Stelzvogel-Gollum im Miniwunderland

von Jan Fischer

Hannover, 17. Januar 2019. Der Aufstieg des Faschismus findet im in heimeliger Holztäfelung statt. Auf der Bühne des Schauspiel Hannover erstreckt sich eine Flucht aus braunem Holz bis zu einem Vorhang ganz hinten im Fluchtpunkt des Bühnenbildes, dessen Atmosphäre irgendwo zwischen von der Zeit vergessener Eckkneipe und 50er-Jahre Amtsstube liegt. Aber vorneweg erzählt – ganz episches Theater – erst einmal ein Ansager, was das Publikum zu erwarten hat. "Was wir heute Abend zeigen", meint er, "kennt der ganze Kontinent". Es sei der Aufstieg der "braunen Legende". Immer wieder schiebt er dabei Darsteller und Darstellerinnen aus dem Weg, die schnell noch ein Bier oder einen Kurzen trinken.

Mit Senf und Ketchup

"Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" ist einerseits ein Exilwerk Brechts – so ist das Setting im Prohibitions-Gangstermillieu von Chicago zu erklären. Es ist andererseits aber auch eine kaum verschleierte Parabel auf den Aufstieg Hitlers. Und angesichts des Rechtsrucks, der durch die politischen Landschaften der Welt geht, ist verständlich, warum Claudia Bauer den Stoff ausgegraben hat. Dennoch zeigt sich – gleich nachdem am Anfang ein Chor irgendwo zwischen harmonisch und disharmonisch Silben daher gesungen hat – dass der Text nicht unbedingt gut gealtert ist. Die Diskussion des Chicagoer Karfioltrusts über die Krise des Gemüsemarktes wird in Hannover treu nach Brecht gesprochen – und wirkt mit Wendungen wie "wir kochten uns da was aus" schlicht altbacken.

Arturo4 560 Isabel Machado Rios u@ Isabel Machado Rios

Bauers Inszenierung versucht, der doch recht staubigen Sprache durch Übertreibung entgegenzuwirken. Die ist bei Brecht zwar sowieso angelegt, dennoch dreht das Ensemble in Hannover den Regler noch einmal ein wenig höher, so dass die Figuren fast Karikaturen ihrer selbst werden und sich – als Arturo Ui so richtig loslegt mit seiner Machtkonsolidierung – gegenseitig mit umbringen, indem sie sich mit Senf und Ketchup direkt aus der Flasche besprühen. In Hannover ist die Welt, in der Arturo Ui aufsteigt, eine, die voller grotesk überzeichneter Wahnsinniger steckt. Kern der Geschichte – sowie Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung – ist dabei natürlich Arturo Ui, der in Hannover von Katja Gaudard verkörpert wird. Ihren Arturo legt sie als Mischung zwischen psychopathischem Stelzvogel und Gollum an, und damit trägt sie tatsächlich die ganze Inszenierung. Gebeugt, fast unterwürfig bittet sie Dogsborough um einen Gefallen. Süffisant lächelt sie, auf den eisernen Vorhang projiziert, das Publikum zur Pause an: Arturo ist sich seines Aufstiegs gewiss. Wie Gollum über seinen Schatz kauert sie sich – nicht mehr am Leib als eine Unterhose – über Betty Dullfleet, um vögelnd oder auch vergewaltigend das konkurrierende Gemüsegeschäft in der Nachbarstadt zu annektieren.

Verdauliche Verkleinerung

Brechts Text funktioniert, als sähe man den Aufstieg Hitlers wie in einem – durch die Jahre etwas angestaubten – Miniaturwunderland nachgebaut. Die Absurdität – es geht schließlich ums Blumenkohlgeschäft in Chicago – verkleinert alles bis zur Putzigkeit. Den Reichstagsbrand, die Annektion Österreichs, die Gewalt der in Hannover rot behemdeten Gefolgsleute Uis: Alles das wird in der Verkleinerung verdaulich und stellenweise sogar witzig. Dennoch treffen manche Sätze und Szenen dieses Aufstiegs eines Diktators sehr genau. Wenn einer der Rothemden dem Verteidiger des am Brand eines Speichers Unschuldigen Hetze vorwirft, weil dieser ihn zu Recht beschuldigt zu lügen, erinnert das sehr an zeitgenössische mediale Verdrehungstechniken.

Arturo1 560 Isabel Machado Rios uGanz in Braun: die Bühne von Andreas Auerbach  © Isabel Machado Rios

Das Schöne an Claudia Bauers Inszenierung ist, dass sie den Witz und die Absurdität der Vorlage erkennt und noch einmal weitertreibt – und die Darsteller und Darstellerinnen sich voller Spielfreude auf die epische Orgie aus Ketchupblut stürzen. Über weite Strecken – vor allem in der zweiten Hälfte, die noch einmal ein bisschen Fahrt aufnimmt – funktioniert das sehr gut. Nicht nur Katja Gaudard kann da ihren Stelzvogel-Gollum bis zum Anschlag aufdrehen, in der zweiten Hälfte wird der Text auch vom Chor verdrängt, der mal atonal, mal tonal Silben und Sätze singt, selbstverständlich auch ein himmelstrebendes Arturo-Ui-Lied. Die Figuren bekommen Schaumstoffkörperteile – Bäuche, Klumpfüße, Sixpacks, Hoden – die sie grotesk überzeichnen.

