Die Möwe - Alvis Hermanis zeigt Anton Tschechows Psychogramm einer erstarrten Gesellschaft im Münchner Cuvilliéstheater
Wortwolken und Schwefelschwaden
von Petra Hallmayer
München, 19. Januar 2019. Wie zur Einstimmung auf den Abend hält sich Sorin (René Dumont) zum Auftakt eine Pistole an den Kopf, lässt sie sinken, schleppt sich müde auf einer Krücke zu drei Stühlen und legt sich darauf nieder. In einer langen Pantomime verfolgt der Lehrer Medwedenko als gekrümmte zittrig tölpelhafte Witzfigur die vor ihm fliehende Mascha mit einer Blume, ehe die Anderen sukzessive hereinkommen.
Traum vom Aufbruch
In Tschechows Psychogramm einer in Lähmung erstarrten Gesellschaft treffen sich auf Sorins Landgut seine Schwester, die Schauspielerin Arkadina, ihr Sohn Konstantin Trepljew, der ein hoch- und hohltönendes avantgardistisches Stück geschrieben hat, der gefeierte Schriftsteller Trigorin und die junge Nina. Zeile für Zeile haucht sie im Cuvilliéstheather Trepljews Wortwolken, derweil er ihre Sätze dirigiert und mit einem Kännchen Schwefelschwaden versprüht.
Während die ältere Generation sich im Stillstand eingerichtet hat, träumen die Jungen vom Ausbruch, vom Aufbruch zu einer neuen Kunst, einer sie aus der Tristesse ihres Lebens erlösenden, alles verändernden Liebe. Doch auch ihre Träume sind aus Schablonen und Phrasen gestrickt. Wir sehen lauter sinnlos unglückliche Menschen, die mit ihrer Mittelmäßigkeit hadern, einander beneiden und das begehren, was sie nicht haben können. Medwedenko liebt Mascha, die Konstantin liebt, der Nina liebt, die für Arkadinas Liebhaber Trigorin schwärmt. Sie pseudophilosophieren, ohne einen einzigen eigenen Gedanken zu haben, quälen und langweilen sich und leider bald schon auch uns.
Hoffnungslose Vernunft
Der Salon des Landguts auf der Bühne ist mit schweren alten Möbeln, Polsterstühlen, einem Flügel und mit Büchern und Nippes vollgestopften Vitrinenschränken ausstaffiert. Die Frauen tragen Spitzen, Rüschchen und Schnürstiefel, die Männer steife Krägen und Gamaschen. Wie so oft schwelgt der lettische Regisseur Alvis Hermanis wieder einmal in historisierender Ausstattung und erlesener Retro-Optik.
In dieser zelebriert er jedes Detail ausmalend den Text, allein er zerdehnt ihn dabei zumeist bloß, statt ihn subtil auszuloten und seine Figurenzeichnung bleibt irritierend vordergründig. Der nach Anerkennung lechzende Trepljew (Marcel Heuperman) ist ein unmotiviert dauerlächelndes großes Mamakind, und damit wir es auch wirklich begreifen, kriecht er ihr weinend unter dem Rock. Die arme Mascha (Anna Graenzer), die aus hoffnungsloser Vernunft den Hampelman Medwedenko (Tim Werths) heiratet, muss unablässig schluchzen.
Überhaupt wird hier viel geweint, gejapst und gekeucht. Ermüdende Szenen, in denen der Text kaum akzentuiert geraunt vorüberrauscht, wechseln sich ab mit hyperdramatischen Auftritten, in denen plötzlich ein Blumenstrauß wild zerfetzt wird oder der eifersüchtige Trepljew alle Seiten aus Trigorins Buch reißt und seiner Mutter vor die Füße schleudert. Wenn Hermanis das Unglück der Figuren verdeutlichen will, lässt er sie heulen, will er ihre Lächerlichkeit vorführen, greift er zur Karikatur. So aber wird Tschechows traurige Komödie schließlich weder komisch noch traurig.
Ferne Kunstfiguren
Auch das Ensemble kann den Abend nicht retten, trotz der eigentlich starken Besetzung: Die reizende Mathilde Bundschuh rennt als nervöses, sehnsuchtskrankes, unheilbar in Trigorin verliebtes Mädchenkind Nina ihm hinterher und in ihr Unglück. Sophie von Kessel gibt eine freundlich strahlende, grausam ignorante, in sich selbst verliebte Arkadina, die Trigorin eine schaurig theatralische Szene vorspielt, in der sie ihn anfleht, sie nicht zu verlassen, um gleich darauf munter eine Mandarine zu schälen. Michele Cuciuffo zeigt als von allen beneideter egozentrischer Schriftsteller einen jämmerlich willensschwachen Mann.
