Offene Rechnung

von Anna Landefeld

München, 27. Januar 2019. "Klack". Immerzu "klack" machen die drei Absatzpaare. Lustig zunächst, so wie das der namenlosen jungen Frau, die es liebt, wenn es in den Straßen schön klackt beim Müllrunterbringen. Doch langsam geht das freudige, arhythmische Geklacker in eines über, das gespenstisch ist. Links, zwo, drei, "klack" hallt es auf der Kleinen Bühne im Münchner Volkstheater. Ein Widerhall von Vergangenem, das so laut war, dass es bis in unser Heute nachklingt.

In Maya Arad Yasurs "Amsterdam" ist dieses nachklingende Vergangene ein Brief aus dem Jahr 1944. Eine unbezahlte Gasrechnung in Höhe von 1700 Euro, die eines morgens unter der Tür einer jungen Frau hindurchgeschoben wird. Die namenlose Hauptfigur, im neunten Monat schwanger, Geigerin und Jüdin aus Israel, lebt in Amsterdam und will nun herausfinden, was es mit dieser Gasrechnung auf sich hat. Sofort natürlich Assoziationen: Gas, jüdisch, Holocaust, unbezahlte Rechnung. Nach und nach fügt sich Detail für Detail zusammen fast wie in einer (poetischen, assoziationsreichen) Detektivgeschichte. Nur dass "Amsterdam" wendungsreicher und nervenaufreibender ist. Weil das Drama, für das die israelische Autorin 2018 den Werkauftrag des Stückemarkts des Berliner Theatertreffens gewann, zu raffiniert ist, als dass es die einzig wahre Erzählung von etwas sein könnte. In Yasurs auskomponierter Sprechpartitur sind gut und böse, wahr und unwahr wie eine dieser M.-C.-Escher-Treppen: nichts weiter als Trugbilder.

Das Grauen in Glitzerglanz

Als Trugbild inszeniert auch Regisseurin Sapir Heller die deutschsprachige Erstaufführung von "Amsterdam": als eigenwillige Minimalismus-Show mit grellen Show-Lampen, einem Show-Bogen, an dem sich die Schauspieler*innen artistisch entlanghangeln. Der Bogen markiert Wohnung, gynäkologische Praxis, Clubgewölbe oder Traum-Höhle, und die drei Show-Master*innen Jonathan Hutter, Philipp Lind und Nina Steils marschieren im SS-Standarten-Schritt in Funkelpumps auf oder drehen nach Wörtern wie "Völkermord" oder "Judenfotze" Pirouetten. Ja, unter dem Glitzerglanz der grünen Satinhosen und Paillettentops schlummert Grauenhaftes.

Amsterdam 1 560 GabrielaNeeb uVerkörpertes Gedankengewitter: Nina Steils, Jonathan Hutter, Philipp Lind © Gabriela Neeb

Keineswegs ist das groteske Terzett nur eine Aufsplittung der namenlosen jüdischen Geigerin, keineswegs sind die drei tatsächliche Figuren. Heller geht solch ein vereinfachender Realismus ab, und das ist gut, wenn man auf Wahrheits-Suche ist. Stattdessen sind die drei bei ihr menschgewordener Text. Sie sind die gesprochenen, kritischen Fußnoten zum niederländischen Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, den Widerstand, den Holocaust und den Umgang mit den wenigen Überlebenden. Sie sind die Wortfetzen aus der Thora oder aus dem Holländisch-Grundkurs, den die Geigerin besucht. Je nach Szene schlüpfen sie in unterschiedliche Rollen. Dann sind sie der antisemitische Gynäkologe und Theaterfrau Viktoria, deren Hyper-Feminismus arg in Richtung Islamophobie abdriftet. Oder sie sind der Beamte der Stadt Amsterdam mit der gehorsamen Beamtenmentalität, der einfach nur will, dass jemand diese Gasrechnung endlich bezahlt. Sie sind aber vor allem die atem- und ruhelose Stimme im Kopf der Geigerin in einer vermeintlich weltoffenen Metropole, die sie zu einer Fremden macht.

