Schwarz ist Weiß, Weiß ist Schwarz

von Alexander Jürgs

Frankfurt am Main, 26. Januar 2019. "Heute bin ich mal dran", sagt Komi Togbonou, der einzige Darsteller mit schwarzer Hautfarbe auf der Bühne. "Heute drehen wir den Spieß mal um, heute bin ich mal das Individuum, die Krönung der Schöpfung, heute bin ich mal normal." Und dann geht er sich einen Sklaven kaufen. Einen Haussklaven ganz für ihn allein – und nicht bloß "Slave Sharing", was er auch schon mal ausprobiert hat. Die Darsteller mit weißer Haut buhlen um seine Gunst. Preisen sich an, posieren, betteln, zeigen das Gebiss, die Hände, den Körper. Der Preis purzelt immer weiter in den Keller, von Fünfzigtausend auf Null. Komi Togbonou grinst und brüllt: "Black Friday!" Und das Klavier klimpert "House Of The Rising Sun".

Lauf der Geschichte, reziprok

Mit "sklaven leben" hat Konstantin Küspert, Dramaturg am Frankfurter Schauspiel, eine Was-wäre-wenn-Geschichte geschrieben: Was wäre, wenn der Kolonialismus andersherum verlaufen wäre, wenn nicht der Westen, sondern Afrika den Lauf der Geschichte dominiert hätte, wenn die Schwarzen die Weißen und die Weißen die Schwarzen gewesen wären. Er zwingt die Europäer aufs Flüchtlingsboot, er lässt senegalesische Großkonzerne in den Fanggebieten der Nordseefischer wüten und deutsche Arbeitskräfte asiatische Senioren pflegen. Er lässt schwarze Ethnologen auf die exotisch-fremden Weißen blicken und die Geschichte der Sklaverei im "wilden Europa" spielen.

sklaven leben 1 560 FelixGruenschlo uWe're gonna have a party tonight!  © Felix Grünschloß

Dieser Rollentausch funktioniert erstaunlich gut. Denn indem Küspert den Status Quo einfach umkehrt, zeigt sich sehr eindringlich, wie verkehrt dieser Zustand ist, wie brutal und ungerecht die Machtverhältnisse sind. Sein Stück verfolgt so – oft auch mit den Mittel des Kabarettistischen – eine Praxis der Demaskierung. Und es zeigt die Kontinuität, macht deutlich, dass die Sklaverei noch längst keine historisch abgeschlossene Episode ist: 40 Millionen Menschen leben laut Global Slavery Index zur Zeit in einem Zustand, der als Sklaverei bezeichnet werden muss. Kinderarbeit, Zwangsprostitution, Zwangsehe, die Arbeit in den Sweatshops und einige Ausbeutungsverhältnisse mehr werden dabei erfasst. Insgesamt sind es heute "mehr Sklaven als zur Zeit des Sklavenhandels", heißt es in dem Stück, das im Rahmen des Festivals "Frankfurter Positionen" uraufgeführt wird.

Das Elend der cellphone mums

Revuehaft, nah am Grotesken und bildstark ist die Inszenierung, die Jan-Christoph Gockel für diesen Stoff geschaffen hat. Die Bühne erscheint wie ein posher Fashion-Store, regenbogenbunte Leibchen hängen auf der Stange, darüber ein riesiger, kreisrunder Spiegel. Die Darsteller tragen fesche Zoot Suites oder trashige Kunststoffklamotten in Walter-Van-Beirendonck-Farben, die Afros sind blondiert, die Musik ist laut. Die Szenen sind episodenhaft, wie Schlaglichter.

