Maria – Sebastian Nüblings Uraufführung des neuen Stücks von Simon Stephens eröffnet die Lessingtage am Thalia Theater Hamburg
Unter Marginalisierten
von Jens Fischer
Hamburg, 19. Januar 2019. Schwarzer Raum, illuminiert in Dämmerstimmung. Langsam kommt die Drehbühne in Bewegung. Wie ein Karussell lässt sie einen ausgewachsenen Lkw rotieren. Nervenzerrende Musik macht deutlich, dass der Ort des Geschehens ein beängstigendes Viertel sein muss. Irgendein Umschlagplatz globaler Warenströme.
Das Elend der Online-Shopping-Auslieferer
Wider die allgemeine Morgenmuffeligkeit im erwachenden Fernfahrermilieu absolviert Maria wie ein Affenbaby eine Gymnastikeinheit an der Fahrerhaustür des Brummis. Geschlafen hat sie auf der Armaturenbrettablage. 18 Jahre jung ist die Frau und in ihrem unbehausten Leben schon fast ganz unten angekommen bei den Erniedrigten und Beleidigten in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Tagsüber reinigt sie Duschen in einem Fitnessstudio und nennt abends nicht mehr ihr Eigen, als das, was sie am Leib trägt – und was sie im Leib trägt: ein sechs Monate altes Baby. Scheint naturgemäß also in bester Hoffnung zu sein. So macht Simon Stephens sie zu seiner Heldin im emanzipatorischen Kampf gegen soziale Degradierung.
Heldin der Erniedrigten und Beleidigten der globalisierten Ökonomie: Maria (Lisa Hagmeister)
© Krafft Angerer
Sein neues, mit melodramatischen Effekten gespicktes Stück hat er auch gleich "Maria" betitelt. Lisa Hagmeister spielt die Hauptrolle am Thalia Theater. Versteckt Unsicherheit hinter forschem Gehabe, ist meist aber wirklich tollkühn unerschrocken. Und kindlich gerade heraus. Nie gibt sie auf. Hat das Herz am rechten Fleck. Und so viele Fragen im Kopf. Die ohne Unterlass aus ihr heraussprudeln. Zu Beginn ist ihr Reden vor allem eines gegen die Angst vor der Geburt und dem Mutterwerden. In Stephens' Text sucht sie dazu einen Arzt auf.
Der erscheint in der Uraufführungsinszenierung Sebastian Nüblings als Mechaniker beim Reifenwechsel. Ist er durch seine behauptete jemenitische Herkunft ebenfalls ein Deklassierter? Ein Compañero? Die den Lkw entladenden Packer sind das auf alle Fälle. Ihre Huschhusch-Choreografie ist gleich ein Verweis auf das Elend der Auslieferer prall gefüllter Online-Shopping-Warenkörbe. Die Empfänger machen sich derweil fit für den Konsum mit Tai-Chi im Technorhythmus und Gute-Laune-Hüpfern mit Cheerleading-Puscheln. Marias prolliges Umfeld tobt hingegen gern mal zu harten Beats die eigene Marginalisierung aus den Körpern. Wie schon in Nüblings letzter Stephens-Adaption Rage. "Das Problem ist – wie üblich –, dass uns niemand liebt", hieß es dort programmatisch, nun ist auf einer weiteren Lkw-Reklameplane zu lesen: Love is all you need.
Ping-Pong-Dramaturgie
Das gilt natürlich auch für Maria. Macht sie doch Bekanntschaft mit der geschmeidigen Brutalität der Arbeitswelt. Wegen ihres ärmlichen Outfits und Zuspätkommens droht ihr der Rauswurf. So wandelt sich ihr Reden zu einem gegen die Angst vor der totalen Joblosigkeit. Maria lädt sich frustprall mit Amoklaufideen auf, entsagt denen aber sogleich wieder. Sie kennt ihre dramatische Vorbildfunktion. Viel wichtiger ist ja auch, eine Begleitung für die Zeit im Kreißsaal zu finden. Der Vater des Kindes kommt nicht infrage, denn Maria weiß leider nicht, wer das ist. Oma will nicht mit, sie mag keine Krankenhäuser. Die beste Freundin befürchtet Ärger mit ihrem Liebsten.
