Schieß doch, Barbie!

von Georg Kasch

Hamburg, 31. Januar 2019. Gegen Ende steht Dennis Seidel alias Christina Johnsson an der Rampe und diskutiert mit ihrem Stoffhund im Arm. In der anderen Hand hält sie eine Wonderwoman-Barbiepuppe, der sie ihre Liebe gesteht, die sie küsst. "Was muss ich sehen", ruft da empört der Hund, also Christina Johnsson, gespielt von Seidel: "Du hast eine Frau geküsst. Bist du etwa lesbisch?"

So um die Ecke und noch viel weiter geht es in Seidels Stück "Zehn Meter in den wilden Westen". Die Geschichte ist mindestens so verworren wie eine Opernhandlung: Westernheldin Jolene Evans hat ihre Eltern durch die Bösewichtin Tatjana Thorns verloren. In unterschiedlichsten Konstellationen kommt es zwischen ihnen zum Showdown, Menschen und ein sprechendes Pferd sterben, Kunstblut spritzt. Wenig später aber tauchen ebenso stereotype Wiedergängerinnen mit ähnlich klingenden Namen auf, Schwestern der Opfer, nur um sich erneut in den Kampf um Leben und Tod zu stürzen.

Das Besondere an diesem queeren Western-Musical: Seidel ist Schauspieler, Autor und Regisseur "mit amtlich bescheinigter 'geistiger Behinderung'", wie es das Pressematerial formuliert. Dass Künstler wie er den Hut bei einer Theaterproduktion aufhaben, ist eine relativ neue Entwicklung, die sich bislang eher innerhalb der inklusiven Gruppen abspielte. Jetzt aber zeigt Kampnagel "Zehn Meter..." im K1, einem der größeren Säle – eine Premiere auch fürs Haus.

ZEHN METER IN DEN WILDEN WESTEN 560 SimoneScardovelli uBühnen-Allrounder Dennis Seidel als Christina Johnsson © Simone Scardovelli

Gut, sie wissen, wen sie sich einkaufen. Seidel ist seit 2003 Schauspieler bei Meine Damen und Herren, einer inklusiven Theatergruppe aus Hamburg, die sich hartnäckig in die erste Liga des Inklusionstheaters vorgearbeitet hat, also von Theater Hora, RambaZamba und Thikwa. Abende wie "1 zu 1", in dem Freie-Szene-Größen wie Antje Pfundner und Franz Rogowski mit MDuH-Performern wie Michael Schumacher und Friederike Jaglitz äußerst genaue, berührende Improvisationen entwickelten, zeigen, wohin die Reise gehen kann – hin zu einer Intensität, die in einer Umgebung wie Kampnagel gut aufgehoben ist.

Dazu gehören auch Seidels bisherige Arbeiten als Autor und Regisseur. In seiner Solo-Performance "Ordinary Girl" erfand er die Modedesignerin Jolina aus Miami, deren triste Waisenexistenz er mit hypnotischen Momenten zwischen Telenovela, David Lynch und Gesangsnummern am Keyboard auflud. Auch in Der Tag, an dem Kennedy ermordet wurde und Mimmi Kennedy Präsidentin wurde spielte Seidel die Hauptrolle, Reporterin Liv Split, die den Kennedy-Mord beobachtet, selbst unter Verdacht gerät und den Täter findet (es war die Barbiepuppe). Die Handlung schwankte wieder zwischen Melodram und Komödie, während sich die Lust am Mitleiden bis zum Happy End und ein norddeutsch-trockener Witz funkensprühend aneinander rieben.

ZEHN METER IN DEN WILDEN WESTEN 560a SimoneScardovelli uPeng Peng! Dasniya Sommer und Solene Garnier © Simone Scardovelli

Auch in "Zehn Meter in den wilden Westen" spielen nur Frauenfiguren eine Rolle, wildert Seidel hemmungslos in der amerikanischen Film- und Popkultur, liegen Humor und Rührung einen Wimpernschlag auseinander. Neu ist, dass neben MDuH- zum ersten Mal auch nichtbehinderte Schauspielerinnen auf der Bühne stehen. Dasniya Sommer, Solene Garnier (beide aus dem Kosmos der Berliner Puppensplattertruppe Das Helmi) und Fee Kürten, die auch für den Soundtrack zwischen pulsierender Wüstenhitze und Wildwest-Mundharmonika sorgt, sehen in ihren engen Western-Outfits aus wie menschliche Barbies. Sie haben sichtlich ihren Spaß daran, ihre seeehr guten und gaaanz bösen Heldinnen zu spielen.

