Literatur als Provokation der Theaterkritik

von Kai Bremer

30. Januar 2019. Als vor Kurzem Simon Strauß in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dazu aufgerufen hat, vergessene Theaterstücke für die Gegenwart wiederzuentdecken, hat das auch hier für einige Reaktionen gesorgt. Bemerkenswert ist jedoch nicht nur das Anliegen an sich, sondern auch der Umstand, dass der Theaterkritiker damit indirekt daran erinnert, dass solide Textkenntnis und wohl begründete literaturkritische Kompetenzen zu den Fundamenten der Theaterkritik zählen.

Dieser Zusammenhang war lange Zeit elementar. Bei Alfred Kerr etwa nehmen die Hinweise konkret zur Inszenierung im Vergleich zur literaturkritischen Auseinandersetzung mit dem Stück selbst häufig keinen all zu großen Raum ein. So fragt seine Besprechung von Gerhart Hauptmanns "Florian Geyer" 1904: "Was ist der Kern dieses Werks; nicht wie es jetzt gespielt, sondern wie es geschrieben worden ist?" Kerr sah es offenkundig als seine Aufgabe an, Stücktext wie Aufführung mindestens gleichwertig beurteilen zu können. Und noch Andrea Breth ereiferte sich während ihrer Zeit als Intendantin an der Schaubühne am Lehniner Platz wiederholt, wenn sie einmal den Eindruck hatte, dass der Kritik grundlegende Textkenntnis abging.

Wieviel Textkenntnis braucht Theater?

Wie sehr die Theaterkritik im Unterschied dazu inzwischen ihre literaturkritische Kompetenz eingebüßt hat, zeigte sich jüngst, als am Deutschen Theater Berlin Moritz Rinkes Drama Westend uraufgeführt wurde. Die Inszenierung hat, was bei Rinke keine Seltenheit ist, die Kritik polarisiert. Ulrich Seidler verweist in der Berliner Zeitung direkt auf Rinkes "literarische Inspiration", nämlich Goethes "Wahlverwandtschaften". Doch just die sorgt im Neuen Deutschland für Irritation: "Man raunt auch etwas von Goethes Wahlverwandtschaften", erklärt dort Gunnar Decker. Er vermittelt mit seiner Wortwahl den Eindruck, als sei Goethes Roman etwas im Hintergrund, was für das Verständnis des Stücks gänzlich belanglos sei. Er unterschlägt damit, dass in "Westend" explizit sowohl auf das hinter Goethes Romantitel stehende chemische Bindungs- und Anziehungsdenken als auch auf den Weimarer Klassiker selbst verwiesen wird.

Simon Strauß wiederum hat Rinke in der FAZ attestiert, er lasse Goethes Roman "bescheiden im Hintergrund aufleuchten". Literarische Inspiration – Geraune – Aufleuchten: Mit offenkundig gänzlich unterschiedlichen Metaphern umschreiben die drei Kritiker ein Verfahren, das zumindest literarisch interessierte Menschen neugierig macht: Wie – oder gar warum – wählt Rinke die "Wahlverwandtschaften" zur Vorlage?

Westend 2 560 ArnoDeclair uAus der Uraufführung am Deutschen Theater: Paul Grill (Michael), Linn Reusse (Lilly) Birgit Unterweger (Eleonora) © Arno Declair

Bei Goethe denken die drei älteren Protagonisten über das Wort "Wahlverwandtschaften" und chemische Affinitäten nach. Bei Rinke macht das hingegen die deutlich jüngere Medizinstudentin Lilly, das Pendant zu Goethes Ottilie. Bei Rinke brennt sie später selbst das Feuerwerk anlässlich ihres Geburtstags ab und eben nicht Eduard. Schließlich stirbt sie in "Westend" auch nicht. In der Folge der Premiere haben diese Differenzen keine einzige Kritik beschäftigt. Wenn Decker etwa im Anschluss an seinen Verriss des Dramas der Lilly-Darstellerin, Linn Reusse, anerkennend und gänzlich zurecht "eine eigene Form" attestiert, fragt man sich, ob sie die ohne die Eigenständigkeit, die Rinke in Lilly im Vergleich zu Ottilie angelegt hat, hätte finden können.

Ein tragischer Mensch

Die "Wahlverwandtschaften" wurden vor dem Hintergrund der konkreten Bedrohung durch den Krieg gegen Napoleon verfasst. Allerdings bleibt dieser Umstand im Roman eigentümlich unkonkret, er wird an keiner Stelle weitergehend reflektiert. Auch diesen Sachverhalt ändert Rinke entschieden. Michael, der Wiedergänger von Goethes Hauptmann Otto, war in Afghanistan im Einsatz. Jenseits dokumentarischer Auseinandersetzungen ist Michael damit eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Gegenwartstheater wie -drama. Immer wieder beginnt er unvermittelt von seinen traumatischen Erinnerungen zu erzählen ("Ich habe vorwiegend Kinderbeine amputiert, Splitter in Kinderköpfen gesucht …").