Selbstinszenierung im Chatroom oder Die Suche nach analogem Kontakt in einer digital durchökonomisierten Welt. @ Krafft Angerer
Marias Mutter ist tot. Den an der Supermarktkasse arbeitenden Vater spricht sie bei seiner Zigarettenpause an. Augenklimpernd beschämt steht er da, kann nicht mal ein Eis spendieren. Wird also wohl auch beim Entbinden keine Hilfe sein. Aber ein Blick auf die familiäre Kommunikation vermittelt einen typischen Eindruck von Stephens Ping-Pong-Dramaturgie. Maria: Hast du in letzter Zeit irgendwelche Dokus gesehen? Vater: Nein, Liebes. Maria: Ich habe heute Morgen eine über Amanda Knox angeschaut. Vater: Wirklich? Maria: Ja. Vater: Wie war sie? Maria: Sie war gut. Vater: Das ist gut. Maria: Ich versuche jeden Tag eine Doku anzuschauen. Vater: Warum? Maria: Ich finde einfach, das wäre besser, als ständig auf Facebook zu sein. Vater: Ja. Wäre es wahrscheinlich.
Wehen und Wirtschaftsstrukturen
Da blende ich jetzt mal aus. Es mag der Realität hübsch abgelauscht sein, aber die zumeist nur von zwei Personen geführten Dialoge des Stücks sind eher langatmig banal denn erhellend pointiert. Teilweise unangenehm klischeehaft. Werden auch nicht zu brodelnd Szenen verdichtet, sondern zerfließen. Vitalitätsfunken schlagen nur Maries unverstellt leidenschaftliche Suche nach Haltepunkten – und Oma (Barbara Nüsse). Als vom Leben ernüchterte Frau geht sie an die Rampe und sprechsingt in betörend rauer Kehligkeit "Love will tear us apart" von Joy Division. Woraufhin Maria ihr Kind bekommt. Als Hörspiel ist das mitzuerleben. Nun redet sie, allein unter Ärzten, gegen die Schmerzen der Wehen an. Wenn ihr die Worte ausgehen, zitiert sie Weisheiten aus den gestreamten TV-Dokus. Das ist dann auch lustig, wenn der Arzt ihr den Atemrhythmus einpaukt und sie hechelt: "Durch die heutigen Wirtschaftsstrukturen ist es so weit gekommen, dass sich Arbeit nicht lohnt und nicht mal Geldverdienen sich lohnt, sondern nur Besitz."
Selbstinszenierung mit Perversionseinlagen
Im zweiten Teil des Abends wechselt Maria dann den Job. Moderiert als Cam-Girl die Kontaktversuche der Sozio- und Psychopathen in ihrem Chatroom. "Echte" Geschichten wollen die Kunden von ihr hören, vor allem aber Aufmerksamkeit. Maria bleibt unverrückbar freundlich, offen, neugierig. Zu beobachten ist das auf extra installierten Bildschirmen. Nur: All dem Selbstinszenierungshokuspokus einer knappen halben Aufführungsstunde zu lauschen, ist trotz Perversionseinlagen ähnlich ermüdend wie es die zuvor geführten Gespräche waren. Denn erneut sind vor allem Klischees zu erleben, diesmal zum Thema soziale Isolation, wenn etwa ein einsamer Maskenmann sich stranguliert und ein Pizzafresser Küsse über die Webkamera austauschen will.
Zum Finale redet Maria gegen das Sterben ihrer Oma an. Die noch einmal aufspringt, wie eine Ballerina lostanzt und dann in ihren Armen den Odem aushaucht. Was auch Hagmeister erstmals zum Schweigen bringt. Sie hat triumphiert – in Nüblings spekulativer Bebilderung eines allzu blassen Textes über die Suche nach analogem Kontakt in einer digital durchökonomisierten Welt.
Maria
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Uraufführung
Regie: Sebastian Nübling Bühne: Evi Bauer Kostüme: Pascale Martin Dramaturgie: Julia Lochte Musik: Lars Wittershagen
Mit: Lisa Hagmeister, Thomas Niehaus, Barbara Nüsse, Tim Porath, Sylvana Seddig und Jirka Zett
Premiere am 19. Januar 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.thalia-theater.de
"Nübling hat schon etliche Stücke von Simon Stephens uraufgeführt und besitzt ein Gespür für dessen Mosaik-Technik. Er strafft und bringt die Dialoge mit viel Musik und Bewegung in Fluss", berichtet Katja Weise im NDR (20.1.2019). "Dass die Uraufführung so gut gelingt, liegt zum großen Teil an Hauptdarstellerin Lisa Hagmeister: Sie verkörpert den Text. Selbst Passagen, die beim Lesen plakativ wirken, überzeugen plötzlich durch ihre Kraft."