Gedanken-Geballer

Und ab geht's: Hutter, Lind und Steils stehen hintereinander gereiht in Show-Formation, das Grinsen wie angeknipst auf den Gesichtern, bereit zu entertainen. Szenario an der Supermarktkasse, banaler Alltag. Die schwangere Geigerin, hinter ihr ein junger weißer Mann mit gelangweiltem Blick. Sie findet aber, sein Blick sei eher kritisch oder je nachdem – was ihre Paranoia sonst noch so hergibt. Ein lautes "Sie denkt, dass er denkt, dass sie denkt und so weiter", und schon findet man sich knietief im widerlichen Ressentiment-Morast. Hin und her ballern die Gedanken in ihrem Kopf. Sollte sie Englisch reden, damit er sie für eine Akademikerin hält? Oder lieber Holländisch, aber was ist mit ihrem Akzent? Hält er sie für eine Muslima, weil sie Pastrami, halal, kauft und keinen Schinken? Ja genau, so muss es sein: Er denkt, weil sie eine Muslima ist, nimmt sie ihm den Platz in der Schlange weg, und noch dazu trägt sie einen "Schmarotzer" im Bauch, den er mit seinen Steuergeldern durchfüttern wird.

Hutter, Lind und Steils unterbrechen und widersprechen sich, haken nach, fügen dem gerade eben Gesagten noch eine absurdere Tönung hinzu. Im Moment des Sprechens entwickeln sie die Erzählung. Wahr, unwahr – vielleicht, wer weiß das schon. Nur den Blick, den wenden die drei Spielwütigen nicht ab vom Publikum. Als gebe es kein Entkommen für niemanden.

Amsterdam 2 560 GabrielaNeeb uImmer nach vorne. © Gabriela Neeb

Hier gilt das Prinzip der permanenten Überforderung. So wie im Leben draußen, wo die Meinungen, Ängste und Vorurteile, die eigenen wie die der anderen auf einen einprasseln und man aus diesem Vielklang so etwas wie Wahrheit herausfiltern muss. So ist für die einen eine unbezahlte Gasrechnung aus dem Jahr 1944 ein mahnendes Symbol. Für die anderen nur eine nicht beglichene bürokratische Forderung. Jonathan Hutter fragt gegen Ende, ob das Thema "Juden" nicht langsam mal durchgekaut, abgenutzt, passé sei? "Amsterdam" legt unheimlich überzeugend dar, wie sich alltäglicher, nicht unterbundener Rassismus und unhinterfragte Narrative durch eine Gesellschaft hindurchätzen, bis sie schließlich zu geltendem Recht und zur Staatsdoktrin werden. Schleichend und schneller als man denkt.

Amsterdam
von Maya Arad Yasur
Deutsch von Matthias Naumann
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Sapir Heller, Bühne und Kostüme: Anna van Leen, Komposition und Live-Musik: Kim Ramona Ranalter, Licht: Philipp von Bergmann-Kron, Korbinian Wegmann, Dramaturgie: Daphne Ebner.
Mit: Jonathan Hutter, Philipp Lind, Nina Steils.
Premiere am 27. Januar 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Ein überraschend leichter Theaterabend, der einem seine schweren Themen in Häppchengröße unterjubelt. Umso schwerer liegen sie dann im Magen", beschreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (28.1.2019) die Aufführung. Vor allem im ersten Teil des Abends gelinge ein mitreißendes Spiel um Wahrheitsfindung und Deutungshoheit. So etwas wie generationsübergreifende Schuld gebe es in dieser Inszenierung nicht. "Generationsübergreifende Verantwortung hingegen schon. Auch daran erinnert dieser tonnenschwere und doch so federleichte Theaterabend."

"Man kann sich dieses vorzüglich komponierte Stück beim Lesen gut als Hörspiel vorstellen. Auf der Bühne aber brauchen die Stimmen Körper und benötigt die Erzählung als einen Ort. Das ist die Herausforderung, mit der Sapir Heller aber umzugehen weiß", so Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (28.01.2019). 'Amsterdam' sei "ein Konzert von Stimmen, die sich ergänzen, aber eben auch ins Wort fallen und widersprechen". Das Ensemble verleihe den Gedanken im Kopf der Protagonistin körperlichen Ausdruck.

Der Abend sei voll von Finten und überraschenden Wendungen, schreibt Mathias Hejny von der Abendzeitung (29.1.2019). "Das alles geht sehr schnell, ist so intelligent gedacht und gemacht, dass kaum Zeit ist zum Zweifel an der Leichtigkeit des Umgangs mit der Historie."

Michael Schleicher schreibt im Münchner Merkur, das bemerkenswerte Stück sei ein Wirbel um Wahrheit und Wahrnehmung, "ein Spiel der Fragen, Fährten, Feststellungen". Sapir Heller sei klug genug, die Offenheit der Vorlage in ihre Inszenierung zu übernehmen. Jedoch: Der Druck, unter den Heller gerade den ersten Teil setze, mache die Feinheiten des Textes oft platt.

 

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