In den Kritiken wird Michaels psychische Versehrtheit zwar regelmäßig genannt. Eine literaturgeschichtliche Einordnung aber fällt aus. So spricht Georg Kasch hier auf nachtkritik zwar Michaels "posttraumatisches Stresssyndrom" an, doch woher der Arzt es hat, thematisiert er nicht. Dass Rinke mit der Figur die Frage aufwirft, wie ein solch tragischer Mensch in der bürgerlichen Mitte der Berliner Republik klar kommen kann, wird nicht weiter beachtet. Dass er damit einen gänzlich anderen Akzent als Goethe setzt, findet ebenso keine Erwähnung.

Barbara Behrendt hat im Deutschlandfunk erklärt, Rinke entfache ein "Beziehungsgewirbel, das auf Goethes Wahlverwandtschaften" gründe. Der Hinweis auf den Roman gibt damit jedoch nicht mehr ab als den Eindruck, hier handle es sich je lediglich um ein amouröses Durcheinander. Dass Michael aus Afghanistan Opium nach Deutschland geschmuggelt hat, um sein psychisches Elend damit ein stückweit erträglicher zu machen, wird – wenn überhaupt – nur am Rande erwähnt. Stattdessen versuchen die Verrisse, das Stück Richtung Boulevard zu drängen. Dass das weit schwerer gefallen wäre, wenn auch nur mit einem Satz erwähnt worden wäre, wie Rinke Goethes Hauptmann in die Gegenwart überführt, liegt auf der Hand.

Die "Qualverwandtschaften"

Der Riss, der sich hier in der theaterkritischen Auseinandersetzung mit Rinkes Stück auftut, lässt sich offenkundig an der Gretchen-Frage des Theaters seit der postdramatischen Wende festmachen: Wie hältst Du's mit der Literatur?

Goethe Ottilie KaulbachPostkarte zu Goethes "Die Wahlverwandschaften"
Ottilie mit dem Sohn Charlottes
Diese Frage ist im Falle von "Westend" deswegen so entscheidend, weil das Stück dazu dezidiert Position bezieht. Es ist ein Drama, das sich der Literaturgeschichte stellt und dementsprechend zur literaturkritischen Beurteilung herausfordert. Schon Goethes Roman kennzeichnet der kreative Umgang mit literarischen Vorlagen und Motiven sowie ihre Weiterentwicklung und Umdeutung. Sein Roman stellte für die Zeitgenossen vielfach eine Herausforderung dar und polarisierte beim Erscheinen. Einerseits wurde er zum Bestseller, andererseits kursierten rasch erste polemische Bonmots. Tiecks Rede von den "Qualverwandtschaften" dürfte wohl das bekannteste sein.

Aber eben dieser Umstand zeigt auch, wie eigentümlich die Rezeptionsgeschichte manchmal verläuft: Ein an sich komplexer, anspielungsreicher und zugleich letztlich ungemein handlungsarmer Roman, der eigentlich alles mitbringt, um beim Publikum durchzufallen, findet eine breite Leserschaft und stößt auf viel Neugier. Zugleich aber wird er von Teilen des professionellen Publikums als blanke Provokation begriffen, obwohl er eben das macht, was Literatur immer schon getan hat und was sie nicht zuletzt ausweist: die anspielungsreiche Auseinandersetzungen mit literarischen Vorlagen, Figuren und Themen.

Zu einer besonders eigentümlichen Beurteilung führt die theaterkritische Verweigerung, die literarischen Anspielungen in Rinkes Stück zu sehen, im "Neuen Deutschland". Decker hält hier fest, das Drama sei "ein Feuilleton über grassierenden Moralismus und grenzenlose Eitelkeit". Nun hat der Feuilleton-Vorwurf in anti-bürgerlichen Medien eine lange Tradition. Ihn im Feuilleton-Teil einer Zeitung selbst zu formulieren, ist jedoch nicht nur unfreiwillig komisch.

Verlorenes Vertrauen

Letztlich sagt Decker damit: Rinke, der nicht zuletzt auch Feuilleton-Autor ist, dieser Rinke hat ein Stück in dem Stil geschrieben, den er regelmäßig pflegt. Angesichts einer solch paradoxen Logik fragt man sich als Leser der Kritik, ob Decker tatsächlich ein Manko darin sieht, wenn ein Schriftsteller einen eigenen Stil ausbildet. So kommt bei seiner Kritik eigentlich nur zum Ausdruck, wie wenig er Rinkes Schreiben mag, dass dessen neues Stück daran nichts ändert und dass der Kritiker sich einen anderen Ort für die Uraufführung gewünscht hätte. Offenbar hat sich – mit Brecht gesprochen – das gesamte Deutsche Theater Berlin das Vertrauen des "Neuen Deutschland" verscherzt. Glücklicherweise sind die Zeiten nicht mehr so, dass das beunruhigen muss.

Wer sich auf diese Weise ein Stück und damit erst recht seinen Umgang mit der literarischen Tradition vom Leib hält, kann zum Gesehenen auf der Bühne freilich kaum mehr als Meinungen und zuvor gefasste Erwartungen äußern. Differenzierte Beurteilungen, die etwa durch Vergleiche mit dem Vorbild Goethes eigene Kategorien entwickeln und so versuchen, zu einer Bewertung von Rinkes Stück zu gelangen, sind das nicht.