Eva Maria Bauers Bühne verschaffe Marias Passionsgeschichte mit grandiosem Effekt das soziale und gesellschaftliche Fundament, so Michael Laages im Deutschlandfunk (20.1.2019). Sebastian Nüblings Inszenierung fokussiere "geschickt und schnell die szenischen Miniaturen vor dem kreisenden Truck". Laages lobt Lisa Hagmeister und Barbara Nüsse und schließt: "Gerade an Abenden wie diesem und in solchem Spiel erweist sich auch die Kraft des Theaters: einer Welt, der die Menschlichkeit verloren geht, steht hier echtes Leben gegenüber. "
Nübling mache aus "Maria" mehr als die Scripted-Reality-Shows im Billigfernsehen, findet Stefan Grund in der Welt (21.1.2019). "Durch die Entscheidung, den Laster nicht von der Bühne zu rollen, sondern ihn immer wieder in verschiedenen Kontexten zur Projektionsfläche zu machen, kommt es zu hübschen Verfremdungen. Die Plane wird im weiteren Verlauf auch mal zur Videoleinwand." Hagmeister spiele die quasselnde Antiheldin "zum Glück des Publikums derart ungerührt schlicht und intensiv, dass trotz des eher spannungsarmen Verlaufs der Handlung kaum Langeweile aufkommt". Auch helfe, dass die Dialoge bei Stephens gewohnt knackig seien.
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wurde, soweit ich es sehe, nicht so sehr nach "Maria" in Verbindung
mit "Elisabeth" (der Name des KIndes von Ria schließlich) gefragt;
nun, Ria würde wohl schlicht googeln unter "Maria und Elisabeth".
Ich habe dazu einmal die Probe aufs Exempel gemacht. Der erste Eintrag lautet "Eine heilsame Begegnung" (unter "katholisch de."). Klicke ich das an, es handelt sich um einen "Katholisch für Anfänger"-Artikel zu Mariae Heimsuchung (Visitatio), lese ich folgendes Vorwort: "Die Heimsuchung bezeichnet die Begegnung von Maria und Elisabeth , die Lukas in seinem Evangelium schildert (Lukas 1, 39-45 - AZ). Maria ist ungeplant schwanger.Sie hatte es nicht leicht: jung, ohne die Sicherheit einer Ehe und eines geregelten Lebens". Soweit zu dem Eintrag. Natürlich möchte ich einer christlich-religiös aufgeladenen Interpretation des Stückes wie seiner Inszenierung in Hamburg nicht das Wort reden, zumal der Autor Stephens selbst von Mal zu Mal kritischere Töne sendet über das, was die Kirche(n) so anzubieten haben (!!); aber , ich denke, daß das Bild eines Ineinsfallens von Schwangerschaft und Heimsuchung für die dann folgende "Coming-of-Age-Geschichte" der Ria ein guter Ansatz ist, auch wenn die Pointe der Namensgebungen in diesem Stück, das sehr irdisch ist !, ist, daß sie wohl ähnlich zu verstehen sind, wie daß der Weg, den ich gleich aufsuche, "Hölderlinweg" heißt (manchmal macht so ein Name auch etwas mit dem dadurch Bezeichneten, manchmal steht hinter der Benennung eine Hoffnung dahingehend dahinter), er wurde aus der näheren (kulturellen) Umgebung geholt. Nicht umsonst sagt Rias Oma trocken zu dem Namensvorschlag Rias für ihr Kind:"Hm, so heißt die Queen .!" Wer zu diesem Google(be)fund nach einem analogen Gegenpart sucht (und nicht auf die jetzt wieder ins Kino drängenden Königinnen Maria und Elisabeth zurückgreifen will), mag sich die Sehenswürdigkeiten Stockports (ich mogele ein wenig, denn die google ich nicht minder; für Stephens gehört das gewiß zu seiner analogen Welt und für die fußläufige Ria ohnehin) vergegenwärtigen, ua. die beiden größeren Kirchenbauten: St. Mary und St.Elisabeth ..
Zum Pressespiegel dann später, nach "Gundermann" !.
