Im Wellness-Modus

von Elena Philipp

Berlin, 17. Januar 2019. Sanfte Stimmen aus dem Off weisen uns den Weg durchs Portal. Vom Parkett auf die Bühne, den heiligen Ort des Theaters. "Experiences, experiences" versprechen die körperlosen Stimmen oder die stimmlosen Körper von neun Performer*innen – in solch gedämpfter Tonlage und von säuselnder Muzak untermalt, dass man die Offerte kaum mitbekommt. Jahrmarkt war gestern. Heute lockt eine supersofte Wellness-Welt, in der die hyperherzlichen Hosts meditativ bis stoned lächeln und alle ganz, ganz freundlich sind. Eigentlicher Kontakt ist aber unterbunden. Willkommen in der Zukunft! Entworfen von der Regisseurin Susanne Kennedy und dem Bildenden Künstler Markus Selg. Für die Berliner Volksbühne.

Eklektizismus rules!

"Coming Society" könnte man als eine Fortschreibung von Kennedys Women in Trouble sehen: Blickte man dort als Zuschauer*in von Außen auf das Rotieren ringförmig angeordneter Räume und sah den Darstellern auf der Drehbühne mit Distanz dabei zu, wie sie einen Lebens-Loop vollendeten, so ist man in "Coming Society" Teil der performativen Installation. Aufgelöst sind die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Theater, Bildender Kunst und Performance. Schamanismus, Religion und Ritual feiern fröhliche Urstände oder vielmehr die innere Transformation, herbeizitiert wird Nietzsche: "O Mensch! Gib acht!" beschwören die starräugig umherwandernden Performer*innen in hohem Ton die Tiefe, bevor sie in stupidem Werbesprech ihre einzigartigen Qualitäten anpreisen. Doch eine via Technik übergeordnete Instanz schenkt ihren Worten keinen Glauben: die Regie, ihr Über-Ich oder ein ferner, toter Gott? Aus Frank Willens' halsbandartigem Lautsprecher, dem er in tonlosem Playback gehorcht, dringt für einen Moment verächtliches Gelächter.

Coming Society9 560 Julian Roeder uToter Gott, wo bist du?  © Julian Röder

Wer treibt hier welches Spiel mit wem? "Coming Society“ verwirrt die Sinne, lähmt die Lust auf Interpretation, lullt ein – mit indirekter Beleuchtung, der andauernden Drehbewegung der Bühne, dem monotonen Modulieren der dezenten Sprecherstimmen. Frei bewegen dürfen wir uns in dem Instagram-optimierten Bühnenraum und stromern doch nur ziellos umher zwischen den mit psychedelisch-selbstähnlichen Mustern verzierten Kuben und Pyramiden. Als "Stationen" versprechen sie "narrative Ekstase" – und bieten doch nur statische Bewegtbilder: Thomas Wodianka und Bianca van der Schoot stellen ihre fleischlichen Hüllen für einen stereotypen Beziehungs-Horror-Dialog zur Verfügung. Kate Strong, gewandet in eine kunststoffrote Priesterkutte (Kostüm: Andra Dumitrascu), wiegt sich tranceartig zur Musik. Ihre "Mother Station" ist bemalt mit einer Frauenfigur, deren Mumienkopf an ägyptische Sarkophage denken lässt, die Körper- und Handhaltung an die Venus von Botticelli oder ein Klimt-Gemälde vor Dalí-Hintergrund. Eklektizismus rules! Alte, sterbende Welt

Markus Selgs Oberflächen zeigen fraktale Geometrien, Organisches wie Knochen oder Zellhaufen, Artefakte untergegangener Zivilisationen. Gefräßig sich die unterschiedlichsten visuellen Zeichen und Assoziationen einverleibend, wirkt "Coming Society" wie eine Maschine zur Generierung von Bedeutung. Oder zur Suggestion derselben? Gepredigt wird, neben nietzscheanisch Übermenschlichem, das Loslassen aller Anhaftungen wie im Buddhismus. Ein Fitness-Yoga-Spiritualismus durchwabert den Raum. Ixchel Mendoza Hernandez hingegen verkörpert christlich Konnotiertes: liegt in der "Inkubations-Station" auf einer kreuzförmigen Liege, die Massagebank oder Folterinstrument sein könnte; bekommt von Jone San Martin und Bianca van der Schoot die Füße gewaschen; und wird schließlich wie in einer Marienprozession über die Bühne getragen.

