Das Elend im Jetzt

von Alexander Jürgs

Frankfurt am Main, 1. Februar 2019. Martha ist ein Wrack, ein Nervenbündel. Und schwanger. Sie tippelt die Treppe hoch, Schritt für Schritt für Schritt. Der Babybauch wippt, ihre Hände zittern, sie erscheint fiebrig. Und wenn sie spricht, dann ist es eine Suada. "Ich platz schon fast und dann werd ich verwandelt sein / Ihr werdet sehn / zur Mutter Ehefrau / zur Frauheit an und für sich / meine Fresse / wie ich mich verwandeln werd, mit diesem Kind." Patrycia Ziolkowska spricht die Sätze mit viel Nachdruck.

Bei Gerhart Hauptmann war diese Martha noch stumm, unsichtbar sogar. Sie stand zwar auf der Besetzungsliste, doch nicht im Bühnenlicht. Hauptmann ließ die Martha im Hintergrund, im Hinterzimmer. Ewald Palmetshofer aber gibt ihr eine Stimme, rückt sie ins Zentrum der Geschichte. Und ihre jüngere Schwester, die Helene, die Lene, die Leni, die bei Hauptmann aus Liebesleid den Freitod wählt, die lässt der österreichische Dramatiker Palmetshofer überleben.

VorSonnenaufgang 1 560 ArnoDeclair uSuff im Treppenhaus vermutlich noch vor Sonnenaufgang: Katharina Bach, Patrycia Ziolkowska, Michael Schütz, Andreas Vögler  © Arno Declair

Er streicht auch, so gut wie ganz heraus, den Alkoholismus, der bei Hauptmann eine alles bestimmende Rolle spielt, und ersetzt ihn durch Depression. Doch hier schlägt der Regisseur ihm ein Schnippchen. In Roger Vontobels Inszenierung knallen die Korken und wird gesoffen ohne jedes Maß. Und auch auf den gestrichenen Suizid gibt er immerhin einen Hinweis: Wenn Helene morgens aus dem Bett aufsteht, dann trägt sie ein blütenweißes T-Shirt der Postpunk-Band Joy Division. Deren Sänger Ian Curtis hatte sich in der Nacht, bevor die Band zu ihrer ersten Amerika-Tour aufbrechen wollte, das Leben genommen.

Überschreiber

Den Bühnenkanon in die Gegenwart holen, das ist Ewald Palmetshofers Geschäft. Stücke von Henry Purcell, Christopher Marlowe oder Heiner Müller hat der Autor, Jahrgang 1978, bereits umgeschrieben. Am Frankfurter Schauspiel läuft gerade auch noch räuber.schuldenreich, seine Beschäftigung mit Schillers "Räubern".

"Vor Sonnenaufgang", seine Jetztzeit-Fassung von Gerhart Hauptmanns Stück, das 1889 den Naturalismus auf die deutschen Theaterbühnen brachte und seinem Verfasser zum Durchbruch verhalf, feierte vor etwas mehr als einem Jahr, im November 2017, am Theater Basel Uraufführung. Dort arbeitet Palmetshofer, in Teilzeit, zugleich als Dramaturg.

Psychoboulevard im Treppenhaus

In Frankfurt spielt das Stück nun auf und unter einer steilen Treppe, die zum Ende der großen Bühne eng zuläuft. Links und rechts begrenzen silbern-metallene Wände diesen Laufsteg, das Licht wird mit starken Kontrasten gesetzt. Bühne und Beleuchtung unterstützen die Atmosphäre der Anspannung. Seine Darsteller lässt der Regisseur oft gestelzt sprechen, sie überbetonen die Wörter, die Körper biegen sich. Alles ist hier Konflikt, man sieht einer Familie zu, die sich gegenseitig zerfleischt. Besonders am Anfang wirkt das Stück wie eine Mischung aus Boulevardtheater und Psychodrama.

Da ist der Familienpatriarch, der den Tod seiner Frau nicht verkraftet und deshalb mit den jungen Kaputten in der Kneipe um die Wette säuft. Da ist die dauergewellte, übergriffige Stiefmutter, die versucht, den Laden am Laufen zu halten und die Konflikte wegzugrinsen. Da ist Helene, die gescheitert aus der Großstadt-Existenz Heimgekehrte. Da ist die schwangere, depressive, an einem "schwarzen Schleier" leidende Martha, die Angst davor hat, ins Krankenhaus zu gehen, weil sie sich sorgt, dass die Ärzte sie dort einsperren werden. Und da ist ihr Mann Thomas Hoffmann, der erfolgreiche Unternehmer, der sich als Kandidat für eine rechtspopulistische Partei engagiert.

