Wilhelm Tell und Trutz - In Weimar gelingt Jan Neumann der Balanceakt zwischen Klassikertreue und -erneuerung, Enrico Stolzenburg aber verfehlt Christoph Hein
Make Schwyz Great Again
von Kornelius Friz
Weimar, 1. Februar 2019. Wer in Weimar "Wilhelm Tell" inszeniert, droht zweifach zu scheitern. Zunächst darf man dem Herrn Schiller nicht zu untreu werden, was Jan Neumann seinem Tell vorsichtshalber sogleich voranstellt, indem er zwei Karikaturschweizern die Meta-Ebene sowie Äpfel aus Esspapier und Pappe umlegt. Und zugleich sollte man sich hüten, nicht nur in Weimar, den vollbesetzten Saal mit Schillers Versen in den Schlaf zu leiern, wie es den meisten im Publikum als Pennäler womöglich schon einmal passiert ist. Siehe da, Neumann wagt den Balanceakt und gewinnt.
Weder lässt er sich vom Echo der überdimensionalen Vorlage einschüchtern, das von den schneebedeckten Alpengipfeln bis nach Weimar schallt, oder beängstigen vom Schatten des geschichtsträchtigen Deutschen Nationaltheaters. Noch ertränkt Schillers Sprache den Elan des Ensembles oder die Relevanz, die der Stoff bis heute hat.
Gegenwart und Dichtung verschwimmen
"Wilhelm Tell" und "Trutz" von Christoph Hein sind die zwei Premieren, die "Die Woche der Demokratie" in Weimar eröffnen. Umrahmt werden sie von einem vielseitigen Kultur- und Vortragsprogramm sowie von der feierlich verkündeten Thüringer Erklärung der Vielen, die der Intendant Hasko Weber dem großen Drama unmittelbar voranstellt. Die Fragen nach Heimat, Gehorsam und Macht schwappen unmittelbar hinüber in Neumanns "Tell", Gegenwart und Dichtung verschwimmen an diesem Abend immer wieder. Wie Schafe und Ziegen scharwenzeln die Gesandten aus Schwyz, Uri und Unterwalden um ihren Protagonisten mit der Armbrust herum, der zumeist trotzdem ziemlich allein dasteht, ganz getreu dem Tell-Zitate-Bingo "Der Starke ist am mächtigsten allein".
Das Ensemble ist ebenfalls stark und balanciert zumeist ebenfalls über schmale Grate, sie schwanken das eine oder andere Mal, doch ohne in den Unterboden zu fallen, fangen sie sich immer wieder, um ihr Aufbegehren gegen den tyrannischen Landvogt nur noch bestimmter zu verkünden. Zur fantastisch düsteren und wandelbaren Bühne von Oliver Helf gehört ein weitmaschiges Metallgestänge, das die Wege der Vogte und Fürsten lenkt. Diese, gekleidet in Felle, Wollpullover und wie echte Zimmermänner mit verfilzten Haarmatten, verabreden sich zum Schwur auf der Lichtung zu Rütli.
Wir wollen trauen auf…
Keine Axt, keine Armbrust, kein Maschinengewehr kann ihre Spielfreude ersetzen, allen voran der vielseitige Ritter und Skifahrer Ulrich von Rudenz (Nahuel Häfliger), der als Pastor zum Schwören unter einer Toni-Erdmann-Fellkappe verschwindet. Es dauert, bis sich die acht Darstellenden auf einen Schwur einigen können. Gegen den olympischen, den Richter- und einen afghanischen Schwur gibt es Widerstand, befeuert auch aus dem zu Stimmvieh animierten Publikum; ein Hoch auf die Demokratie.
"Seid einig!", gibt Werner Freiherr von Attinghausen dem Tell Junior im Sterben noch mit auf den Weg und die Weimarer machen ihm vor, wie das geht: Wie die Lämmer sprechen sie dem blinden Pastor den Rütlischwur nach, nicht einmal, nein, gleich mehrmals und andächtig murmelnd wie einen Psalm: "Wir wollen trauen auf den höchsten Gott / Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen."
In der zweiten Hälfte überzeugt einmal mehr das dezent eingesetzte und niemals kitschige Alphornensemble Weimar (Musik: Johannes Winde), doch diese gehört dann vollends Wilhelm Tell, martialisch als Legolas gespielt von Krunoslav Šebrek sowie seinem (realen und gespielten) Sohn, dem Knaben Nicolai Šebrek, der mit einem anhaltenden Schluckauf den lautesten Szenenapplaus einheimst. Nicht einmal die Apfelschussszene kann hier mithalten, obwohl ihre Spannung verdoppelt wird durch die Standhaftigkeit des Jungen beim minutenlangen Balancieren des Apfels auf seinem Kopf. Letztlich kommt der tyrannische Landvogt natürlich durch diese hohle Gasse, vervielfacht durch die fünffache Besetzung, verstärkt durch einen druckvoll gesprochenen Chor und vergrößert durch die derzeit obligatorische rote Trump-Mütze: Make Schwyz Great Again!
Maykls Mnemonik oder das Publikum als Stichwortgeber
Achja, und "Trutz". Worum ging es da? Ums Erinnern. Rainer Trutz und sein Sohn Maykl werden vor eine Wand aus Aktenordnern gestellt, wo innerhalb von einhundert Minuten über fünf Jahrzehnte ihrer Geschichte abgehandelt werden. Gleich zu Beginn suchen die drei jungen Darstellenden sich Hilfe beim Publikum und lassen sich Begriffe geben, die wir angesichts der politischen Lage nicht vergessen mögen, denn bis heute "werde das Vergessen belohnt, nicht das Erinnern". Maykl Trutz, ein glückloser Archivar, in der DDR vergeblich auf der Suche nach seinem verschollenen Vater und nach Gerechtigkeit – auch für Parteilose –, kann sich alles merken, was er einmal notiert hat. Dies, womöglich ein Traum des anwesenden Autors Christoph Hein, wird ihm allerdings immer wieder zum Verhängnis.