Eine der stärksten zeigt Torsten Flassig als modernes Hausmädchen, als "cellphone mum", die sich im Ausland um fremde Kinder kümmert und die eigenen nur noch am Smartphone zu Gesicht bekommt. Staksend, nervös, in einer Art Tanga und goldenem Blazer, auf High Heels treibt es ihn über die Bühne. Verzweifelt versucht er, sich die Ausbeutung, die Erniedrigungen und den Missbrauch durch den Familienvater schön zu reden. "Meine Genitalien tun zwar immer noch weh, aber in der Heimat verdiene ich einfach kein Geld", ist einer der brutalen Sätze, die er in der Rolle des Hausmädchens spricht. Wenig später ist die Figur tot, umgebracht. Flassig liegt nun in einem erleuchteten, gläsernen Sarg.

sklaven leben 3 560 FelixGruenschlo uSelbst die Seenotretter stsammen nun aus Afrika oder aus den Tiefen der Mythologie  © Felix Grünschloß

In seinen Text hat Konstantin Küspert viele Themen und Debatten hineingepackt. Es geht um die Frage nach kolonialer Raubkunst, um den noch immer exotisierenden Blick der Ethnologie, um die "Green Washing"-Taktiken der Konzerne. Es geht um die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken und um die Sorge, dass die Digitalisierung der Prekarisierung weiter Vorschub leisten wird. Der Dramaturg zitiert den Theoretiker Achille Mbembe, einen Vordenker des Postkolonialismus, und aus Frantz Fanons Kampfschrift "Die Verdammten der Erde". Doch trotz dieser Themenfülle wirkt sein Stück weder überfrachtet noch theorielastig – woran die auf starke, verdichtete Szenen setzende Inszenierung von Jan-Christoph Gockel sicherlich einen wichtigen Anteil hat. Kämpferisch, aber dabei nie zu plakativ ist das Stück – so würde man sich politisches Theater häufiger wünschen.

Am Ende steht ein verzweifelter Monolog von Sebastian Reiß, der sich darüber beklagt, dass er seinen "Rucksack voller Privilegien" verloren hat, dass er nicht mehr Impressario, Eroberer, Jäger oder König sein kann. Mit all den anderen, die aus Europa geflohen sind, sitzt er in einem Rettungsboot. Die leuchtend-orangenen Westen, die ihn und seine Mitflüchtenden vorm Ertrinken schützen sollen, hat ihnen Komi Togbonou – in der Rolle eines schwarzen Neptuns – überreicht. Selbst die Seenotretter stammen nun aus Afrika, auch dieses Privileg ist den Europäern also abhanden gekommen. Togbonou, der Koloss mit der Brummstimme, geht auf sie zu. Auch er greift sich eine Weste, zieht sie über, setzt sich zu den anderen. Alle in einem Boot: Das erscheint hier wie ein Hoffnungsschimmer.

 

sklaven leben
von Konstantin Küspert
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne und Kostüme: Amit Epstein, Musik: Komi Togbonou, Dramaturgie: Judith Kurz.
Mit: Torsten Flassig, Katharina Kurschat, Christoph Pütthoff, Sebastian Reiß, Komi Togbonou, Luana Velis.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Premiere am 26. Januar 2019

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Historische Vorgänger wie Jean Genet oder Heiner Müller habe Konstantin Küspert nicht aufgesucht, sagt Christian Gampert im Deutschlandfunk (27.1.2019). Ihm gehe es "ganz brav um politische Aufklärung und um uns, die Weißen, die sich bessern müssen". Regisseur Jan-Christoph Gockel siedele "die muntere Performance in einer Art Kleiderkammer" an, "damit die europäischen Sklaven sich immer neue Kostüme anziehen, ihre Zähne zeigen und dann zu Posen erstarren können." Allein, das Elend der Dritten Welt verschwinde nicht, "wenn man die Kolonisatoren zum Teufel jagt". Küspert hänge "einer vulgär-marxistischen Utopie an, indem er die europäischen Sklaven zusammen mit ihrem schwarzen Conférencier in ein Flüchtlings-Schlauchboot bittet und damit suggeriert, dass wir alle in einem Boot sitzen. Dabei ist doch viel eher zu befürchten, dass auf dem Floß der Medusa die Menschen sich gegenseitig verspeisen."

Auch Eva-Maria Magel ist im Rhein-Main-Teil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.1.2019) wenig überzeugt von der Unternehmung: "Es ist nicht gerade die subtilste Form der verkehrten Welt, deren sich Konstantin Küspert bedient, um den Leidensdruck zu zeigen, unter dem die Welt ächzt." In dem "teamorientierten Probenprozess" sei allerdings "irgendwie das Theater abhanden gekommen": "Sklaven leben" sehe "bestenfalls wie ein auf die Bühne geworfenes Brainstorming aus, in dem sich sehr hölzerne Referate von Kolonialgeschichte samt umgekehrter Sklavenauktion mit Ausbrüchen theatraler Selbstbespiegelung abwechseln."