Warnung auf brav brechtsch

In solchen Momenten – auch als beispielsweise die holzgetäfelte Kulisse beginnt zu wackeln, als der Handlanger, der für den Speicherbrand verantwortlich ist, mit einem Arm voller Benzinkanister dagegen stößt – wird immer wieder klar, dass es sich um Theater handelt. Die Überzeichnung verweist – brav brechtsch – auf die Gemachtheit des Texts und der Inszenierung, und damit gleichzeitig darauf, dass sie eine Verfremdung tatsächlicher Ereignisse darstellt. Die aber schon auf Aktuelles verweisen könnten, möglicherweise auch – es ist schließlich der "aufhaltsame Aufstieg", nicht der unaufhaltsame – als Warnung funktionieren können. Dabei ist die Inszenierung durchaus unterhaltsam, selbst als am Ende Brechts didaktischer Zeigefinger wedelt, während Arturo – nach wie vor halb nackt – zuerst davon spricht, nun endlich Frieden in die Welt gebracht zu haben und dann auf einem Sockel auffährt, während der Chor dazu langsam in Disharmonien versinkt.

Claudia Bauer und das Ensemble kommen nicht immer gegen Brechts Text – der mittlerweile auch seine 80 Jahre auf dem Buckel hat – an, vor allem nicht gegen den Belehrungsduktus, den er leider hat. Dennoch ist ihnen eine Inszenierung gelungen, die über weite Strecken unterhält und, wenn man diverse Schichten ab- und wieder dranschält, unter dem Witz durchaus auch Tiefgang hat.

 

Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui
von Bertolt Brecht
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Patricia Talacko, Komposition & Sounddesign: Peer Baierlein, Leitung des Vokalensembles: Florian Lohmann, Dramaturgie: Judith Gerstenberg, Live-Video: Tobias Haupt.
Mit: Mit Katja Gaudard, Philippe Goos, Günther Harder, Philipp Kronenberg, Dennis Pörtner, Emma Rönnebeck, Sebastian Weiss, Vokalensemble: Franziska Poensgen, Esther Tschimpke, Melissa Wedekind, Ida Danzberg, Maria Rüssel, Lea Wolpert, Justus Barleben, Simon Jass, Steffen Kruse, Friedemann Gottschlich, Steffen Henning, Luciano Lodi.
Premiere am 17. Januar 2019
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspielhannover.de

 

Kritikenrundschau

"Was für eine Eröffnung!" schreibt Daniel Alexander Schacht in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (19.1.2019). Für die Rasanz und Kraft dieser Inszenierung gab es Schacht zufolge es bei der Premiere Jubel, Pfiffe und minutenlang Applaus. "Die erste Szene lässt gleich ahnen, was diese Inszenierung von Bertolt Brechts 'Arturo Ui' zu bieten hat: ein Vokalensemble, das souverän zwischen klarem Wohlklang und kalkulierter Kakophonie zu wechseln weiß." Es ist aus Sicht dieses Kritikers ein Glücksgriff, dass die zwei starke Männer-Rollen von Frauen gespielt werden - neben Katja Gaudard als Ui der Dogsborough von Emma Rönnebeck. "Die überragt die zierliche Katja Gaudard an Länge, was sie mit High Heels noch unterstreicht, sie kann den Dogsborough jedoch auch gebeugt und verlegen spielen, indem sie auf umgeknickten Absätzen umherschlurft, was ebenso unterhaltsam wie akrobatisch ist."

Claudia Bauer und die überwältigend gute Katja Gaudard nähmen "den leicht angestaubten Brecht mit Humor und geben den kleinen Diktator der Lächerlichkeit preis," schreibt Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (18.1.2019) "So lächerlich sind Wutbürger und andere Mitläufer nun mal. Es ist ja alles nur Theater – aber durch die Doppelbödigkeit der Komik kein plakatives Lehrstück mehr." Bauers "Stakkato-Theater"geht aus Sicht des Kritikers vor allem im ersten Teil über weite Strecken famos auf und mit Abstrichen in der zweiten Hälfte. "Die Figuren, nun ausgestattet mit Klumpfuß und Klöten und allerlei anderen Körperteilen aus Schaumstoff, werden zunehmend zu Karikaturen. Das hohe Tempo zieht noch an; doch die Pause wirkt wie ein Druckablass.  Was vorher pure Energie war, kippt nun schon mal ins Strapaziöse."

 

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