Die erste von ihnen befindet sich sowohl in den Kieler Nachrichten
(23.1.) als auch den Lübecker Nachrichten (22.1.) und ist aus der Feder
Ruth Benders. Sie ähnelt ein wenig der Nachtkritik von Jens Fischer, ist aber deutlich ins Positive gewendet dabei, was, denke ich, aus folgender Textzeile gut zu erahnen ist: "In einem Rundumschlag faßt der akribische Beobachter Stephens die Realität zusammen zu einem Text zwischen Abschied und Aufbruch, der in seinen guten Momenten das Leben im Turbokapitalismus zu fassen bekommt, aber auch häufig im Flachwasser der Banalität gründelt.So richtig zum Klingen bringen ihn erst Nüblings lakonisch pointierte Regie und das spielfreudige Ensemble."
Die zweite Kritik ist aus der Feder von Susanne Oehmsen, welche ich im Flensburger Tageblatt fand (22.1.) . Susanne Oehmsen war durch diesen Abend sichtlich gerührt und berührt , was diese Textstelle deutlich belegt, in der es heißt: "Hagmeisters Ria bricht einem das Herz, weil sie trotz allem ihre Wärme bewahrt und die Einsamkeit der anderen erkennt, ohne zynisch zu werden. Viel Beifall."
Uraufführung von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf ?" (die dieser am 13.10.1962 in New York erleben durfte) geschrieben hatte , die ihn zuerst recht kalt gelassen habe, dann aber wie in einem Mal im Umfeld anderer Inszenierungen als etwas Neues, Befreiendes, Eröffnendes auf ihn zu gewachsen sei ("It grows on me", schrieb er); war es mir jetzt mit diesen drei, garnicht zusammengehörigen irgendwie, Abenden nicht recht ähnlich gegangen ?? Und so zog ich dann durch die Woche nach den drei Theaterabenden durch Kiel, besuchte meine Mutter, meinen Vater, fußläufig weitestgehend, jene Verbindungen der Abende nahmen zu, begannen zu gären, und jedenfalls bei all meiner Fußläufigkeit dort so nach jenen Abenden sah ich "Ria" schlicht als eine Artverwandte von mir, das Lied "Analog/Digital" (gesungen von der Schwester Winter (Gala O. Winter)) im Jens-Rachut-Stück verstärkte diesen Effekt, der wohl nur mich betreffen will (?), geradezu kongenial; erste Formulierungen für das Erfahrene schwebten mir vor,
und in fast träumerischer Atmosphäre zeichneten sich Umrisse einer kleinen Serie ab, so für den Leserkritikenthread gedacht, und ich gab mich dieser Träumerei natürlich so bereitwillig hin, daß es wohl kaum zu jener Serie kommen konnte -und dann ja auch nicht kam; dennoch leitete ich ein wenig von der Energie aus diesen Erfahrungen dann in das hinein ab, was ich hier in Rostock, durchaus mich selbst trainierend, schrieb; "Rias Methode" darf als Wink dahingehend verstanden werden, denn ich hatte zunächst vor, die diversen "Wer hat Angst vor Virginia Woolf ?"-Einlassungen quasi in der Rollenattitüde der Ria anzugehen, munter drauf los zu fragen, mich hier und da mit Quellen und Dokus zu speisen, mithin, wie es Stephens von sich im "Harper Reagan"-Stückheft selbst bezeugt: zu lesen wie ein Dieb; einen Kommentar dieser Art meinte ich dann auch verschickt zu haben; da war aber etwas schief gelaufen. Im Kern aber hatte sich so eine Art Gerüst für das auf mich zu und in mir gewachsene Verbindungsgeflecht dieser "Trilogie, wie sie vermutlich nur für mich eine war", ergeben. An allen drei Abenden wurde gestorben oder hat sterben lassen, und wie unterschiedlich gestorben wurde !, und an allen Abenden spielten Autos so ihre Rolle, so daß die Trilogie nun heißen mochte "Die Autos und der Tod".