Ein*e namenlose*r Kritiker*in hat für die Frankfurter Rundschau (27.1.19, 17:30) einem "aufgekratzten Abend" beigewohnt: "In kaleidoskopartigen anderthalb Stunden geht es quirlig um Ausbeutung und die Muster dieser Ausbeutung, um Rollenklischees vom 'Schwarz'- und 'Weiß'-Sein". Allerdings fragt sie/er sich, ob der attestierte Perspektivwechsel in "Sklaven leben" tatsächlich stattfindet – oder ist das Stück "bloß ein Spiegel für bornierte Nordwestler, die – wie [Sebastian] Reiß am Ende – verzagen, wenn ihnen der Rucksack mit ihren Privilegien abhanden kommt?"

Kommentare  
sklaven leben, Frankfurt: Epic White Fail
Leider wissen wir - auch nach stundenlangem Überlegen - nicht, an welchem Punkt wir am besten ansetzen und fragen sollen, ob Autor, Regisseur, Dramaturgin, Kostümbildner und Kritiker eine Sekunde lang über das von ihnen gemeinsam erschaffene Werk und Kritik nachgedacht haben.

Einen Hinweis von vielen werfen wir in die Runde, mit der Hoffnung, er wirft ein paar mehr Fragen zu den verwendeten Mitteln und Merkmalen auf:

Sind die in dieser Kritik "Afros" genannten Naturals ein eindeutiges Zeichen von Unterlegenheit? Und sollen die weißgefärbten Stammesmasken auf das reproduzierte und in dieser Kritik verwendete Bild des "Wilden" hinweisen? Soll die blodenHaarfarbe Rassentheorien unterstreichen? Es gibt noch viel viel mehr, worüber nachdedacht und was nochmal überprüft werden sollte, bevor große Denker*innen wie Achille Mbembe und Frantz Fanon zitiert werden.

(An dieser Stelle, lieber Herr Jürgs, es handelt sich in diesem Fall um eine Dramaturgin und nicht um einen Dramaturgen - ja - auch wenn es für Sie noch schwer zu fassen ist)

(An dieser Stelle, lieber Herr Jürgs oder liebe Frau Kurz, es macht großen Spaß in die Verwendung des Komplexes "Schwarz" in Achille Mbembes Werk einzutauchen, bevor man diesen Begriff verwendet)

Allein im deutschsprachigen Raum lassen sich unzählige Denker*innen, Expert*innen und Künstler*innen finden, mit denen diese Produktion hätte reflektiert werden können, bevor ein weiteres Publikum mit dieser eurozentristischen Perspektive ein weiteres Mal vergiftet wird.

Generell hilft es aber sehr, wenn unbedingt politisch gearbeitet werden möchte, ein repräsentativeres Team zusammenzustellen, das mehr Perspektiven und Wissen bieten kann.

(An dieser Stelle, lieber Herr Weber, wäre es am politischsten, dieses Stück entschieden abzusetzen und sein zu lassen oder ggf. einen neuen Versuch in neuer diverser Konstellation zu wagen)

Fazit: Leider scheinen wir noch lange nicht im selben Boot zu sitzen.
sklaven leben, Frankfurt: Wunsch nach diffenzierter Auseinandersetzung
Ich würde mir an dieser Stelle und zu diesem Thema tatsächliche und wertschätzende Auseinandersetzung wünschen, in der man sich die Arbeit macht differenzierte Kritik zu üben, statt hinter passiv aggressiven Formulierungen Kompetenz zu behaupten und sie gleichzeitig anderen abzusprechen. Denn darum geht es nicht. Dem Stück den Anspruch auf Deutungshoheit zu unterstellen, zeugt für mich von grundlegendem Missverstehen und scheint mir in der Sache wenig zielführend.Interessant und dem Diskurs förderlich wäre eine differenzierte Beschreibung und Kritik der wahrgenommenen Reproduktionen statt der Verkündigung einer grundsätzlichen Resignation gegenüber politischem Theater. Nachdem ich #1 nun mehrfach gelesen habe, stellt sich mir die Frage, wer hier wen vergiftet und was zur eigentlichen Problematik beitragen soll.
sklaven leben, Frankfurt: Konsequenz
Leider geht die Antwort nicht auf die gestellten Fragen ein und bittet lediglich um mehr Verständnis für reproduzierte Rassismen. Dafür haben wir in der Tat kein Verständnis und das trotz der von Ihnen sehr gut verwendeten diskursiven Begriffe. Anders kann ich die im Stück verwendeten Mittel leider nicht verstehen, oder können Sie mir da weiterhelfen?

