürlich purer Verrat an der eigenen inneren Ökonomin.
Hat man jenen Luxus nicht – also aufgrund des eigenen Nimbus z.B. unvorbereitet in eine Probenzeit gehen zu können – verhält es sich aufwandsmäßig schon eher, wie der Kollege Wolf es auflistet. Allerdings bedeutet fehlender Nimbus auch fehlendes Geld.
Ich bin die ersten Jahre meines entlohnten Schaffens auf eine Durchschnittsgage von 7.000 € brutto pro Inszenierung gekommen – und davon ist die Unterkunft in der jeweiligen Stadt noch nicht bezahlt. Es gibt Stadttheater in Städten mit 250.000 Einwohnern (also etwa C-Liga), die einer Regisseurin mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium für eine Inszenierung in einem Saal mit immerhin 250 Plätzen 5.000 € brutto anbieten. Diese Summe wird weiter unten in einen Kontext gesetzt.
Ach ja – „Extrahonorar“ für Fassungen (wenn überhaupt, dann bei Romanadaptionen) wird auch nur bezahlt, wenn nicht die Rechte für die Übersetzung bereits den Großteil des Budgets auffressen.
Um in so einer Honorar-Klasse überhaupt überleben zu können, muss man zwangsläufig alles annehmen, was einem angeboten wird, und kommt auch so auf die erwähnten 4 bis 6 (oder mehr) Inszenierungen pro Jahr – allerdings ohne Füße hochlegen.
Das Regie-Netzwerk hat sich Mitte letzten Jahres mal konkret mit den Zahlen beschäftigt:
Demnach beträgt der Arbeitsaufwand einer Inszenierung absolut etwa 12 bis 19 Wochen. Gehen wir durchschnittlich von 3 Monaten aus – ohne die Zeit, die man damit verbringt, aus den Früchten der eigenen Arbeit das Vitamin B auszupressen. Bei einem Bruttohonorar von 5.000 € pro Monat – bei drei Inszenierungen im Jahr – ist man im Vergleich zu Menschen im Angestelltenverhältnis auf dem Level von Berufseinsteiger*innen im öffentlichen Dienst. Das wären also 15.000 € pro Inszenierung und demnach ein Jahresumsatz von 45.000 € brutto. Wie gesagt, da gehen noch Kosten für Unterkunft, Fahrten, etc. ab.
Das wäre ein Mindesthonorar, mit dem man zumindest überleben, eine Perspektive entwickeln und gegebenenfalls eine Familie gründen (ich sage nicht „versorgen“) könnte. Erinnern wir uns nochmal an die 5.000 € brutto PRO INSZENIERUNG.
#leben
Ein Widerspruch zum Kollegen Wolf: Ich halte das Narrativ der Unvereinbarkeit von Theatermachen und Privatleben für äußerst gefährlich. Das spielt – wie Vincent Vega sagen würde – im gleichen Stadion wie das Narrativ vom „einsamen Regie-Genie-Wolf“, vom „Theater ist kein Ponyhof und das isso“ (M. Laages), vom „Kunst = Leiden x noch mehr Leiden“ und wie überhaupt all die Klischees und Stereotype und „Theaterfolklore“ (ensemble-netzwerk) die dafür sorgen, dass die Verhältnisse größtenteils bleiben wie sie sind. Weil am Ende des Tages bestimmt jemand daherkommt und sagt: „Du hast Dir das doch ausgesucht. Du hast gewusst, was auf Dich zukommt. Jetzt beschwer Dich mal nicht.“
Ich stimme Ihnen, lieber Michael Wolf, absolut darin zu, dass der Ball bei den Häusern liegt. Es gibt – und da nähert sich das deutsche Stadttheater mal wieder asymptotisch seinem Lieblings-Antagonisten, dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, an – ein waschechtes Verteilungsproblem – strukturell und monetär. Und da spreche ich noch nicht mal vom Unterschied Männer/Frauen – die grausligen Anekdoten aus diesem Bereich würden eine feministische Kolumne auf nachtkritik über Monate mit Texten versorgen.
