Sternstunden der Alltagsexperimente

von Anne Peter

Tampere, August 2008. Ein Publikum im Quietschvergnügtheitseifer. Es gluckst, kichert, prustet, lacht. Zum Beispiel über einen Schauspieler im Schlittenhundkostüm. Oder über eine als Neandertalerin verkleidete Frau im XXL-Fatsuit, die nicht durch eine Tür passt. Oder über den ob der grönländischen Temperaturen auf dem Klo festgefrorenen Hintern der pubertierenden Tochter dieser Neandertalerin. Dies sind nur einige der zahlreichen Fröhlichkeitsanlässe in der finnischen Klimakatastrophen-Komödie "Kohti Kylmempää" ("Towards Colder Climates"), bei der die persönlichen Herzensnöte auf Polar-Expedition mutmaßlich das arktische Eis zum Schmelzen bringen.

Zu sehen ist die grotesk überdrehte Inszenierung von Leea Kleemola beim "Teatterikesä", dem "Theatersommer" im finnischen Tampere. Es ist eines der wichtigsten Theaterfestivals in Nordeuropa, das alljährlich im August für eine Woche nicht nur das lokale Publikum anzieht, sondern auch viele ausländische Gäste in die drittgrößte Stadt Finnlands lockt. Die anderthalb Zugstunden nördlich von Helsinki zwischen zwei großen Seen gelegene Industriestadt zählt bei 200.000 Einwohnern über zehn Theater, die fast immer voll sind. An der Universität kann man Schauspiel und Theaterwissenschaft studieren. Am Theater kommt hier niemand so leicht vorbei, eben auch weil man ständig an einem der vielen "teatteri" vorbeikommt.

Schaufenster und Saison-Highlights

In der Nähe des Festival-Zelts in der Stadtmitte wehen auf einer Brücke die Flaggen der neun Länder - Libanon, Griechenland, Frankreich, Lettland, Estland (nachtkritik zu "Heiße estnische Männer" hier), Schweden, Dänemark, Island und die Färöer-Inseln -, aus denen in diesem Jahr die internationalen Produktionen stammen. Sie machten zusammen mit 18 finnischen Inszenierungen das Hauptprogramm aus – eine Kombination aus Welttheater-Schaufenster nordischen Schwerpunkts und den Highlights der finnischen Theatersaison.

Das ausufernde Rahmenprogramm umfasst auch noch eine Off-Leiste und ein Club-Festival, was das Theaterevent geradewegs zum Stadtfest ausweitet. In den parallel stattfindenden Seminaren des Nordic Showcase & Drama Forums diskutiert man hingegen über neue Stücke, Identitäts- und Genderfragen, Trends und Netzwerke.

In diesem Jahr findet der Theatersommer zum 40. Mail statt. Im ersten Festivaljahr 1969 war die "Hair"-Version des Tampere Pop Theatre der große Hit (wie man in der kleinen Jubiläumsausstellung in der Stadtbibliothek erfahren kann), 2008 ist es Alvis Hermanis' "The Sound of Silence" (nachtkritik hier) aus Riga, eine Produktion, die ganz ohne Worte zu den Songs von Simon & Garfunkel mit einem wohlig niederschauernden Regieeinfallssprühregen im Retro-Look die Zeit der Festivalgründung heraufbeschwört. Ein melancholisch angehauchter Peace & Love-Reigen aus so bezaubernden wie harmlosen Mikroszenen, in denen die Melodien wie unsichtbare Flaschengeister aus Gläsern entschlüpfen und gierig aufgetrunken werden, Haare auf dem Bügelbrett geplättet und Hochzeitskleider auf Minirockkürze gebracht werden.

Flaschengeister, Sonderlinge, Special-Effect-Shows

Während es bei Hermanis vorwiegend die Dinge sind, die die Musik machen, bringt Serge, der anrührend verschrobene Sonderling in "L'Effet de Serge" von der um Regisseur Philippe Quesne versammelten Gruppe "Vivarium Studio" aus Frankreich, mittels Stereoanlage die Dinge selbst zum Tanzen. Allsonntäglich lädt dieser traurige Clown (Gaëtan Vourc’h) Gäste ein (dargestellt von lokalen Laien), um ihnen liebevoll dilettantische Special-Effect-Shows vorzuführen – kleine Sternstunden des Unspektakulären.

Dann lässt er etwa sein ferngesteuertes Auto zu Händel-Musik eine Wunderkerze spazieren fahren oder blinkt und leuchtet mit der Autolichtanlage zu Wagner. Experimente eines Einsamen, Anbasteln gegen das Allein-Sein, was er da in seinem lediglich mit einer Tischtennis-Allzweckplatte möblierten Single-Zimmer veranstaltet. Doch Serges Geschenke bleiben unverstanden – seine Gäste klammern sich betreten ans Weinglas und verschwinden nach einem Höflichkeitskompliment schnellstmöglich wieder aus seiner Wohnung.