Coming Society4 560 Julian Roeder uIn der Inkubationsstation: Ixchel Mendoza Hernandez  © Julian Röder

Hinzuleiten scheint diese spirituelle Séance auf ein Akzeptieren menschlicher Endlichkeit: "You are born to die", wird mantraartig verkündet. Schwer geht der Atem der Performer*innen, wie tot liegt Ingmar Thilo hingestreckt. "The old world is dying, and the new world struggles to be born", raunen die Stimmen aus den Boxen. Die von Selg ins seine optischen Delirien einkopierte Darstellung eines Maya-Menschenopfers drängt in die Wahrnehmung. Werden wir hier freundlich auf unseren Untergang vorbereitet? O Mensch! Aber nein, das kann nicht das Ende sein, versprach doch der parkettseitige Prolog, dass, wann immer im folgenden Spiel, also der Aufführung, ein Avatar stürbe, man einen neuen bekäme und das Spiel unendlich weiterginge. Was denn jetzt?

Gedimmtes Licht deutet das Ende unserer ganzkörpersinnlichen Erfahrung an. Interpretativ ist da noch nicht mal ein Anfang in Sicht, auch wenn der Text verspricht: "This will all make sense. Don't give up yet." Also nochmal nachdenken, Optionen durchspielen. Will die Inszenierung vermitteln, dass unser Leben nur eine Simulation ist? Glauben die Macher*innen an die Wiedergeburt? Kritisiert "Coming Society" unsere Passivität, eine komfortzentrierte Lebensweise, die, von kommenden Katastrophen unbelangt, im Wellness-Modus dem Untergang entgegen taumelt? Oder kapituliert diese Show vor der Komplexität: "What if we actually have to do nothing: just go deeper, wait?" Kognitiv keine Ahnung. Gefühlt aber lautet die Botschaft: Heil dem Hedonismus.

 

Coming Society
von Susanne Kennedy und Markus Selg
Regie, Text, Konzept: Susanne Kennedy, Bühne und Konzept: Markus Selg, Künstlerische Mitarbeit: Bianca van der Schoot, Suzan Boogaerdt, Sounddesign, Stimmen und Musik: Richard Janssen, Kostüme: Andra Dumitrascu, Licht: Rainer Casper, Video: Rodrik Biersteker, Dramaturgie: Alan Twitchell, Künstlerische Produzentin: Sabrina Schmidt.
Mit: Suzan Boogaerdt, Ixchel Mendoza Hernandez, Jone San Martin, Dieter Rita Scholl, Kate Strong, Bianca van der Schoot, Ingmar Thilo, Frank Willens, Thomas Wodianka.
Premiere am 17. Januar 2019.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

https://www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

"Selten sei man so unbeteiligt durch ein Theater-Gesamtkunstwerk gewandelt, "selten so unberührt geblieben, mental wie körperlich," so André Mumot in der Sendung "Fazit" vom Deutschlandfunk Kultur (17.1.2019). "Lang wird die Zeit, in der so wenig passiert und natürlich genau damit kokettiert wird. Wenn wir keine Menschen mehr sind, müssen wir auch nicht mehr unterhalten und auch nicht mehr intellektuell angeregt werden, dieser Zielpunkt der 'Coming Society' ist aber – zum Glück – noch nicht erreicht. Deshalb wird man auch nicht aufgesogen und auch nicht ausgespuckt von dieser vom Leben abgekehrten tristen Performance."

"Das Theaterhaus geht nach dem Scheitern Dercons durch eine Existenzkrise, aber Kennedy arbeitet bruchlos weiter an ihren kreischig-soften esoterischen Wohlfühl-Dystopien, in denen antriebslose, nicht besonders ruckelfrei programmierte Cyborgs ihre Tage mit dem Herunterbeten von neoreligiösen Mantras und dilemmatisch abgenudelten Floskeldialogen verbringen," schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (19.1.2019) "Sehr traurig, zu sanft und sediert für jegliche Hoffnung auf Entwicklung, aber eben auch sehr bunt und auf geradezu aggressive Weise schmerz- und konfliktfrei." Doch nichts spricht für diesen Kritiker dagegen, "diesen gut einstündigen Aufenthalt als kurzen süßen meditativen Wellnessurlaub zu nehmen, ohne sich am Inhalt groß stören zu müssen."

"Eine optische Reizüberflutung, gemischt aus alter Kulturwelt und Science-Fiction" gibt Barbara Behrendt in der taz (19.1.2019) zu Protokoll. "Dazu dreht sich die Bühne langsam und konstant – das erzeugt einen leichten Schwindel und verstärkt das Gefühl einer Reise durch Raum und Zeit." Sonst geschehe nicht viel. "Die Schauspieler tragen diesmal keine Masken, wirken aber dennoch roboterhaft, unmenschlich, kalt." Erst gegen Ende komme mehr Bewegung in die Spieler, "Füße werden gesalbt, Avatare von der „Inkuba­tions­station“ bedeutungsschwer ins nächste Leben getragen."