In der Geschichte verheddert

So richtig gut bekommt "Zehn Meter..." dieser Zuwachs allerdings ebenso wenig wie die viel komplexer gewordene Handlung. Die trashige Splatter-Wiederholung provoziert Leerlauf. Auf die Immerwiederkehr bezieht sich vermutlich auch Manuel Gersts weißer Bühnen-Laufsteg, der sich 90 Minuten lang von einem E-Rollstuhl gezogen um die eigene Achse dreht, dabei öfter mal zur Stolperfalle wird. Die nicht-behinderten Performerinnen besitzen zudem kaum den sperrigen Charme der MDuH-Spieler*innen, auch wenn Garnier herrlich übertreibt im Schlendern, Raunen, Ballern. Aus ihren Mündern klingen Seidels Sätze plötzlich merkwürdig banal.

Erst wenn sich Michael Schumacher als Bardame, Melanie Lux als Sheriffin und Seidel selbst als Autorin einmischen, gewinnt "Zehn Meter..." jene somnambule Qualität, die an Seidels Vorgängerabenden so großartig war. Etwa wenn sich Seidel-Johnsson in ihre Geschichte verheddert, Teil der Fiktion wird, traurige Lieder singt ("Jetzt bist du tot, ich sehe rot") und sich ein Weltschmerz Bahn bricht, bei dem man nicht sicher ist, ob man weinen oder lachen soll. Im Zweifel eher lachen, schließlich gibt’s wie immer ein Happy End, eine große Auferstehung der Toten. So ist auch dieser Seidel-Abend ein Lob auf die Macht der Fiktion. Und die Barbiepuppe.

 

Zehn Meter in den wilden Westen
von Dennis Seidel
Text, künstlerische Leitung: Dennis Seidel, Kostüme: Gloria Brillowska, Bühne: Manuel Gerst, Musik: Fee Kürten, Dramaturgie: Marcel Bugiel, Lichtgestaltung: Marek Lamprecht, Video: 17smotion.
Mit: Solene Garnier, Fee Kürten, Melanie Lux, Noa Michalski, Michael Schumacher, Dennis Seidel, Dasniya Sommer, Matthias Zalachowski.
Premiere: 31. Januar 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de
www.meinedamenundherren

 

Kritikenrundschau

Wer versucht, der Handlung zu folgen, gerät in Teufels Küche, schreibt Falk Schreiber im Hamburger Abendblatt (2.2.2019). Ständig wierd jemand erschossen, ständig tauche jemand Neues auf. "Das Stück ist gleichzeitig großes Durcheinander wie begeistertes Ausnutzen der Möglichkeiten des Theaters." Fazit: "Ein großer Spaß zwischen Trash und Traum", "tolles, wirres, durchgedrehtes Theater, über das man besser nicht allzu lange nachdenken sollte".

"Völlig ungebremst und hochemotional erzählt Seidel auch seine ausufernde Geschichte", schreibt Robert Matthies in der taz Nord (2.2.2019). "Nicht immer ist es leicht, im Verlauf des Abenteuers den Überblick zu behalten, wer nun gerade wen erschossen hat in einem dieser zahllosen Plastikwaffen-Massaker. Aber all das ist vielleicht auch nicht so wichtig." Viel spannender ist es, Seidel dabei zuzusehen, wie er tatsächlich immer wieder in seiner Geschichte zu verschwinden scheint, "ihm zuzuhören, wenn er mit bebender Stimme ganz unverstellt über den Verlust seiner Figuren klagt. Dann scheint es kaum einen Unterschied mehr zu geben zwischen Fiktion und Realität. Unbedingter kann man nicht sagen: So will ich es."

 

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