Traurige Tropfen

von Tobias Prüwer

Chemnitz, 26. Januar 2019. Platsch! Wasser spritzt, als die Junge Frau mit einem Sprung in die Swimmingpoolbühne den Abend eröffnet. Mit ähnlichem Getöse platzt sogleich die restliche Badegesellschaft in die Inszenierung. Was als Familienschwank beginnt, lässt Nina Mattenklotz allmählich in einen See aus Melancholie zerfließen. Denn bald geistern die titelgebenden "Einsame Menschen" durch die blau geflieste Badelandschaft am Theater Chemnitz. Und ein als Gartenzwerg deplatzierter Akkordeonspieler gibt ihnen wehmütige Musikfetzen vor, die die Gefühlslage der Inszenierung beisammenhalten.

Familie am Beckenrand

Wie ein Bauchklatscher zeigt sich auch das Ankommen von Anna Mahr in der Familienidylle am Müggelsee. Am Berliner Großstadtrand will die junge Studentin einen Künstler besuchen, der bei Freunden weilt. Sie rüttelt die Familie ordentlich durcheinander, die das Elternpaar Vockerat als Hort der Seligkeit imaginieren. Dabei ist ihr Sohn von Versagensängsten heimgesucht, quält sich beim Verfassen einer philosophischen Schrift und fühlt sich unverstanden. Seine Frau Käthe ist ebenso einsam, kann sich mit ihrer frischen Mutterschaft nicht identifizieren. Die Sinnsprüche der alten Vockerats – "Der Mensch denkt, Gott lenkt." – helfen beiden nicht weiter. Da kommt Anna Mahr zur rechten Zeit. Die Intellektuelle bringt geistige Anregung für den strauchelnden Schreiber und ist Sehnsuchtsfigur und Rollenmodell für die aufs Mamadasein reduzierte Frau. Anna Mahrs Katalysatorwirkung reißt den feinen Bruch in der Familienkonstellation nun richtig auf. Es platzt auseinander, was auseinander platzen muss.

Einsame Menschen 1 560 Dieter Wuschanski uTief tauchen? Nein, das Wasser steht nur zentimetertief in "Einsame Menschen" in Chemnitz © Dieter Wuschanski

Bis Mahr in die Inszenierung rauscht, schleppt sich diese dahin. Trotz des gut bespielbaren Bühnenbilds, das einzig einen zum Publikum offenen Pool zeigt, rennen alle am Beckenrand entlang oder durchs nur zentimertiefe Wasser. Mit Volkstheateranleihen stellen sich die Spielenden mit großer, stets eindeutiger Geste immer wieder neu im Raum auf.

Seraina Leuenberger als Mahr setzt dazu einen durch Esprit und Elan geprägten Gegenpunkt. Jetzt hat auch Jan Gerrit Brüggemann mehr Chancen, als Johannes Vockerat körperlich anders zu spielen. Während das Gros der Darsteller zu sehr Abziehbilder ihrer Rollen bleiben, bricht er in Momenten aus dem Einheitlichen Spiel von Schulterzucken, Haare raufend an den Kopf greifen und die Arme ausbreitend anzudeuten: "Ich weiß nicht weiter, bin verzweifelt." Allerdings gelingt ihm das zu selten.

Viel Kleidung an der Wäscheleine

Das mag auch daran liegen, dass sich Regisseurin Nina Mattenklotz vor allem auf zwei Frauenfiguren konzentriert. Bei Autor Gerhard Hauptmann lag der Fokus auf der bröckelnden Familienbande an sich und dem Mann, der sich hier unterfordert nicht entfalten kann. In Michael Thalheimers Fassung (2003 von ihm am DT Berlin inszeniert) sind es alle Figuren, die unter Druck von Zuschreibung und Selbstentfaltung stehen. Für Mattenklotz bildet das den Rahmen, mehr aber auch nicht. Bei ihr tragen Wäscheleinen immer mehr Kleidungsstücke und deuten die Familienbeziehungen an. Die intimen Situationen zwischen Mahr und Käthe dienen eher als Passepartout. So ist man bei Magda Decker als Käthe immer dicht dran an ihren Gefühlen. Aus ihrem leeren Blick spricht innere Verzweiflung wirklich heraus, da ist irgendetwas gebrochen. Auch mit kleinen Gesten erreicht sie Berührung. Nur die Szenen, in denen sie rumschreit, fallen da ab. Doch dann ist sie wieder bei sich und sogar mal glücklich, als sie sich mit inniger Umarmung und Küssen Anna Mahr nähert.

 Einsame Menschen 2 560 Dieter Wuschanski uBesonderes Paar: Seraina Leuenberger als Anna Mahr, Jan Gerrit Brüggemann als Johannes Vockerat © Dieter Wuschanski

Seraina Leuenberger beim Spiel zuzusehen, ist eine Freude, sie ist das Herzstück des Abends. Sicherlich, mit Anna Mahr darf sie die zentrale Figur der Inszenierung geben. Sie ist das Andere, das in die vermeintlich heile Welt platzt. Ihr als Fremde gilt nicht nur das Interesse der anderen Charaktere, sondern auch das der Regisseurin.

Ausdrucksstark

Leuenberger schafft es aber, kein Klischee von ruchhafter Frau von Welt, burschikoser Emanze oder abgeklärter Großkopferten auf die Bühne zu bringen. Ausdrucksstark ist sie bereits mit minimalen Mitteln, da reicht schon mal eine schief gezogene Augenbraue oder fester Aufritt beim Gehen. Sie darf auch als einzige mehr in kleinen Spielereien entfalten. Wie ein Harlekin karikiert sie Tiraden mit von aufgemalter Maske unterstützter, lustiger Mimik.

Bei einem Handpuppenspiel mit einem Aufblashai persifliert sie herrlich nachäffend ein zuvor nur aus Gebrülle bestehendes Streitgespräch. Leuenberger hat Raum und nutzt ihn, spielt charmant, ohne bewusst gegen die anderen Spielenden aufzutrumpfen und schafft damit einnehmende Theatermomente. Während der Akkordeonist (Steffan Claußner), als melancholischer Untermaler heimlicher Held die Grundstimmung der Inszenierung aufrechterhält, sprengt sie begeisternd die Fesseln dieser lethargischen Familienaufstellung.


Einsame Menschen
Drama von Gerhart Hauptmann nach der Fassung von Michael Thalheimer
unter Mitarbeit von Oliver Reese
Regie: Nina Mattenklotz, Bühne und Kostüme: Johanna Pfau, Dramaturgie: Kathrin Brune.
Mit: Jan Gerrit Brüggemann, Magda Decker, Seraina Leuenberger, Christian Ruth, Susanne Stein, Andreas Manz-Kozár, Steffan Claußner.
Dauer: 1 Stunde 50 Minute, keine Pause
Premiere am 26. Januar 2019, Theater Chemnitz

www.theater-chemnitz.de

 

Kritikenrundschau

"Gemütlich sind die zwei Stunden ohne Pause nicht, eher anspruchsvoll", so Sarah Hofmann in der Freien Presse (28.1.2019). Die Regie lege den Fokus auf die drei weiblichen Figuren, auf die drei Phasen, die die Gesellschaft einem Frauenleben zuschreibt. "Dazwischen werden die Männer auf Sinnsuche zerrieben." Auch Hofmann hebt Seraina Leuenberger hervor, die in ihrer Rolle mit Lust die Ketten der familiären und bürgerlichen Konventionen sprenge.  Fazit: "eine Herausforderung, die sich lohnt."

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