Ganz Ihrer Meinung sind wir jedoch bei einem Punkt und zwar dem Wunsch nach differenzierter Auseinandersetzung, was dem Team hinter der Produktion unserer Meinung nach nicht gelang.

Und nein, es ist keine Resignation gegenüber politischem Theater, ganz im Gegenteil, es ist die Bitte sich politischem Theater unter Einbindung von mehr Positionen und Perspektiven zu widmen.

Abgesehen davon, dass Herrn Küsperts Entwurf unserer Meinung nach nicht so ganz gelungen ist, hätte man in der Konsquenz auch über die Auswirkung auf die Besetzung und Strukturen im Theater nachdenken können. Denn im Sinne der Erzählung Herrn Küsperts, wären Intendant*in, Regisseur*in, Autor*in, Dramaturg*in, Bühnenbilder*in....eher schwarz. Wie gelungen ist Ihrer Meinung nach die Zusammensetzung des Teams und die Besetzung des Stückes bei dem gewählten Thema. Für solche Fehler, die seit nun mehr als 15 jahren auch im Theater Teil des Diskurs sind, können wir leider weder Wertschätzung noch Verständnis aufbringen. Es ist einfach nur grotesk.

Sie können sich fragen, warum ein Haus, das sich ausdrücklich für eine bestimmte personelle Zusammensetzung entschieden hat, kritisches postkoloniales Theater machen wollen würde.
Sklaven leben, Frankfurt: ins Absurde
Verehrtes WHY-NOT-KOLLEKTIV,
in chronologischer Reihenfolge und aller Kürze:
- Die blonden Perücken: Aus meiner Sicht (und eigentlich auch ziemlich offensichtlich) spielten diese mit den im 19. Jahrhundert willkürlich festgelegten „Rassenmerkmalen“. Schwarze Haare – stets als negativ beschrieben – wurden als Symbol der Unterdrückung klassifiziert. Dabei sind diese natürlich nicht per se ein „eindeutiges Zeichen für Unterdrückung“, wie Sie es dem Abend vorwerfen. Das offene Tragen von schwarzem Haar in seinem natürlichen Zustand ist zu einer „komplexen und politisierten Handlung geworden“, wie es Natasha A. Kelly beschreibt, „und kann als Ausdruck der Befreiung verstanden werden.“ Nichtsdestotrotz sind dies Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, alte Denkmuster sind noch stark verankert. Die blonden Perücken enttarnen diese alten Praxen, ziehen sie ins Absurde.

- Die weißgefärbten Stammesmasken: Stichwort Restitution, Stichwort: Kritik an der einseitigen und klischierten Darstellung/Wahrnehmung der Bürger*innen des afrikanischen Kontinents,...siehe oben: Enttarnung eingeübter kultureller Praxen...

- Frau Kurz ist eine Dramaturgin, ja. Aber Herr Küspert eben Dramaturg - neben seiner Tätigkeit als Autor. Und um den ging es bei der von Ihnen zitierten Stelle der Nachtkritik.

- Sie sprechen in Ihrem Kommentar von einer eurozentrischen Perspektive – Sie nennen den Namen Komi Togbonou kein einziges Mal. Und der war nicht nur der Protagonist des Abends, sondern auch Teil des Leading Teams.

- Vielleicht lesen Sie auch einmal in den Biographien der beteiligten Personen, bevor Sie diesen Nicht-Wissen attestieren. Dafür, dass Herr Gockel weiß und ein Mann ist, kann er nichts. Zensiert werden sollte er deswegen aber nicht, vor allem da das Team ihr privilegiertes Sprechen an diesem Abend SEHR DEUTLICH zum Thema macht.