oder vermittels des Stückheftes (siehe "Westendthread"); der Abend ist durch und durch von ihm geschrieben, die Lieder, die Rollentexte, die Gedichte, und, wie einst Orson Welles, spielt er auch eine Rolle (einen "Caveman-Pfleger" mit gehörigem Waffenarsenal zB.) und führt Regie. Sein Abend ist aber ein kleines, wundervoll dosiertes, atmosphärisches Theaterwunder von nur einer Stunde Dauer, das den Zuschauer, trotz der Kürze, weder gedrängelt und mit Eindrücken bombadiert hat , noch in irgendeiner Weise mit einer Art von halbem oder halbgarem Theatererlebnis abspeist und das Publikum schal wie bedrückt zurück auf die Straßen Hamburgs treten läßt; es ist ein regelrechter und vollmundiger und zudem überraschend sinnlicher, sogar leichter, Abend - über: den Tod ? Ja, schon. , das Sterben ?? Ja, von Schritt zu Schritt quasi ..,
den Tod und das Sterben bis zuletzt, auf der Bühne, analog !, den wortwörtlichen Bühnentod ??? Ja, genau, den Bühnentod quasi des gesammten Settings , den Bühnentod eines Hospizes, welches dem Abriß geweiht ist, so das letzte Stündlein des letzten "Patienten" (?), "Gastes" (??), letzten Klienten (???) , eben Rainer Gratzke (Joseph Ostendorf), das wir 1:1 durchleben mit ihm, fast an seiner Seite ,
geschlagen haben wird, ein Abend, der so eine Stunde mit allen möglichen Theatermitteln und Beckettscher List quasi leerräumen läßt, daß wir als Zuschauer diese "Leere" als Freiraum begreifen lernen, über unsere letzte Stunde ,irgendwie aber seltsam gebannt ganz im Setting und beim Vollblutspiel vor allem Joseph Ostendorfs und Gala Otero Winters bleibend, weniger nachdenken als nachspüren können.
Es ist natürlich vor allem ein Theaterabend über das begleitete Sterben, das durch menschliche Personen aus Fleisch und Blut begleitete Sterben und eben: die Bedrohtheit dieser letzten "analogen Bastion" am Rande unseres, gelegentlich sehr vereinsamten Lebens.
Werden die Klienten Rias, aus dem Stück zwei Tage darauf, in ihren letzten Stunden auch nur den Hauch eines Zipfels von einem Sterben in Würde erhaschen können ?; oder wird Ria sie dann auch, so sie jeweils in der Lage sind, einen Coin mehr einzuschmeißen und noch einen und noch einen, ganz bis zuletzt begleiten, nicht mehr analog, weil Gratzke der letzte Analoge war in etwa, sondern digital ?? Wachsen nicht, um nur eine dieser Verbindungen, welche sich zwischen den Abenden (mir) so ergeben haben, zu benennen, jene Klienten Rias, die ich keineswegs als Soziopathen oder derlei verstehe, sondern auf ihre Weise als Suchende, die sogar einen Kanal gefunden haben und diesen auch aktiv zu nutzen suchen, was längst nicht jeder schafft bzw. jedem vergönnt ist, nicht nur weil, ganz banal, der Coin und der Laptop fehlen könnten (die ja auch ihre analoge Münzseite, die physische Seite schlicht haben, die Deliveryseite, denn auch die abheben lassendsten Geräte, müssen transportiert werden, sind physisch, analog also in ihrer Physis; diesen Gegensatz in Einheit zeigt Nübling hervorragend mittels seiner Laster-Lösung), wachsen diese nicht auf den Tod des einsamen, aber begleiteten Rainer Gratzke zu, chancenlos als Achilles im Wettlauf mit der Schildkröte, selbst einen solchen Tod "erreichen" zu können ?? Jetzt ist hier aber an der HMT eine Sache zu Herrmann Schmitz (Jahrgang 1928), dem letzten lebenden Systemphilosophen wohl in diesem Land (dessen Forschungsstelle im übrigen auch hier in Rostock befindlich ist)..
Und der Bezug zu "Maria" ? Naja, was beinahe der letzte Eindruck Gratzkes in dem einen Stück war, wurde dann just zum ersten Eindruck, in langsamen Kreisfahrten, wie wohl auch Autos, die zum Verkauf stehen, wohl gelegentlich (oder auf Messen beständig gar) kreisend gezeigt werden, vor sich gehend, des Publikums von Maria; was da so kreiste: Ein schwarzer Laster mit grauer Plane !.
