Krimi mit Untergrund

von Jan-Paul Koopmann

Bremen, 14. Februar 2019. Als zum Ende die Schredder anlaufen, ist die Trennschärfe eh längst dahin. Es ist ein Chaos, das da zu melancholisch-schöner Musik in den Aktenvernichtern landet: Zettel mit den Namen der NSU-Opfer Mehmet Turgut, Enver Şimşek oder Theodoros Boulgarides. Auf anderen finden sich die Schlagworte der Migrationsdebatte: "Deutschland schafft sich ab" etwa, oder schlicht "Chemnitz". Auch ein Foto von Otto Schily wird gehäckselt, dazu diverse Dokumente, auf denen das Relevante längst schon in dicken Balken geschwärzt wurde. Es ist eine der stärksten Szenen in Nurkan Erpulats "Aus dem Nichts" Inszenierung, wie da minutenlang nur Schnipsel fliegen – aber auch ihr entlarvendster.

Denn in dieser gleichmachenden Papierfetzenorgie steckt ein Problem, auf das schon Fatih Akins Filmvorlage keine befriedigende Antwort geben konnte: Will "Aus dem Nichts" nun über den NSU sprechen und eine konkrete deutsche Gemengelange durchleuchten, in der rassistische Terroristen über Jahre ungehindert morden konnten, weil nicht minder rassistische Ermittlungsbehörden und eine rassistische Presse sich in der Wahnidee verbissen hatte, die Hintergründe der Taten müssten "im Milieu" liegen? Oder soll es um Selbstjustiz einer fiktiven weißen Frau gehen, die als einzige handeln darf, im Namen derer, die sie verloren hat?

Untergang aus Rache

"Aus dem Nichts" versucht beides: Der Nazianschlag in dieser Geschichte ist fiktiv, orientiert sich aber unübersehbar am 9. Juni 2004, als der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund eine Nagelbombe in der Kölner Keupstraße zündete. Im Stück wie in Köln kommt die Polizei den Nazitätern erst spät und ohne eigenes Zutun auf die Spur. Doch während die Sache in Realität immer komplizierter und skandalöser wurde – vor allem, weil der Verfassungsschutz seine Akten schredderte – machen es sich Spielfilm und Armin Petras' Theateradaption leicht. Die Täter werden freigesprochen und die Bühne damit frei für den Racheakt der deutschen Frau, die ihren kurdischstämmigen Ehemann und ihr gemeinsames Kind verloren hat.

AusDemNichts 2 560 JoergLandsberg uNadine Geyersbach, Irene Kleinschmidt, Martin Baum © Jörg Landsberg

Dass Katja Sekerci (in Fatih Akins Film gespielt von Diane Kruger) bereit ist, selbst zu morden, wird in der Bremer Inszenierung nur zu verständlich: Da sind diese zermürbenden Verhöre durch Kommissar Fischer. Schon den würde man am liebsten eigenhändig kräftig durchschütteln, weil Martin Baum es vermag, die Figur in ihrer eigentlich harmlosen Trotteligkeit als ultimatives Aufklärungshindernis zu präsentieren. "Ich hatte gehofft, Sie würden uns helfen", sagt er und wirkt dabei ein bisschen beleidigt, aber auch manipulativ. Dass Irene Kleinschmidt als Katjas erfolglose Anwältin so aufreibend engagiert rüber kommt, macht es nicht einfacher. Auch hier ist kein Ventil, sie hat es wirklich versucht. Und natürlich ist da die Sache selbst: Als Katja von ihrer toten Familie Abschied nehmen will, bekommt sie zu hören, da seien nur noch Leichenteile: Man kippt ihr schwungvoll eine Kiste vor die Füße. Einen IKEA-Karton voll Lego, Duplo, wasweißich. Ein Haufen buntes Plastik jedenfalls, wie es in neun von zehn Kinderzimmern nervig herumfliegt. Und da schnürt sich einem wirklich alles zusammen.

Unverständliches Gerechtigkeits-Ritual

Es ist mehr als beachtlich, wie Nadine Geyersbach als Katja Sekerci es schafft, diese enorme Spannung zu halten, ergreifend um das tote Kind zu trauern, den endgültigen Zusammenbruch aber noch aufzusparen für das Versagen der Justiz. Als die Täter freigesprochen werden.