Die Mnemonik hat ihm sein Ziehvater Waldemar Gejm Maykl beigebracht, eine Technik, anhand derer man sich "Dinge merken kann, indem man sie zu einer Geschichte verknüpft". Auch in dieser Vorstellung spielt das Weimarer Publikum gehorsam mit: Vom "Dieselskandal" über das "Bienensterben" und "Fake News" bis hin zum raunenden "Auseinanderfallen der Gesellschaft" bieten sie Trutz alles an, was der Regisseur Enrico Stolzenburg für seine Erzählung hören wollte.
Diese Schlagworte werden letzten Endes per Overheadprojektor an die Wand geworfen, nachdem historische Audiomitschnitte von Hitler bis Schabowski die Wahrhaftigkeit der Geschichtsstunde belegen sollten. Deutlicher hätte der didaktische Ansporn Stolzenburgs nicht zutage treten, weiter hätte die Adaption seine für diesen Rahmen zu umfassende Vorlage kaum verfehlen können. Eine Inszenierung zum Vergessen.
Wilhelm Tell
von Friedrich Schiller
Regie: Jan Neumann, Bühne: Oliver Helf, Kostüme: Nini von Selzam, Musik: Johannes Winde, Dramaturgie: Beate Seidel, Maske: Hendrikje Lüttich, Licht: Jörg Hammerschmidt, Video: Andreas Günther.
Mit: Krunoslav Šebrek, Nicolai Šebrek (Arjen Poller), Nadja Robiné, Max Landgrebe, Bastian Heidenreich, Sebastian Kowski, Nahuel Häfliger, Isabel Tetzner, Gulab Jan Bamik.
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
Trutz
von Christoph Hein
Regie: Enrico Stolzenburg, Bühne und Kostüme: Alexander Grüner, Dramaturgie: Carsten Weber, Maske: Yvonne Hüttmann, Licht: Marcus Schale.
Mit: Thomas Kramer, Julius Kuhn, Esther Hilsemer
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
Premiere am 1. Februar 2019
www.nationaltheater-weimar.de
"Extrem kurzweilig" und "für viel Unterhaltung durchaus auch in des Wortes tieferer Bedeutung sorgend", so Michael Helbing in der Thüringer Allgemeinen (4.2.2019) über "Wilhelm Tell", aber auch die ironische Distanz sei groß. "Kaum ein Augenblick der Erhebung oder Erhabenheit, der nicht gebrochen oder weggelacht würde." Und auch bei "Trutz", diesem literarischen Bericht über ideologiebedingte Geschichtsvergessenheit, scheint Distanz zum Text oberstes Gebot zu sein. Die Schauspieler bewegen sich in einer spielerischen Versuchsanordnung zwischen Erinnern und Vergessen, doch schauen sie eher darauf als dass sie sich ihr aussetzen. "Eine in jeder Beziehung unfertige Inszenierung."
"Einen klugen, unterhaltsamen, aktuellen Abend" habe Jan Neumann da hingelegt, "der sich in die Inszenierungshistorie auf Augenhöhe einfügen wird", befindet Stefan Petraschewsky im MDR (2.2.2019) über "Wilhelm Tell".
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Ich fand Trutz gut! Es ist mir ein Rätsel, wie man den Eindruck haben kann, es sei didaktisch gewesen, nur wegen projizierter Informationen auf einem Polilux? Ich fühlte mich nicht belehrt, sondern sehr berührt. Auch der Kniff den Roman von drei jungen Spielern fast nebenbei erzählen zu lassen, machte in mir das Gegenteil auf, als es belehrend zu finden.
Dagegen war der Tell reiner Klamauk. Kein Konflikt glaubhaft gemacht oder nur ernst genommen. Allein ein paar tolle Bilder, und natürlich die Musik und die reale Vater-Sohn-Beziehung waren überzeugend. Auch das Ensemble fand ich an diesem Abend schwach und zwar so wie ich die Spieler in Weimar noch nicht gesehen habe. Da kann ich dem Kritiker nur zurufen mal öfter nach Weimar zu kommen, dann wissen Sie, welche starke Leistungen man sonst als Zuschauer von unserem Ensemble gewohnt ist. (Sommernachtstraum, Nathan, November 1918). Diesmal war ich eher entsetzt, wie man sich mit der Ironiekeule so sehr viel klüger glaubt, als der Text.
Für mich ist der Balanceakt zugunsten des Klamauk schief gegangen. Dass der afghanischen Schauspieler außerdem den ganzen Abend mit Sturmmaske und Maschinengewehr dafür ohne Text auf der Bühnen steht, setzt dem Ganzen die rote "Trump-Mütze" auf und lässt mich doch arg an Dramaturgie und Regie zweifeln. Auch der Kritiker scheint dieses wirklich nicht kleine, sondern omnipräsente Detail vor Ironiebegeisterung einfach mal übersehen zu haben. Ist ja auch bequemer. Stattdessen mokiert man sich über die nachplappernde Publikums-Schaf-Herde. Make Kritik great again! Es gibt verschiedene Meinungen, die ich ganz demokratisch anhören und akzeptieren und hinnehmen kann. Aber bitte sehen Sie doch wenigstens differenzierter hin!