Ria schweigt, "wird zum ersten Male zum Schweigen gebracht", wie Herr Schmedemann es formuliert. In der Quintessenz aus meiner Parallel- und Ineinanderschaltung dreier nicht zusammengehöriger Abende hinsichtlich gemeinsamer Motive und Bilder (fast sehe ich jetzt eine Verwandtschaft zum Bernhardabend nachträglich) war ich bezüglich des Endes von "Maria" auf die Frage gekommen, welches Ende ich wohl für das hoffnungsvollere halte, jenes in der "Wer hat Angst vor VW ?"-Inszenierung Karin Beiers vom Vortage oder jenes dann in "Maria", und ich kam letztlich zu dem Schluß, daß die offenen Enden beider Abende letztlich garnicht so meilenweit auseinanderliegen, ja, daß es so eine Art zweistöckige Ebene (siehe meine Sätze dazu hinsichtlich der VW-Inszenierung) letztlich auch bei "Maria" gibt. Erst schweigt sie gegenüber ihren Klienten, dann schweigt sie auch uns an, und in diesem zweiten Schritt befinde ich mich Ria gegenüber plötzlich (potentiell) in einer Situation, die mich zu einem weiteren Klienten Rias werden läßt; sie schweigt, hat mich aber bis dahin ebenso gekonnt, wenn auch vielleicht (!) auf einer anderen Ebene, unterhalten wie ihre Klienten, so daß am Ende die Frage auf der Hand liegt, was meinen Theaterbesuch von "Maria" denn so sonderlich abheben sollte von den, die neueste Kommunikationstechnik nutzenden, Anwählungen Rias durch ihre Klienten. Da die diversen Personen im Stück durch Regie und Ensemble nicht denunziert werden, prekäre Aktualität der Jetzt- und Hierzeit thematisiert wird, von der sich Publikum schwerlich abheben kann, liegt dieser Ineinsschluß mit seiner Kernfrage besonders nahe, wohl mit der Pointe, daß das Publikum sich immerhin zum Stück und seiner Virulenz nicht abschottet, sondern , am Schluß auf sich zurückgeworfen, im Bewußtsein eines möglichen Überschusses der Theatersituation eines sich öffentlich INFRAGESTELLENLASSENS, am Schweigen Rias wiederfindet und so ua. die Theatersituation (neu/aktualisiert) schätzen lernt. Diese Kernfrage durch das Stephenstück bestimmt meineserachtens das Ende jener Nübling-Inszenierung, wie überhaupt der offene Fragegestus. Es ist auch stückinhaltlich überaus fraglich, ob Ria letztlich zu jener Macht des Geschichtenerzählens finden wird, welche der "Schwanenseetod" der Großmutter ins Werk setzt; immerhin reagiert sie darauf ja nicht wie vom "Blitz der Erkenntnis" getroffen, sondern mit einem "Das ist grotesk" (oder ähnlich), was einen gehörigen Abstand, einen zum Schweigen "zwingenden" markiert, zumal ihre wirtschaftliche Situation sehr schnell (beispielsweise durch Trittbrettfahrer ihres "Erfolgsmodells") eine (wieder) prekärere sein könnte.
Da für meine Begriffe die Kernfrage, inwiefern wir uns am Ende eines Theaterabends so sonderlich anders befinden sollten als Rias Klienten, augenfällig sowohl durch Stücktext als auch Inszenierung , durch die spielfreudige Atmosphäre, die gleichsam vor allem Ensembleleistung mir ist, zudem, getragen scheint, wundere ich mich auch ein wenig über die, ich möchte es so nennen,(immerhin einseitige) Eilfertigkeit, mit der dieser Abend unter dem Label "Neoliberalismuskritik" etwa von diversen Kritikern firmiert, beinahe im gleichen Atem-Zuge einer dann auch noch interpretativen Überhöhung des biblischen Maria-Motivs, als ginge es um eine Verteufelung von Alexa, Amazon und "Samsnug" zugunsten einer modernen Heiligenlegende oder dergleichen, um etwas wissend forciert Didaktisches mindestens, um ein Aufzeigen mehr denn um ein (Kern-) Fragen. Ich finde, wenn man gerade in jenem "Love will tear us apart" (es ist nicht so lange her, da dieses Lied seine Rolle in "Psychose 4.48" Im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses, bei Katie Mitchell, spielte im übrigen, noch spielt, denke