"Kennedy und Selg präsentieren ein begehbares Passagenwerk, das nicht wirklich überzeugen kann," schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.1.2019) "Aber ihren künstlerischen Drang zum Gegenwirklichen, zur spirituell-surrealen Erfahrung nimmt man durchaus beeindruckt zur Kenntnis. Er fügt sich ein in die immer stärker werdende Strömung der 'Esokunst', hat aber mit interaktiven Saunabesuchen auf Kunstfestivals nichts zu tun. Ihr Anspruch ist ernsthaft. Aber der inhaltliche Ausdruck bleibt zu schwach, zu sehr hinter der anmutigen Aura der Avatare verborgen. Man verlässt diese künstliche Gegenwelt ohne ein Gefühl von Existenz. Und mit dem Eindruck, dass Transmedialität eben noch nicht Transzendenz bedeutet."

Auch "vergleichsweise überschaubare Spannen können sich anfühlen wie eine Ewigkeit. Vor allem, wenn man auf einen Plapper-Parcours ohne Ziel geschickt wird", klagt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (online 19.1.2019). Der Abend mute wie ein "Selbstgespräch“ an. "Bedeutungsschwere Sätze werden in diese theatrale Wellness-Landschaft für Existenzialismus-Touristen geblasen", heißt es. "Ein Mitteilungsbedürfnis hat 'Coming Society' nicht. Um welche künftige Gemeinschaft es hier gehen soll, bleibt Kennedys Geheimnis."

Anna Fastabend von der Süddeutschen Zeitung (23.1.2018) erlebte "die totale Reizüberflutung, ein visuelles Happening". Die artifizielle Landschaft von Markus Selg sehe aus wie ein real gewordenes Computerspiel und tauge tatsächlich dazu, Raum und Zeit vergessen zu lassen. Aber: "Wenn die Darsteller dann aber wie dienstleistungsbereite Roboter Waldspaziergänge oder Restauranttouren anbieten oder über Coaching und Koffeinverzicht sprechen, gehen sie einem gehörig auf die Nerven."

 

 

Kommentare  
Coming Society, Berlin: zielloses Umherirren
Mehr noch als bei früheren Arbeiten geht es Susanne Kennedy hier, um das, was sie unter Totaltheater versteht: eine physische wie spirituelle Erfahrung jenseits des Verstehens, man könnte es auch mit einem Modebegriff Immersion nennen. Der Zuschauer wird zum Subjekt, zum Erfahrenden, Erlebenden (sich?) Verändernden. Der Ritus gilt ihm, uns, die Heilung, die Reinigung, die Transformation. Doch hier liegt an diesem kaum 80-minütigen Abend die größte Erwartungsenttäuschung: Die Grundaussage von Coming Society, den Zuschauer zum Spieler zu machen, bleibt unerfüllt. Er bleibt Zuschauer, mehr noch als bei anderen, klassische Zuschauerraum und Bühne trennenden Arbeiten Kennedys. Bei denen sich die Vergemeinschaftung, die ihr vorschwebt, in gemeinsamem stillen Erleben, im sich Fallenlassen in den seltsam einlullenden und Assoziationsräume öffnenden, Vorstellungswelten Kennedys zumindest andeutet. Das ziellose Umherirren, das Eintauchen und Heraustreten, das neugierige Hereingeschaue in weitgehend opake Weltminiaturen hat hier den gegenteiligen Effekt. Indem der Zuschauer hineintritt, bleibt er außen vor, indem er physisch Teil des Geschehens wird, bleibt er Betrachter, indem die vierte Wand fällt, multipliziert sie sich.