Und soweit funktioniert Nurkan Erpulats Zugriff auf den Stoff auch wirklich gut: als klaustrophobisches Psychostück auf beklemmend leerer Bühne. Schwarze Talare, schwarze Bomberjacken, Sturmhauben und das schwarze Kleid der griechischen Faschistin, die den deutschen Nazis ein falsches Alibi aus dem Hut zaubert. Und von oben regnet es die ganze Zeit weiße Papierschnipsel. Vor Gericht wird später ein großer Papierklotz herumgewälzt, ein übermenschengroßer schwerer Quader aus gepressten Schnippseln, der immer mal wieder sinnlos, aber donnernd von einer Seite auf die nächste gekippt wird: ein Ritual nach Regeln, die niemand versteht.

AusDemNichts 1 560 JoergLandsberg uFabian Eyer, Nadine Geyersbach, Irene Kleinschmidt © Jörg Landsberg

Doch so dicht das aussieht, verzettelt sich die Inszenierung genau hier in ihren Verweisen. Der echte NSU und sein gesamtgesellschaftlicher Resonanzraum sind monströser als dieser Krimistoff und bleiben es auch nach eineinhalb Stunden Theater. Politisch muss man mindestens fragen, ob die weiße deutsche Hauptfigur nicht die Marginalisierung der echten Opfergruppe reproduziert.

Für eine Reflexion staatsbürgerlicher Haltungen ist "Aus dem Nichts" dann wieder zu persönlich, zumal Katja Sekerci auch nicht als kürzlich Desillusionierte daherkommt. Nadine Geyersbach macht keinen Kohlhaas aus der Rolle und reiht das totale Staatsversagen ein in eine ganze Reihe einzelner Krisenmomente. Am Ende bleibt ihr Selbstmordanschlag auf die Nazis vor allem ein Selbstmord, ihre individuelle Tragödie, während die Hintergründe verblassen. Katja Sekercis Geschichte ist eine andere als die des NSU – und die beiden tun einander nicht wirklich gut.

Aus dem Nichts
von Armin Petras nach dem gleichnamigen Film von Fatih Akin
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Elena Melissa Stranghöner, Kostüme: Pieter Bax, Licht: Joachim Grindel, Musik: Michael Haves, Dramaturgie: Sabrina Bohl.
Mit: Martin Baum, Nadine Geyersbach, Irene Kleinschmidt, Judith Goldberg, Julian Anatol Schneider, Fabian Eyer.
Uraufführung am 14. Februar 2019
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

 


Kritikenrundschau

"Ein kompakter kleiner Abend ist in Bremen entstanden, ganz weit weg von aller Künstlichkeit des Kinos", urteilt Michael Laages in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (14.2.2019). "Spektakulär ist Erpulats Inszenierung, gerade weil sie völlig unspektakulär bleibt – dadurch aber viel authentischer vom Schrecken der Geschichte erzählt, und vom Leiden der Menschen."

"Ein brisantes Thema, spektakuläre Effekte, ein glänzend aufgelegtes Ensemble – und entsprechend viel Schauwert", erlebte Hendrik Werner vom Weser-Kurier (15.2.2018) am Theater Bremen. "Drastischer und plastischer dürfte dieses arge wie absurde Kapitel Zeitgeschichte einem jugendlichen Publikum kaum vermittelbar sein als durch den bemerkenswerten Budenzauber, den der türkische Theatermacher Erpulat wieder und wieder bildmächtig anzettelt."

Viel Lob hält Rolf Stein von der Kreiszeitung (15.2.2019) für die Hauptdarstellerin Nadine Geyersbach bereit. Sie lasse ihre "ihre durchaus auch ambivalente Figur vor unseren Augen schier vergehen", schreibt er. "Das macht diesen Abend, der vieles anreißt, aber nicht ausführt und durchaus ratlos machen kann, dann doch zu einem nachhaltigen Erlebnis. Hier tritt dann nicht nur die unschlüssige Dramaturgie des Abends etwas in den Hintergrund, sondern auch die heterogene Arbeit des Ensembles."

 

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