Die Mischung macht's

"L'Effet de Serge" ist vielfältig lesbar: als Theater über Theater wie über das Sinnstiftungsversprechen der Kunst, als Parodie auf den Betrieb sowie als Studie über zwischenmenschliche Beziehungen. Der eigentliche Serge-Effekt jedenfalls ist: große Theaterliebe! Gefallen findet auch die hochintelligente Doku-Theater-Performance des libanesischen Künstlers Rabih Mroué, der schon oft im Berliner Trend-Entdeckungsschuppen Hebbel am Ufer zu Gast war.

In "Looking for a Missing Employee" geht es nicht nur um einen verschollenen Angestellten des libanesischen Finanzministeriums, sondern wie dieser ist auch der Regisseur und Darsteller Mroué "present, yet invisible" – er sitzt hinter dem Publikum vor einer Kamera, während auf der Bühne ein Bildschirm über einem leeren Stuhl deren Aufnahme überträgt. Mittels gesammelter Zeitungsausschnitte zum Fall des Vermissten, die er vorliest und fein ironisch kommentiert, entfaltet sich trotz Komik ein haarsträubendes Bild von Korruption und Intransparenz sowohl der libanesischen Politik wie der Medien, die sich in widersprüchlichster Berichterstattung verstricken, wobei auch der Zuschauer nur allzu bald (und gewolltermaßen) den Überblick verliert – politisches Theater über die konkreten Verhältnisse im Libanon wie über die generelle Unauffindbarkeit von Wahrheit in aller Welt.

In der Tradition des Texts

Ästhetische oder thematische Linien lässt die Festivalauswahl in Tampere kaum erkennen. Vielmehr kommen bei diesem Potpourri die unterschiedlichsten Geschmäcker auf ihre Kosten. Dabei bieten die internationalen Einladungen tendenziell die mit Spielweisen und Theatermitteln phantasievolleren Umgangsweisen. Die finnische Theaterszene hingegen pflegt vielfach das Wort, die Geschichten und die fröhliche Volkstümlichkeit.

Das Festival erfüllt auch wesentlich nationalidentitätsbildende Funktion in der noch verhältnismäßig jungen Republik Finnland. Gleich drei Inszenierungen des ersten Romans in finnischer Sprache (erschienen 1870) sind eingeladen – die "Sieben Brüder" von Aleksis Kivi kennt in Finnland jedes Kind –, drei verschiedene Versionen der Zivilisierungsgeschichte von sieben Waisenbrüdern, die erst des freien Waldlebens frönen und dann doch ihren Weg in die Gesellschaft finden.

"Das Theater ist hier nicht so elitär wie in Deutschland", sagt der Finnisch-Deutsch-Übersetzer Jukka-Pekka Pajunen, einer der drei Kuratoren unter Festivalleiterin Hanna Rosendahl, die in diesem Jahr ihren Tampere-Einstand gab. Pajunen erklärt die andere Tradition, in der das finnische Theater steht: Amateur- und Arbeitertheater statt feingeistige Hoftheater und moralische Anstalt.

Fließende Grenzen, familiäre Atmosphäre

In der Tat schien der Unterhaltungsaspekt bei der Auswahl ein Hauptkriterium zu sein (wobei der finnische Humor sich dem ausländischen Gast nicht immer erschloss), die Grenzen zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur waren fließend. Vielleicht unterschätzte man bisweilen auch das Publikum? Schließlich nahm es auch die ästhetisch experimentelleren Arbeiten aus dem Ausland, wie die von Hermanis, Quesne oder Mroué, mit großem Wohlwollen auf und war dabei alles andere als überfordert.

Auf die Festivalatmosphäre außerhalb des Theatersaals jedenfalls wirkt sich die anti-elitäre Haltung überaus positiv aus. In den beiden Kneipen nahe des Festivalbüros mischten sich Künstler und Organisatoren genauso wie internationale Festivalmacher, Korrespondenten und Zuschauer. Von jener Cliquen- und Dünkelhaftigkeit, die Theaterevents im deutschsprachigen Raum bisweilen anhaftet, war dort kaum etwas zu spüren. Am Ende lud man die Gäste gar zur gemeinsamen Abschluss-Schwitzstunde in die Sauna. Eigentlich schade, dass sich eine so typisch finnische Radikalkur wohl schwerlich exportieren lässt.

 

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