Denn die Besucher*innen sind eben nur passiv Zusehende. Eine Interaktion findet nicht statt, eine Einbeziehung erst recht nicht und die einzige Entscheidung, die zu treffen ist, ist: Stehenbleiben, Setzen oder Weitergehen? Von unendlich vielen möglichen Welten war am Anfang die Rede, die sich öffnen könnten, in einer ganzheitlich gedachten Zukunft. Doch hier sieht alles gleich aus, hat der Zuschauer die Wahl zwischen Beliebigkeiten. Sehe ich einem alten Mann beim seligen Meditieren zu, lasse ich mir etwas von einer Roboterstimme einreden oder betrachte ich Fragmente längst vergessener Beziehungsgespräche. am Ende scheint das einerlei, weil der Abend sein Grundversprechen nicht einlöst, der Zuschauer eben nicht zum Spieler wird, sondern „non-playable character“ bleibt. wer spiritueller veranlagt ist, vermag es womöglich, sich das ein oder andere Mal „fallen“ zu lassen, findet vielleicht besseren Zugang zu den opak verstiegenen Trancebehauptungen – die anderen bleiben außen vor. Und so sind vielleicht die am konsequentesten, die die Drehbühne verlassen und sich für einen der an den Wänden aufgestellten Stühle entscheiden. Die virtuelle Welt dreht sich auch ohne sie weiter, der Mensch, der reale, physische, gegenwärtige bleibt draußen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/01/18/wer-eintritt-bleibt-drausen/
Coming society, Berlin: why?
Wieso sprechen sie alle in englisch??
Coming Society, Berlin: Contemporary
Es ist schon interessant zu lesen, wie sich die gelernte Theaterkritik anlässlich einer performativen Installation wie „Coming Society“ in Vagheiten verläuft. Es ist ja auch nicht leicht, denn: wo ist hier der Plot, das Drama? Wo der Inhalt, die Bedeutung? Hängengeblieben sind offenbar nur Leere und Esoterik.
Es mag sein, dass die verschiedenen sinnlichen Angebote nicht unmittelbar in sinnstiftende Botschaften übersetzbar sind, aber für mich haben sie unterschiedliche Assoziationsräume geöffnet. Vor allem ein Aspekt drängt sich auf: gerne haben sich die neuzeitlichen Menschen ihr Leben und Sein mit den Erfolgen ihrer Techniken erklärt. In Zeiten der Fortschritte bei der Erforschung mechanischer Gesetze wird auch der menschliche Körper als eine Maschine betrachtet, die Computertechnik macht das Gehirn zum Prozessor, in dem die Software verarbeitet wird, die die Körperhardware steuert, und die Entzifferung der DNA macht die Gene zu Algorithmen, die die menschliche Reproduktion berechenbar erscheinen lassen. In Computerspielen werden Welten erschaffen und menschenähnliche Avatare durch allerhand Lebenszyklen geführt – der Spieler als Gott. In „Coming Society“ werde ich eingeladen eine solche Computerspielwelt zu betreten, aber nicht um mitzuspielen, wie in einem Escape-Game, sondern mir wird die Gelegenheit zu einem Wahrnehmungs- und Gedankenexperiment gegeben.
Ich betrete also einen Raum, in deren Mitte eine Weltachse steht, um die herum alles in kreisförmiger Bewegung ist. Das Bildprogramm zeigt mir Natur und Kultur als ineinander verwobene Einheit. Aus einer Höhle am Rand kommt das Leben ins Spiel – die Buchstaben der DNA-Aminosäuren verschwinden in einem unendlichen Zeittunnel – mit dem Lebendigen kommt zum Raum die Zeit hinzu, mit dem Leben das Handeln. Die Spielfiguren, die mir begegnen, werden von irgendetwas Jenseitigen gesteuert. Sie erzeugen die Suggestion, dass - wie im Computerspiel - jedes Handeln auf einzelne Entscheidungen zurückgeführt werden kann. Solche Entscheidungen haben Folgen für die Handelnden und die Mitwelt. Durch ihre Handlungsentscheidungen verstricken sich die Entscheider fast unvermeidlich in schuldhafte Situationen. Wie soll man damit umgehen? Im Spiel kann man sein Leben verlieren und mit einem neuen Leben nochmals beginnen. Wie ist das im realen Leben? Kann es sein, dass solche Spiele uns mittlerweile vormachen wollen, wie Leben funktioniert? – Zu manch andere Überlegungen öffnet diese Performance weitere Denkräume.
Für neue Theaterformen braucht es wohl auch neue Beobachtungs- und Beschreibungsformen. Mir jedenfalls scheint diese „Coming Society“ durchaus den Blick auf die „Contemporary Society“ zu richten.
Coming Society, Berlin: nicht aufregend
(...) "Coming society" eröffnet Assoziationsräume. Bei mir: begehbares Bühnenbild, wäre sehr gut aufgehoben in irgendeiner Kunsthalle. Braucht aber auch dort eine Drehbühne. Und auch dort vermutlich nicht sonderlich aufregend.
Coming Society, Berlin: Wohlstand für Reiche
Die kommende Gesellschaft ist also das:
Esoterik, Wellness, Retreats und Happening für Reiche?
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