Der Burnout, von dem Sie schreiben, steht nicht nur bei „einer gewissen Klasse“ von Regisseur*innen vor der Tür, sondern wenn überhaupt bei beiden – der Ober- und der Unterschicht – lediglich unter verschiedenen Vorzeichen.
(Nebenbei bemerkt verfallen ja auch die Theaterhäuser als Ganze mehr und mehr einem institutionellen Burnout – Lösungsansätze gibt allerdings – das ensemble-netzwerk listet sie seit Jahren auf.)
Aber wie sagte ein bekannter, mächtiger Intendant bei einem Regie-Netzwerk-Treffen: „Die jungen Regisseure sind aber auch selbst schuld – die kommen dann da an bei mir und wollen immer alles gleich und sofort und groß. Und dann beschweren sie sich, wenn sie das nicht kriegen.“
Ich kann das gut verstehen. Auf der Hochschule wird man bereits darauf getrimmt, dass das Haifischbecken des Regie-Studiengangs sich mit Eintritt in den Beruf in ein bundesweites „Sharknado – Jetzt mit noch mehr Biss!“ verwandelt. Ich glaube mittlerweile, dass die Angst der erste Schritt des Größenwahns ist. #macbeth
Das alles ist unglaublich schade, denn der Regie-Beruf ist einer der tollsten, die es gibt. Und damit er das bleiben kann, damit die Verlogenheit bei den Gagenverhandlungen aufhört, damit die strukturellen und monetären Verteilungsdefizite verschwinden, braucht es u.a. – wie es France-Elena Damian im letzten nachtkritik-Podcast so schön formulierte – „kollegial-kollektive Leitungen“.
Bei einer durchschnittlichen Probenzeit von 6 Wochen und einer dazugehörigen Vorbereitungszeit von durchschnittlich 6 Wochen sind 4 Inszenierungen pro Spielzeit ohne Überschneidungen möglich (plus 4 Wochen Urlaub).
In der vom regie-netzwerk im letzten Jahr erhobenen Umfrage zur Arbeitsrealität von Regisseur*innen mit über 500 Teilnehmer*innen, wurde deutlich, dass insgesamt die durchschnittliche Produktionsanzahl bei 3 Inszenierungen pro Spielzeit liegt. In der Breite bedeutet dies, dass Überarbeitung nur bei einem bestimmten Prozentsatz vorkommt, genauer gesagt, gaben nur 15% an, gerne weniger arbeiten zu wollen.
Die Gründe für Überarbeitung leiten sich häufig aus gesteigerter Nachfrage ab, sowie aus dem daraus resultierenden Leistungsdruck. Als Soloselbständige sind Regisseur*innen darauf angewiesen, an möglichst vielen Häusern künstlerisch in Erscheinung zu treten um zukünftige Aufträge zu sichern, da nicht absehbar ist, wie lange eine “Erfolgssträhne“ andauern kann. Nur in wenigen prominenten Fällen verlaufen Karrieren kontinuierlich.
In der Umfrage wurde ebenfalls deutlich, dass sich 93% der Befragten längerfristige Arbeitsverbindungen mit Theater wünschen. Dies hat mit Planungssicherheit und Vertrauensbildung zu tun.
Hier liegt die Verantwortung in den Händen der Theaterleitungen, nicht nur eine bestimmte Gruppe von Talenten herumzureichen, sondern den Horizont zu erweitern und vielfältige künstlerische Handschriften zu zeigen, ungeachtet des Bekanntheitsgrades. Auch muss die Dauer der Zusammenarbeit Sicherheit vermitteln und Perspektiven eröffnen, um nicht einzelnen Produktionen den Druck aufzuerlegen, erfolgreich sein zu müssen.
Bestmögliche künstlerische Ergebnisse können nur dann entstehen, wenn Erfolg und Lebensunterhalt keine negativen Einfluss auf die kreativen Arbeitsprozesse von Regisseur*innen haben.