Westend6 560 Arno Declair xMichael gespielt von Paul Grill, in der Mitte, woher stammt sein posttraumatisches Belastungssyndrom? © Arno Declair

Doch selbst dort, wo die Kritik offenkundig präzise gelesen hat, kann sie zu überraschenden Ergebnissen kommen. Peter Laudenbach, der für die Süddeutsche Zeitung die Premiere besucht hat, eröffnet seine Kritik nicht nur mit einer hübschen Anspielung auf Goethes Roman ("Eduard, so nennt Moritz Rinke einen Berliner Schönheitschirurgen in den besten Midlife-Crisis-Jahren, ..."). Nachdem er den Inhalt zusammengefasst hat, bleibt der Roman erste Bezugsgröße – derart grundlegend gar, dass er auf Stephan Kimmigs Regie und die Schauspieler*innen nur in einem abschließenden Absatz eingeht. Eine Literaturkritik in Gestalt einer Theaterkritik also? Gemessen am Umfang des Vergleichs zwischen Goethes Roman und Rinkes Drama gewiss.

An der Zuverlässigkeit seiner Deutung darf hingegen gezweifelt werden. Nicht nur, dass er verwechselt, mit wem Eduard nach Weimar fährt (laut Laudenbach die Nachbarstochter Lilly, bei Rinke die Lebensgefährtin von Lillys Vater, Eleonora). Zu Eduards und Eleonoras Tête-à-Tête in Weimar und Buchenwald erklärt er sodann: "Wie Rinke mit einem kurzen, unverbindlichen Schlenker ein Konzentrationslager in seinen Plot einbaut, um sein Klischeepersonal irgendwie interessant zu machen, ist obszön." Wie Laudenbach zu diesem Ergebnis kommt, bleibt freilich sein Geheimnis.

Rinke Moritz c Joscha Jenneen uMoritz Rinke © Joscha Jenneßen

Zwar erzählen die beiden Figuren von einem amourösen Kurztrip nach Weimar. Offenbar sind sie dabei auch mehr mit sich selbst beschäftigt als mit den Orten, die sie besuchen. Das sagt gewiss auch etwas über Eduard aus, über seinen geschmacklosen Egoismus, der in dieser Szene mit gutem Grund als obszön begriffen werden kann. Aber sagt eine solche Figuren-Charakteristik tatsächlich etwas über den Dramatiker des Stücks aus?

Die Frage zu stellen, heißt natürlich, sie zu verneinen. Goethes wie Rinkes Eduard artikulieren mehr als unmissverständlich, was sie von denen halten, die zu Goethes Zeit "Pöbel" genannt werden. Gleichwohl erlauben sich Goethe wie Rinke ihre männliche Hauptfigur nicht als emotional unterentwickelte Kotzbrocken, sondern als durchaus empathische, aber letztlich eben immer egozentrische Schöngeister zu zeichnen. Dass Rinke Eduard gerade in seiner Ambivalenz unverändert in die Gegenwart überführt, den Hauptmann hingegen entschieden aktualisiert, ist ein Umstand, der in keiner Kritik reflektiert wurde.

Thema verfehlt

Selbstverständlich muss eine Theaterkritik mehr Themen und Sachverhalte gleichzeitig berücksichtigen als zum Beispiel ein literaturwissenschaftliches Referat. Aber metaphorische Bewertungen ohne nachvollziehbares literaturkritisches Fundament machen sie beliebig und scheinen zudem sich entschieden widersprechende Urteile zu befördern. Diese These legt zumindest die Beschäftigung mit den Kritiken zu "Westend" nahe. Wie unterschiedlich die Leistungen der Regie und der Schauspieler*innen der Berliner Uraufführung bewertet werden, frappiert auf jeden Fall sehr.

Mein Sohn sollte einmal als Klassenarbeit eine Geschichte weitererzählen, die auf einem Weihnachtsmarkt begann. Er war damals elf oder zwölf Jahre alt. Sein Alter Ego in der Erzählung streckte nach einigen Kollateralschäden mit einer zufällig verfügbaren Waffe den Amokläufer auf dem Weihnachtsmarkt erfolgreich nieder. Es gab formal und erzähllogisch zahlreiche Gründe, meinem Sohn nicht mehr als ein 'ausreichend' für diese Arbeit zu geben. Der einzige Kommentar, den die Deutschlehrerin unter den Aufsatz meines Sohnes schrieb, war: "Ich hätte mir eine besinnlichere Weihnachtsgeschichte gewünscht." Als ich die Lehrerin darauf ansprach, dass in der Aufgabenstellung nicht nach einem besinnlichen Aufsatz gefragt worden sei, sah sie mich verständnislos an.

 

Kai Bremer, geboren 1971, ist Professor am Institut für Germanistik der Universität Osnabrück. Er schreibt seit 2010 für nachtkritik und forscht unter anderem zu Gegenwartsdramatik und -theater.

 

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