Liebes Why-Not-Kollektiv, Sie fordern verschiedene Perspektiven: Dieser Abend war EINE Perspektive! Die Perspektive eines (doch diversen) Teams europäischer Theatermacher*innen. Ich freue mich auf weitere Perspektiven! Wir wollen doch in einen Dialog miteinander treten!

Ich will mich hier auch gar nicht weiter darin versuchen, Ihnen den Abend zu erklären. Aber vielleicht wäre es am politischsten, Ihren Beitrag zur Diskussion kritisch zu hinterfragen (Stichwort: vergiften, ...). Es macht auch großen Spaß!
Sklaven leben, Frankfurt: ins Absurde
Verehrte Lea,

wir sind über die Diskussion sehr erfreut.
Aus diesem Grund haben wir sie ja auch angestoßen!
Auch von uns in Kürze, mit der Hoffnung, es kommt mehr an, als die Tatsache, dass wir den Stoff, sowie die Umsetzung kritisch sehen.

- Nach der Deutung der Haare haben wir in unserem ersten Kommentar gefragt und gar nicht geurteilt. In Ihrer Antwort bestätigen Sie, es sei eine Reproduktion einer eurozentristischen Klassifizierung aus dem 19. Jhrh. Offensichtlich ist nur, dass im deutschen Stadttheater oft auf alte Rollenverständnisse aus einer eurozentristischen Perspektive zurückgegriffen wird, diese dann auf der Bühne reproduziert und sich dann hinter dem Argument der "Überspitzung" und des "ins Absurde führens" versteckt wird. So werden nach wie vor zum Beispiel Frauenrollen aus vergangenen Jahrhunderten von weißen männlichen Regisseuren auf Bühnen reproduziert und dann "ins Absurde geführt". Das Produktionsteam erklärt seine reflektierten Intentionen, konfrontiert das Publikum aber mit Bildern, die für viele verletzend sind. Und ich hoffe, Sie sehen einen Unterschied darin, wenn Natasha A. Kelly zu diesem Thema eine Entscheidung trifft und ein Symbol für ihren Kampf verwendet und wenn Herr Gockel, sich ein Symbol aneignet und dieses "ins Absurde führt". Uns würde Natasha A. Kelly's Meinung zum Abend auch sehr interessieren.

- Wieder eine Reproduktion mit dem Argument, man wolle damit arbeiten. Die Reproduktion rassistischer Merkmale ist eine Bestätigung dieser und steht nicht dem mitteleuropäischen Bildungsbürgertum als ästhetisches Mittel zur Verfügung. Wir erleben genug davon im Alltag, oft mit dem Argument, es wäre doch nicht so ernst gemeint. Es wäre ja übertrieben. Wir brauchen keine öffentlichen Institutionen, die das auch noch befeuern.

- Dann war es ein Misverständnis unsererseits. Hätte ja auch sein können, dass neben Herrn Gockel und Herrn Küspert auch mal die Dramaturgin der Produktion erwähnt wird.

- Wir haben Komi Togbonous Namen nicht angesprochen, weil er sowohl im Artikel, als auch auf der Seite des Stückes und des Schauspielhauses nur als Schauspieler und Musiker aufgelistet ist. Er ist der einzige Gast dieser Produktion und die einzige POC in einer Produktion über die Kolonialgeschichte. Der Stoff kommt von einem weißen europäischen Mann, die Regie übernimmt ein weißer europäischer Mann. Komi Togbonou ist nirgendwo als Teil des Leading Teams erwähnt.

- Natürlich kann Herr Gockel nichts dafür, dass er weiß ist. Und auch weiße Männer sollen sich Ihrer Privilegien und Geschichte bewusst werden und diese in ihrer Arbeit und in ihrem Alltag reflektieren. In diesem Fall ist es ihm aber leider nicht gelungen. Die Aneignung rassistischer Merkmale (wenn sie sich die Kostüme anschauen, entdecken sie viele) sind zum Beispiel ein Zeichen dafür, kein Bewusstsein dafür zu besitzen, wer in dem Moment mit welchen Mitteln über wen spricht. Und da hilft das Hintertürchen der Überspitzung und der künstlerischen Mittel leider nicht. Das "europäisch diverse Team" schien da auch nicht geholfen zu haben.