Jakob Weiss / regie-netzwerk
1) Gibt es aus Ihrer Erfahrung oder vielleicht auch nur vom Hörensagen über Kontakte zur freien (Theater-)Szene heraus Fälle, in denen bekannt wurde, dass auch ein freier Regisseur auf Kosten (psychisch und materiell) von anderen Theatermitarbeitern inklusive des Foyers handelte?
2) Wie stehen Sie zu den von Ihnen innerbetrieblich aufgeworfenen Fragen gesamtgesellschaftlich? Ich möchte hier nicht spalten, frage mich aber doch, ob 45.000 € brutto pro Jahr zum "Überleben" nicht vielleicht doch ein bisschen komisch formuliert ist.
ich verstehe Frage 1 leider nicht. Könnten Sie die vielleicht noch mal anders formulieren?
Zu 2:
45.000 € bezeichnen – wie gesagt – den Jahresumsatz, von dem noch Steuern, Sozialversicherungsbeiträge, Kosten für Reisen, Unterkunft, Material, etc. abgehen. Freundlich gerechnet würde man bei etwa 30.000 € Gewinn landen, was in etwa dem Einstiegsgehalt von Grundschullehrer*innen (Steuerklasse I) in Berlin entspricht.
Ich gebe zu, dass in meinem entsprechenden Satz oben das Wort "Leben" besser gepasst hätte als "Überleben". Von 5.000 € pro Inszenierung kann man nicht über-leben, es sei denn man macht eben 6 oder mehr Inszenierungen im Jahr. 15.000 € pro Inszenierung wäre eine Gage, von der man anständig leben kann – das versuchte ich mit den Zusätzen "Perspektive entwickeln" und "Familie gründen" auszudrücken.
Ich kann und möchte mich an dieser Stelle allerdings nicht auf eine gesamtgesellschaftliche Debatte einlassen, obwohl ich glaube, dass wir grundsätzlich dieselbe Haltung haben.
Natürlich sind 2.500 € netto Monatslohn etwas, wovon andere Berufsgruppen oder Menschen, die in abartigen Verhältnissen wie Leiharbeit oder Sub-Sub-Sub-Sub-Unternehmen stecken, nur träumen können.
Ich finde allerdings nicht – und da bin ich ganz ehrlich – dass es für den Regie-Beruf mit all seinen Anforderungen (meist nach abgeschlossener akademischer Ausbildung oder jahrelangem Assistieren oder beidem) zu viel ist. Das ist nämlich leider auch ein "Argument", dass von Theaterleitungen gerne in Gesprächen verwendet wird, um eine sachliche Gagenverhandlung auf ein emotionales Level herunter zu ziehen.
Wenn Sie da allerdings eine grundsätzlich andere Meinung haben, freue ich mich, sie zu lesen!
Meine erste Frage war tatsächlich etwas sibyllinisch formuliert. Ich wollte einfach nur gern wissen, ob es denn diese aufgrund der Gagenhöhe bedingten Macht- und/oder Ausbeutungsstrukturen an den Stadttheatern (Sie beschrieben hier Castorf genauer) Ihrer Erfahrung nach auch in der freien Szene gibt oder nicht. Denn freie Szene heisst ja noch lange nicht "frei von narzisstischen und/oder abgründigen Persönlichkeiten".
Pauschal zu sagen, dass 2.500 € für ein "gutes" Leben reichen, finde ich etwas zu kurz gedacht. Für mich würden sie reichen – so ich sie hätte – und für Sie, Inga, offensichtlich auch. Für eine Familie mit 2 Kindern, wo ein Elternteil z.B. nicht arbeiten kann oder in einem noch prekäreren Arbeitsverhältnis steckt, sieht's da schon anders aus. Deshalb auch keine Debatte und das Ende dieser Gesprächslinie meinerseits an dieser Stelle, weil die Frage, was ein angemessenes Einkommen zum Leben in einem der reichsten Länder deer Welt ist, mir zu komplex und mehrdimensional für's nk-Forum scheint. Mir geht es aktuell um die Situation meiner Berufsgruppe, die ich nach Kräften verbessern möchte.
