Tatort oder Spielplatz?

von Georg Kasch

Berlin, 7. Februar 2019. Kunst ist etwas für Voyeure. Marcel Duchamp hat das gewusst, als er sein letztes großes Werk schuf, "Etant donnés: 1° la chute d’eau / 2° le gaz d’éclairage". Im Philadelphia Museum of Art kann man es nur durch zwei Löcher in der Wand betrachten, sieht dann einen Frauenakt, der einem in einer giftig leuchtenden Landschaft auf eine höchst merkwürdige Art seine offenen Schenkel entgegenstreckt. Was ist hier passiert? Ein Liebesakt? Eine Vergewaltigung? Ein Mord?

Auch Theater ist etwas für Voyeure. Monster Truck wissen das. In Gießen gegründet und lange schon in Berlin beheimatet, gehören sie zu denjenigen im Performance-Geschäft, die einen selten kalt lassen. Man ärgert oder wundert sich oder hat seinen Spaß, wenn sie mit der Erwartungshaltung des Publikums spielen oder einem ihre Rätselbilder provokativ langsam vor die Füße puzzeln. Schon mehrfach haben sie den Theaterbegriff auf seine Dehnbarkeit überprüft, etwa als sie Performer*innen mit Downsyndrom als Mongolen oder Regisseur*innen inszenierten (beziehungsweise sie inszenieren ließen – aus diesen Uneindeutigkeiten entstehen die Spannungen), verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu Schauspielern erklärten und Operninszenierungen sowie Eishockeyspiele zu Readymades.

Wer verführt, wer missbraucht?

In "Phaedra" an den Berliner Sophiensälen erzählen sie jetzt vom uneindeutigen Feld zwischen Liebe, Abhängigkeit und Missbrauch, übernehmen dazu von der titelgebenden Königin, die unerwidert den Stiefsohn liebt, nur die Grundkonstellation von Macht und Begehren, die ungleich verteilt sind.

Phaedra 560a c paulareissig uLucy Wilke, Paul Welle © Paula Reissig

Etwa in der entscheidenden Szene, in der die Performer*innen Lucy Wilke und Paul Welle Duchamp nachstellen. Er hebt ihren Körper aus dem Rollstuhl, drapiert ihn vorsichtig auf eine Matratze, die mitten in einer Blutlache liegt. Sie gibt die Anweisungen: Zieh mein Kleid hoch bis über die Brust. Stell meine Knie auf. Drück mir die Lampe in die Hand. Zoom mit der Kamera auf mich. Leg dich zu mir. Fahre mit Deinen Händen über meine Brust, meinen Körper. Technik: Techno bitte! Und dann rammelt Welle an ihr herum, bis er wortlos abgeht.

Was ist hier zu sehen? Dass dieser Körper kein normschöner ist, sondern einer, dem wir eine Behinderung zuschreiben, macht die Sache so ambivalent – und uns in besonderer Weise zu Voyeuren. Wer verführt, wer missbraucht wen? Wilke Welle, weil sie ihn wie einen (Pflege-)Assistenten zu ihrem verlängerten Arm macht, dabei intime Grenzen überschreitet? Oder Welle Wilke, weil er nirgends Halt macht? Oder liegt die Grenzüberschreitung nur im Auge der Betrachter*innen, weil wir Menschen mit Behinderung oft weder eine Sexualität noch künstlerische Autonomie zugestehen?

Liebesszene? Pietà? Kinderspiel?

Monster Truck haben Expertise mit derlei Provokationen. Wie immer legen sie ihre Werkzeuge offen. Etwa zu Beginn, als sie einerseits Film-Grusel etablieren: Synthesizer wabern wie der Nebel, in dem Tannenbäume kopfüber an einem Mobile kreisen; zwei Krähen senken und heben sich an dünnen Fäden – ist das ein Vogelkrächzen oder schon ein menschliches Stöhnen? Andererseits ist es gleichzeitig sehr komisch, wie der kleine Paul Ridder so tapfer wie ergebnislos in der großen Blutlache herumfeudelt.

Dann kommen Wilke und Welle mit Mäusemasken auf dem Kopf und spielen drei Mal den abgewandelten Text einer Zeichentrick-Kinderserienfolge "Peppa Wutz" durch: Nach dem Pfannkuchenbacken geht’s noch zum Versteckspielen. In ihren künstlich hochgepitchten Stimmen schwingt bei aller aufgekratzten Kindlichkeit Bedrohung mit. Bei jeder Wiederholung wird der Dialog düsterer, ernster, verlagert sich der Bedrohungsfokus: Ist es anfangs die Mutter, die ihren Sohn wie eine Sirene verführt, in die Ecke drängt, klingt der Sohn bald aggressiver, fordernder. Immer aber landet ihre Schnauze in seinem Schritt. Später, ohne Masken, hebt Welle Wilke aus ihrem Rollstuhl, setzt sich mit ihr auf dem Schoß selbst hinein. Eine Liebesszene? Eine Pietà?

Phaedra 560b c paulareissig uWer liegt im Grusel-Glashaus? © Paula Reissig

Am Ende zieht Welle Wilke auf ihrer Matratze ins kleine Glashaus, das auf der Bühne steht. Phaedras Selbstmord ist nur noch technische Finesse, ein Splatterzitat. Wer hier Opfer, wer Täter ist, ob es überhaupt ein Verbrechen gab, bleibt so offen wie bei Duchamp. Schließlich setzt sich Paul Ridder selbst die Mäusemaske auf, schnappt sich die beiden Krähen und geht mit ihnen anrührend noch einmal die Pfannkuchenszene durch. Könnte also auch sein, dass das alles nur Kinderspiel gewesen ist.

Phaedra
von Monster Truck
Regie: Monster Truck, Dramatugie: Kris Merken, Sound: Alice Ferl, Special Effects: Stine Hertel, Licht: Joscha Eckert, Choreografie: Chiara Kastner.
Mit: Paul Welle, Lucy Wilke, Paul Ridder.
Premiere am 7. Februar 2019
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

monstertrucker.de
www.sophiensaele.com

 

Kritikenrundschau

Die Sex-Szene zwischen Lucy Wilke und Paul Welle werfe Fragen nach Handlungshoheit und Zuschreibungen auf, so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (9.2.2019). "Aber nicht mit der subversiven Power früherer Produktionen und längst nicht so zielgerichtet. Der Abend wirkt unfertig, obwohl er spüren lässt, was in ihm stecken könnte." Allerdings sei eine Premierenicht der Schlusspunkt künstlerischer Beschäftigung, und einer Gruppe wie Monster Truck sehe man gern mal beim Nachdenken und Weiterdenken zu.

"Eine Schauspielerin darf nicht nur ohne idealgeformten 'Normalkörper' eine Sexszene spielen – sie ist sogar ihre eigene Regisseurin!", schreibt Elena Philipp in der Berliner Morgenpost (9.2.2019) "Ist diese Szene das heutige Äquivalent zum antiken Tabubruch?"  Mit Fragen wie dieser entlasse Monster Truck das Publikum aus der assoziativ verknüpften Szenenfolge. "Phaedra" sei "eine böse Familien-Splatter-Fantasie".

 

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