Digital ist doofer

von Martin Thomas Pesl

Graz, 15. Februar 2019. Das Netz gibt es hier nur analog. Es hängt über der Bühne im Haus Zwei des Grazer Schauspielhauses. Es tut so, als solle es fallende Scheinwerfer auffangen, aber so niedrig, wie es hängt, ist klar: Das wird noch runterfallen und jemanden gefangen nehmen. Solche Bilder drängen sich nun einmal auf bei einer Komödie mit der schlichten Prämisse: Stell dir vor, die ganze Digitalisierung wäre nicht Produkt komplexer technologischer Entwicklungen, sondern eine allegorische Figur namens Herr Kwant.

Josef K. ist jetzt Digitaldienstleister

Zu Beginn von Philipp Löhles 2018 in Düsseldorf uraufgeführtem Stück "Die Mitwisser" ist ein solcher Kwant (Sarah Sophia Meyer) noch etwas Unerhörtes, quasi für uns alle Neuland. Theo Glass (Clemens Maria Riegler) hat ihn sich zugelegt und ist ganz aus dem Häuschen. Höflich ist der neue Mitbewohner, witzig – auf dem Namensschild steht "Josef K.", wie bei Kafka, zum Schießen! –, und sind die AGB erst einmal ungelesen unterschrieben, einfach irre hilfreich. Holt Kaffee, empfiehlt eine bessere Kaffeemaschine und bestellt sie auch gleich. Theo arbeitet als Enzyklopädist bei einem Wissensinstitut, da ist Herr Kwant natürlich goldwert. Seine Frau Anna (Henriette Blumenau) gibt sich zunächst skeptisch, denn "Wenn Sie schwanger werden wollen, sollten Sie Ihren Koffeinkonsum einschränken" hört man nicht gerne von einem Fremden. Aber schon bald legt sie sich ihren eigenen Herrn Kwant zu (Mikhail Gusev).

Die Mitwisser 560 c Lupi Spuma u 01Im Hochfrequnz-Internet: das Grazer Ensemble spielt auf der Bühne von Timo Kriegstein © Lupi Spuma

Man kann sich vorstellen, wie es weitergeht, nämlich den Bach runter, und das ist auch das fundamentale Problem dieser auf dem Reißbrett entworfenen "Idiotie", wie der Autor sie selbst nennt. Sie wäre als dreiminütiger Sketch besser verpackt denn als abendfüllendes Drama. Spätestens wenn Theo Glass von der Frau verlassen und vom Chef entlassen ist und sich gleich sechs Kwants von einer Art Schaltzentrale aus um ihn kümmern, fühlt man sich an Alles steht Kopf erinnert, den Animationsfilm, in dem die Emotionen eines Mädchens die Hauptfiguren sind. Von dessen Niedlichkeit, Klugheit und Witz kann "Die Mitwisser" nur träumen.

Flugblätter statt Rundmails

Für die Disney-Assoziation ist bei dieser österreichischen Erstaufführung auch Regisseurin Felicitas Braun mitverantwortlich. Grell gekleidet lässt sie ihr Ensemble hereintanzen, immer wieder geschäftig alles mitnotieren (= Daten sammeln), vereinzelt Live-Mickey-Mousing betreiben. Die Schaumstoffbühne ist als große Speicherkarte oder Computerspiel-Labyrinth zu interpretieren, auf den Seiten stehen alte Monitore, über die immer wieder Kapitelüberschriften und kleine Videos flackern. Wann immer davon die Rede ist, dass Herr Kwant ein Bild herzeigt, holt er eine Oblate Esspapier aus seiner Bauchtasche und stopft sie jemandem in den Mund. Übersättigung eben.

Braun bemüht sich, mit dem Stück (oder auch: am Stück vorbei) eine eigene Aussage zu treffen, das Analoge zu feiern. Bei Einlass liegen auf jedem Platz Zettel und Stift. Fragen wie "Sind Sie gesprächig?" und "Wann haben Sie zuletzt ein lebendiges Schaf gesehen?" darf man da beantworten. Am Ende klebt Theo Glass, der eben kein gläserner Mensch mehr sein will, Flugblätter im Raum auf, auf denen "Geh! Dichte!" steht – eine Hommage an den Wiener "Zettelpoeten", einen Helden des Analogen. Einen ästhetischen oder inhaltlichen Zugewinn hält dieses neu geöffnete Fass aber nicht mehr bereit. Und die Fragebögen werden zwar irgendwann eingesammelt, es passiert aber – zumindest bei der Premiere – nichts damit.

Die Mitwisser 280 c Lupi Spuma u 02Gläserne Menschen: Henriette Blumenau und Clemens Maria Riegler als Ehepaar Glass
© Lupi Spuma
Den Text selbst behandelt Braun indes recht grob: Da tritt plötzlich der Darsteller des Nachbarn Fred, Fredrik Jan Hofmann, aus seiner Rolle und erklärt, dieser Fred komme ab jetzt nicht mehr vor, und übrigens habe ihn der Autor ursprünglich als Kwant-Killer und Bombenbauer angelegt. Klingt, als hätte man der einzig potenziell komplexen Figur einen vorzeitigen Absturz aufgezwungen und wäre auch noch stolz darauf. Tatsächlich wird in der offiziellen Stückfassung Theo zum Whistleblower gegen Überwachung, während Fred the next big thing baut: einen Computer. Dass Löhle seinem Text eine ausführliche Literaturliste voranstellt, wirkt angesichts seines simplifizierenden Zugangs fast wie Hohn. Warum Braun das Ende gestrichen hat, bleibt trotzdem fraglich.

Die Schauspieler*innen, zum Teil Studierende der Grazer Kunstuni, liefern konsistent, verzichten aber auf virtuose Momente, und selbst die richtig großen Lacher kann man trotz Komödiensetting und Lockenperücken an einer Hand abzählen. Der Applaus in Graz fiel dann trotzdem herzlich aus. Und nachher? Smartphone raus, Flugmodus aus, rein ins Netz. Eh klar.



Die Mitwisser
Eine Idiotie von Philipp Löhle
Österreichische Erstaufführung
Regie: Felicitas Braun, Bühne: Timo Kriegstein, Kostüme: Aleksandra Kica, Video: Moritz Grewenig, Dramaturgie: Jennifer Weiss.
Mit: Henriette Blumenau, Mikhail Gusev, Frederik Jan Hofmann, Sarah Sophie Meyer, Clemens Maria Riegler, Leontine Vaterodt, Hanh Mai Thi Tran.
Premiere am 15. Februar 2019
Dauer: 1 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com

 

Kritikenrundschau

"Die Idee zu Philipp Löhles 'Die Mitwisser' ist nicht neu, aber durch moderne Technologien und Datenmissbrauch deutlich näher gerückt", schreibt APA in der Tiroler Tageszeitung (16.2.2019). Doch das Leben unter Supercomputern und in oberflächlicher "Plastik-Zufriedenheit, die keine Auseinandersetzungen mehr zulässt" hat sie/ihn nicht ganz überzeugt: "Das alles ist originell gemacht, hat aber einige Längen, wenn wieder und wieder ähnliche Situationen aneinandergereiht werden."

 

 

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