2)
Ich bin (wie alle von PRINZIP GONZO) ein Zwitterwesen im Spagat zwischen Freier Szene und Stadttheater und kann lediglich aus meiner persönlichen Erfahrung berichten.
Aus meiner Sicht ist die Selbstausbeutung in der Freien Szene ein reales Problem, wobei ich gleichzeitg die pauschalen und verkürzten Vorwürfe eines Bernd Stegemann zur Freien Szene als eigentlicher Apologetin des Neoliberalismus entschieden zurückweise.
Da aber die Freie Szene (zumeist) eben kollegial-kollektiv organisiert ist, gibt es (nach meiner bisherigen Erfahrung) weniger Machtmissbrauch gegenüber anderen Menschen. Flache bzw. horizontale Hierarchien, transparent strukturierte Projektentwicklungen, gemeinsame Visionen, starke Vernetzung – all das führt zu eben der Arbeitsweise, welche die Freie Theaterszene ausmacht und mit der viele Theater aufgrund verkrusteter Strukturen und eines nahezu pathologischen Konservatismus der Arbeitszusammenhänge nur schwer zurecht kommen.
Glauben Sie mir – wir (PRINZIP GONZO ebenso wie andere Gruppen) versuchen aktiv, etwas von den Arbeitsweisen der kollektiven Arbeit in die Häuser zu tragen (u.a. ist der Fonds Doppelpass der KSB ist hierfür sehr nützlich) – auch damit dort ein anderer Spirit Einzug erhält und solche Debatten wie um Hartmann/Laages/Isso nicht mehr geführt werden müssen.
Ich empfehle hierzu die sehr schöne Rede der tollen Kollegin Janina Benduski (Vorsitzende des LAFT Berlin) anlässlich der 3. Bundesweiten Ensemble-Versammlung in Bochum 2018:
https://www.youtube.com/watch?v=dMJQmdZFnZ0
Ich weiß nicht, ob es sinnfällig ist, auszurechnen, wo nun mehr "narzisstische und/oder abgründige Persönlichkeiten" rumlaufen. Ich halte ohnehin die gegenseitigen Vorbehalte für absolut überwindenswert. Aber die Freie Szene erhält sichtbar, erfolgreich und mit unglaublichem künstlerischen Output aufrecht, was Theaterleitungen, Journalist*innen und natürlich die "alten Meister" von Peymann bis Castorf für die Schaffensprozesse vehement ablehnen: "Theater als Erfahrungsräume der Demokratie" (Harald Wolff, Vorstandsmitglied d. Dramaturgischen Gesellschaft).
Und Sie glauben wirklich, dass sich das alles so einfach über einen Kamm scheren lässt? So eine Art Kunstsozialismus, am besten noch mit einem 5-Jahres-Plan?
Was ist mit den Kollegen, die sich für jede Arbeit die Mühe machen, sie individuell zu betrachten (Zugegeben: Nicht besonders verbreitet)? Die vielleicht einfach auch sehr klar und gut organisiert und vorbereitet sind (Zugegeben: Auch nicht besonders verbreitet)? Die eine Arbeitshaltung haben, die seriös und ehrbar und mit absoluter Leidenschaft der Kunst dient (...)? Oder die, obwohl freie Künstler, sich den Luxus einer Familie leisten?
Es wir hier so getan, als ob die Arbeitszeiten pro Produktion linear verliefen und nicht überlappensfähig wären - aber das ist leider völlig naiv und falsch. Es arbeiten auch nicht alle KollegInnen nach dem gleichen Schema an ihren Produktionen. Da gibt es zum Glück sehr viele verschiedene Möglichkeiten. Fünf Arbeiten pro Jahr sind überhaupt kein Problem, da bleibt noch genug Freizeit oder Erholung, für die, die es brauchen.