VorSonnenaufgang 2 560 ArnoDeclair uWie weit ist der Weg an die Spitze. Die Frankfurter Bühne für "Vor Sonnenaufgang" von Claudia Rohner © Arno Declair

In seinem Provinz-Wohnsitz bekommt dieser Hoffmann Besuch von einem alten Studienkollegen. Alfred Loth, bei Hauptmann ein Volkswirt und Weltverbesserer, arbeitet als Journalist bei "einer linken Wochenzeitung" und will einen Artikel über die Wandlung seines früheren Freundes zum rechten Propagandisten, zum Mini-Trump, der als Reicher gegen die Elite hetzt, schreiben. "Wir driften / auseinander / ich red nicht nur von uns / die Menschen / alle", lässt Palmetshofer ihn den gesellschaftlichen Riss in Worte fassen.

Rechts Gel, links Strubbel, kein roter Faden

Nach verdächtig kurzer Wiedersehensfreude kommt es zum krachenden Schlagabtausch zwischen den alten Freunden. Der rechte Provinzpolitiker, von Andreas Vögler als Kotzbrocken mit Hosenträgern und Gel-Frisur verkörpert, beschwört die Notwendigkeit zuzuspitzen und "fake news" zu streuen. Der linke Zeitungsmann, den Stefan Graf als Oberlehrer mit Strubbelfrisur gibt, rettet sich in die Moral. Eine Annäherung findet nicht statt.

Was man an Palmetshofers Stück vermisst, ist ein roter Faden. Der Autor schneidet viele Themen an, die Volkskrankheit Depression, den Aufstieg des Populismus, die Verlorenheit in der Großstadt, bleibt aber nirgendwo richtig hängen. So entsteht mehr ein Gefühl von einer in Schieflage geratenen Familie (und auch: Gesellschaft) als ein klares Bild. Berührend ist der Abend trotzdem – auch deshalb, weil Regisseur Vontobel auf eindringliche Bilder setzt. Und auf Musik: Matthias Herrmann zupft am Bühnenrand das Cello, von Zeit zu Zeit tritt die Sängerin Alina Huppertz auf die Bühne und stimmt traurige Gesänge an.

Am Ende wird aus der Krise eine Katastrophe. Martha gebiert ein totes Kind. Unter der Treppe steht sie schreiend, im rosafarbenen Kleid, Blut fließt an ihr herab, das Licht ist direkt auf die Verzweifelte gerichtet. Davor, auf der Treppe, liegt noch der in Plastikfolie eingeschweißte Maxi-Cosi. "Raus! / Bringt’s weg / Bring's raus", brüllt Martha. Dann fährt die Rückwand hoch und ein greller Scheinwerfer – der Sonnenaufgang – blendet das Publikum. Alles ist kaputt, ohne Hoffnung.

 

Vor Sonnenaufgang
von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Ellen Hofmann, Musik: Matthias Herrmann, Dramaturgie: Marion Tiedtke.
Mit: Michael Schütz, Katharina Linder, Katharina Bach, Patrycia Ziolkowska, Andreas Vögler, Stefan Graf, Nils Kreutinger; Julie Grutzka / Alina Huppertz (Gesang), Matthias Herrmann (Cello).
Premiere am 1. Februar 2019
Dauer: 2 Stunden und 20 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 
Mehr zu: Ewald Palmetshofer Hauptmann-Überschreibung wurde vielgelobt von Nora Schlocker in Basel uraufgeführt im November 2017.

 

Kritikenrundschau

Judith von Sternburg schreibt in der Frankfurter Rundschau (online 3.2.2019, 14:52 Uhr): Die "gewaltige offene Treppe" werde zum Bild für "ein Leben, in dem die einen herumhüpfen und die anderen auf der Strecke bleiben". Palmetshofer überschreibe Hauptmanns "etwas blutleer". Ein Eindruck, den Vontobels Inszenierung möglicherweise befördere, weil die antinaturalistische Situation auf der Treppe es dem Publikum leicht mache, "sich von diesen Figuren fernzuhalten". Auch das "stete Trinken" befördere "eine Tennessee-Williams- oder Edward-Albee-Atmo", der hier die "Kraft des Konkreten" abgehe. Auch sei die Regie "selten auf Eigenheiten aus". Selbst in den zentralen Auseinandersetzungen zwischen Andreas Vöglers Thomas und Stefan Grafs Alfred, beide von "bestechender körperlicher Präsenz", könne der Eindruck entstehen, dass Vontobel "eher herumbebildert, als ein klares Ziel vor Augen zu haben".

Grete Götze schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.2.2019): die Treppe von Claudia Rohner sei eine "ästhetisch gelungene Übersetzung der immer weniger werdenden Glücksmöglichkeiten". Wenn Hoffman und Loth ihre politischen Debatten austragen, sei der Abend "erwartbar". Der Regisseur lasse den "Linken links auf der Treppe stehen und den Rechten rechts". Palmetshofers dramatische Versuche, "das Auseinanderdriften der Gesellschaft zu erklären", führten nicht "zu einem Mehrwert". Die "Schauspieler, die auf der Bühne spielten, gehörten zur "gleichen Mittelschicht" wie Publikum und der Autor. "Das eigentliche Gegenüber fehlt." Wenn aber die Schauspieler ihren Figuren Charakter verliehen und gemeinsam auf die Familienkatastrophe zusteuern dürften, "dann glitzert der Abend".

 

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