- Auf zwei Punkte gingen Sie in Ihrer Rückmeldung nicht ein. Warum möchte ein Haus auf der Bühne politisch sein, ohne sich diese Frage in der eigenen Struktur zu stellen. Ist es nicht merkwürdig, dass das gesamte Team und das gesamte Ensemble weiß ist? Und was möchte man mit dieser Umdrehung der Geschichte? Würde man eine Umdrehung der deutschen Geschichte mit der Aneignung und Verwendung verletzender Merkmale tolerieren? Würde man sich eine Umdrehung der patriarchalen Realität mit Verwendung aller Diskriminierungsmerkmale wünschen? Wir nicht.

Uns macht das Diskutieren sehr viel Spaß. Umso mehr freuen wir uns auch über diese hier und hoffen, sie führt zu weiteren Diskussionen und verhindert weitere Reproduktionen und Verletzungen auf deutschen Bühnen.
Sklaven leben, Frankfurt: Yes, why not?
Zunächst einmal Liebe Lea,

Hut ab vor Ihrer zivilisatorischen Leistung, auf die Ausführungen des „Why-not-Kollektiv“ mit solcher Geduld und solchem inhaltlichen Entgegenkommen geantwortet zu haben. Ich möchte versuchen, es Ihnen gleich zu tun.

Liebes „Why-not-Kollektiv“,
(...)

- Natürlich gibt es Feigheit in der Welt, z.B. die, sich hinterm „Aufzeigen“ zu verstecken, um bloß zu reproduzieren. Um die zu diagnostizieren, reicht es aber bei Weitem nicht, die Reproduktion auf der Bühne einfach nur zu sehen, denn: für die Reproduktion ist die Bühne da. Deshalb geben wir ihr jedes Jahr Millionen. Alles Übel der Welt muss auch auf die Bühne. Oder möchtest Du „Richard III.“ verbieten, weil er den Mord an unschuldigen Menschen „reproduziert“? Das sei etwas völlig anderes? Warum genau?
- Da Dich die „echten“ Verhältnisse hinter den Kulissen so interessieren: Kennst Du die Biografien der Teammitglieder so genau, dass Du ihnen die gewünschte Kompetenz ab- und klaren Eurozentrismus zusprechen kannst? Oder schließt Du das einfach aus der weißen Hautfarbe?
- Und andersrum: glaubst Du wirklich, der Eurozentrismus wäre vermeidbar? Wir sahen ein fulminantes Beispiel der (eurozentrismusgeschuldeten) Unfähigkeit des (unterdiversen) deutschen Stadttheaters, das selbst gesteckte Ziel dieses Abends zu erreichen. Ein wunderbar streitbares Zeitdokument. Denn: Jedes echte Kunstwerk erzählt mehr, als es erzählen will.
- Du beschreibst an zwei Stellen den Glutkern Deiner Vorwürfe als „Verletzungen“. Das sind sicher Deine eigenen? Das interessiert mich ernsthaft und ohne Ironie: was hat Dich persönlich genau verletzt? (Denn in diesem Fall und Kontext für Andere zu sprechen, wäre doch eine patriarchale Aneignung, die an Eurozentrismus gar nicht zu überbieten wäre.)
- Aber eine weitere - und die größte - Ungeheuerlichkeit, die Du leichter Hand in den Raum wirfst: die Idee, den Abend früher als geplant abzusetzen, weil er Deinen persönlichen TÜV nicht passiert. Noch leben wir zum Glück in einer Gesellschaft, die es sich leisten kann, solche Wortmeldungen zu ignorieren, aber ist Dir bewusst, dass diese Idee mit einer pluralen, freien Demokratie gar nichts mehr zu tun hat? Welch Geistes Kind bist Du? In der Kunst gilt (ZUM GLÜCK!): der Empfänger entscheidet nicht, was gesendet wird.

Mit Gruß in die Runde,

Marco Becker.
Kommentar schreiben