Schauspielerische Glanzlichter aber erlaubt Hermanis' Inszenierung nicht, die Gefühle mal überzeichnet nach außen stülpt, mal wattiert und abdämpft und in der uns Tschechows Menschen, die uns so nahe sind, wie ferne Kunstfiguren erscheinen. Wenn sich Trepljew am Ende tatsächlich erschießt, berührt einen das so wenig wie die ahnungslos Karten spielende Gesellschaft auf der Bühne.
Die Möwe
von Anton Tschechow
übersetzt von Angela Schanelec
Regie: Alvis Hermanis, Bühne: Alvis Hermanis und Thilo Ullrich, Kostüme: Kristīne Jurjāne, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Mathilde Bundschuh, Michele Cuciuffo, René Dumont, Anna Graenzer, Marcel Heuperman, Thomas Huber, Sophie von Kessel, Katharina Pichler, Wolfram Rupperti, Tim Werths.
Premiere am 19. Janaur 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.residenztheater.de
"Die ersten fünf Minuten sind die besten dieser mehr als dreistündigen Aufführung, die mit der Eröffnungsszene bereits auserzählt erscheint. Mehr als die bleierne Trauer über ein am eigenen Dasein vorbeigelebtes Leben kommt dann nicht mehr", schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (20.1.2019). Die "verzwickte Konstellation" des Stücks sei nur noch in unbelebten Klischees von Tschechow-Figuren zu erkennen. "Sogar die rauschhaft hypernaturalistische Opulenz der Ausstattung, für die der lettische Regisseur berühmt wie berüchtigt ist, wirkt nur noch wie ein Zitat."
"Bei Hermanis ist die 'Möwe' kein Künstlerdrama und keine Komödie, sondern ein Drama der Verlorenheit", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (21.1.2019). "Man könnte die Aufführung auch auf Rezept gegen Bluthochdruck verschreiben. Tolle Schauspielerinnen und Schauspieler schleppen sich über die Bühne, sprechen ganz leise, und dabei glaubt man, das Papier rascheln zu hören." Erst am Ende ergebe sich in der finalen Begegnung von Nina und Konstantin "eine ergreifende Szene von vollkommen auswegloser Traurigkeit", so Tholl: "Großartig, aber zu diesem Moment muss man hier erst einmal mühevoll gelangen."
"Hermanis inszeniert aufs Neue so, dass sich all seine Gegner beruhigt abwenden können von diesem 'konservativen' Theatermacher. Drei Stunden lang lässt er seine Schauspieler in historischem Kostüm und auf einer mit immer mehr Requisiten gefüllten Bühne auf- und abtreten. Ihre Sätze sprechen sie langsam und leise, mitunter zu leise, so dass die älteren Herrschaften im Publikum nervös an ihren Hörgeräten drehen", ist Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.1.2019) enttäuscht. Hermanis' "entschiedene Regieführung" stelle den historischen Charakter des Stücks voran. "Man hat Schwierigkeiten damit, weil der Abend durch die vielen Rahmenbedingungen, auf die er achtgibt, keine wirkliche Phantasie für die innere Bewegung seiner Protagonisten entwickelt", so Strauss. "Was man sieht, sind gestellte Situationen, keine gefügten Stimmungen. Deshalb fliegt diese 'Möwe' nicht, sondern bleibt nur flügelschlagend am Ufer des Sees sitzen. Während von oben die Blätter fallen und die Zeit vergeht."
Hermanis’ 'Möwe' tue so, stamme sie aus der Epoche ihrer Entstehung, bemerkt Barbara Villiger Heilig von Republik (23.1.2019. "Die Wirkung, insgesamt: exakt wie im Kostümfilm." Der ganze Aufwand bringe statt Erkenntnis bloß ein vages 'russisches' Schauvergnügen. "Anders gesagt: Exotismus." Hermanis konzentriere sich auf die Wiedererweckung eines nostalgischen Es-war-einmal. "Doch wo der intellektuelle Aspekt flachfällt, weil Hermanis die im Kontext so essenzielle Frage nach künstlerischer Zeitgenossenschaft schlicht und einfach übergeht, hat man sich irgendwann sattgesehen an der Herrlichkeit."
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Um diesen wundervollen Theaterabend mit diesen tollen Schauspielern, und dieser feinen Regie zu begreifen und zu verstehen, braucht man Geduld, ein großes Herz und jede Menge Tiefgang.
Mehr kann ich dazu erst einmal nicht sagen ...
(Teile des Kommentars entsprechen nicht den Kommentarregeln, siehe https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102. Mit freundlichen Grüßen, die Redaktion)
Und da "Die Möwe" ein besonderes Stück für mich ist, und mir viel bedeutet, bringe ich einen Spruch von Anton Tschechow in dieser bedrohlichen Corona-Zeit, den ich gerade erst entdeckt habe:
Wir werden Frieden finden.
Wir werden Engeln lauschen
und den Himmel sehen,
funkelnd von Diamanten.