Diese ganze Regulierungswut, u.a. auch durch die sich bildenenden Netzwerke, kann einem ganz schön auf den Nerv gehen. Apropos... Der von Tim Tonndorf zitierte Satz: „Die jungen Regisseure sind aber auch selbst schuld – die kommen dann da an bei mir und wollen immer alles gleich und sofort und groß. Und dann beschweren sie sich, wenn sie das nicht kriegen.“ sollte in diesem Zusammenhang zwar die jungen KollegInnen zur Bescheidenheit mahnen, und war im oben genannten Kontext aber leider ziemlich selbstgefällig, i.e. "Macht erst mal weniger Kunst und fordert nicht so viel, dann habe auch ich (also alle Theaterleitungen) nicht so viel Stress mit Euch.". Da ging es aber vor allem um die (leidige) Angstdiskussion im Theater, das würde hier etwas zu weit führen... (Außerdem gab es da ja eine Schweigevereinbarung zum Netzwerk-Treffen, oder?)
Ich werde mich jedenfalls nirgendwo verpflichten, weniger zu arbeiten. Am Ende verhungert mir noch, ganz wie in früheren Zeiten, als 'Armer Künstler', meine Familie...
wahrscheinlich bin ich einer der angesprochenen Vielarbeiter, ich weiß es nicht, ich kenne den legendären Deutsche-Bühne-Artikel auch nur vom Hörensagen. Ich habe sehr lange nicht mehr an dieser Stelle gelesen oder gepostet, weil immer alles gleich von denselben Nasen auseinandergenommen wird, aber hier muss jetzt wohl mal etwas klargestellt werden. Wieviel ein*e Regisseur*in im Jahr arbeitet, und wieviel Gage sie/er dabei verdient, geht wohl niemanden etwas an außer den beiden Vertragspartnern – Theatern und Regieschaffenden. Trotzdem diese Bemerkung: Die Regiegagen sind seit Jahren im freien Fall, weil die Theater rigoros sparen müssen und Kolleg*innen in Verhandlungen immer schneller einknicken. Das nennt man wohl "die Gagen drücken". Theaterarbeit und Familie sind für Regieschaffende sehr wohl gut vereinbar, wenn man sich entsprechend gut organisiert. Aber vier Arbeiten pro Spielzeit sind bei den aktuellen Gagen das Mindeste, um eine Familie über die Runden zu bringen. Tendenz steigend. Und die Arbeitsbeziehungen sind labil, brechen schnell weg, so dass der Job immer ein Tanz am Rand der privaten Insolvenz ist. Wer heute angesagt ist, bekommt zwei Spielzeiten später möglicherweise keine Angebote mehr. Da heißt es Zeiten der Konjunktur ausnutzen und finanzielle Polster anlegen, wo es irgend geht – und das geht eigentlich fast gar nicht mehr, die aggressive Verhandlungsstrategie der Intendant*innen zwingt die Regisseur*innen, ständig von der Hand in den Mund zu leben, wenn sie weiter engagiert werden wollen. Deshalb ist das Letzte, was man hier gebrauchen kann, eine Diskussion über die Arbeitsfrequenz von Regisseur*innen. Und an zweiter Stelle der Dinge, die wir nicht gebrauchen können, wäre da eine bürokratisch penible öffentliche Auflistung von Arbeitszeiten, da freut sich das örtliche Finazamt schon, dass die Hälfte der Einkünfte demnächst der 19-prozentigen Umsatzsteuer unterworfen werden kann. Selber schuld, Regienetzwerk.
Und wenn im Theater Intendanten und Politik sicherlich ihre Rolle spielen sind doch aber AUCH die Etablierten aktiver Teil dieses Systems der fallenden Gagen. Wer sich aus dem Sumpf gearbeitet hat (oder vielleicht nie drin war) greift zu. Vielleicht um die verlorenen Jahre wett zu machen, vielleicht um international zu wachsen etc. Dann bleibt am anderen Ende wieder nichts.
Ich gönne jedem die Verwirklichung der eigenen Entwürfe.
So eine Debatte geht doch aber um Bewusstwerdung. Es sollte im Interesse aller sein den Markt zu stabilisieren. Der Gedankenaustausch darüber sollte möglich sein ohne dass jemand sozialistische Fantasien bemüht.