ich, denn "Psychose 4.48" läuft wohl noch dort, so daß sich jemand gut und gerne "Love will tear us apart"-Abende ansehen gehen mag wie ich solche zu "Die Autos und der Tod")-Moment einen der bewegendsten des gesamten Abends ausmacht, wie nicht wenige es tun dürften (die Kritiken legen dies nahe), dürfte es schon sehr verwundern, dann im nächsten Schritt nicht auch von den technischen Möglichkeiten, Errungenschaften, Chancen , die mit der rasanten Entwicklung einhergehen, zumindestens nicht weniger zu reden als über die Gefahren, Verwerfungen, das Prekäre; ich denke, im Gegensatz zu einer ganzen Reihe von Kritikern, daß es Stephens und auch Nübling und dem Ensemble schließlich daran gelegen war, genau diese positiven und negativen Momente , bei aller Rasanz, in der Balance zu halten, was, wie ich finde, zur Bekräftigung der quintessenzlichen Kernfrage dann auch wunderbar gelungen ist durch diese Inszenierung. Begebe ich mich , "Rias Methode" !, auf Youtube und frage nach "Love will tear us apart" stoße ich neben der Joy Division-Version noch auf zig andere, zu Babara Nüsse gesellen sich Björk, The Cure, Depeche Mode und und und bishin zu jener Yat-Kha-Version, die ich bereits zu "Psychose 4.48" ansprach; es ist für mich auch berührend, zu sehen, wenn Dave Gahan diesen Song covert, obschon er doch quasi der König des Synthiekosmos ist, jenes Kosmos , der ua. Wärme und Gefühle in die seinerzeit neuartige synthetische Instrumentenauslage brachte, schöpferisch wurde in verlassenen Industriehallen, Kellern, Abseiten aller Art (davon zeigt auch das offizielle Video des Songs von Joy Division); zu Ähnlichem ermuntert so ein Abend wie "Maria" beispielsweise mich, wenn ich hin und wieder in so einen "Nachtkritikkeller" gehe , etwas wie "Love will tear us apart" auf Threads bezogen steht meiner Einschätzung nach noch weitestgehend aus..
(aber, das war durchaus auch ein installativer Parcours irgendwie, bei dem kaum abzusehen ist, wie lange er Bestand haben wird), noch "AUDRE LORDE" , "CAMILLE CLAUDEL", "HANNAH ARENDT", "ANAIS NIN" und
"GRET PALUCCA". Es gibt in Rostock also offenbar ein Publikum für Sarah Kane, wie es aussieht, und mindestens als ein Wink für die kommende(n) Spielzeitplanung(en) des Volkstheaters wäre das meineserachtens äußerst zu begrüßen (da auch Richard Wagner, Rostock war ja mal eine Hochburg, überklebt wurde, liegt ja sogar die Überklebung des Ringes durch das Kanesche Gesamtwerk nahe (warum nicht in 5 kleinen Abenden im Ateliertheater in Kooperation mit der HMT zum Beispiel ??), was der Frauentag hier irgendwie anregt, anregen könnte und durch "Rias Methode", nämlich auch ein wenig durch die Straßen zu schlendern, um sich "anzuschauen, wo man nicht wohnt" (wie es im Stück heißt), zu erschließen ist. Ob es desweiteren ein "Zufall" ist, daß Sylvana Seddig im August 2010 (LOFFT Leipzig) an einer Produktion namens "Zig Körper- Oi Division" beteiligt gewesen ist oder in "Eine Familie" ihrer Johnna gut und gerne einen "Maria Tallchief-Charme" verliehen hat, mag zudem bezweifelt werden, ein Indiz , denke ich, für die nochmalige Unterstreichung und Charakterisierung beider Abende, "Maria" und "Eine Familie" (deren Schnittmenge quasi Sylvana Seddig bildet, wenn man so will), als ausgesprochene (bemerkenswerte)
ENSEMBLELEISTUNGEN ! Und nun wieder gen Toitenwinkel (Blüchers Geburtsort ...): auf eine "MARIA TALLCHIEF" - Überklebung werde ich wohl kaum stoßen, passen würde die schon (der Hintergrund in Rostock für die Überklebungen von Straßennamen - es gab im letzten Jahr beispielsweise eine solche Aktion mit den Namen der NSU-Opfer- ist ua. beispielsweise das Bestreben (seitens der CDU und AFD ) gewesen, die "Rosa Luxemburg Straße" umzubenennen in "Helmut Kohl Straße")..