Zerfallende Familie, bröselnde Identität

von Alexander Jürgs

Wiesbaden, 15. Februar 2019. Pennsylvania, die gleiche Pension wie vor zehn Jahren. Und wieder teilen sie sich einen Joint. Nur der Sex, der funktioniert nicht mehr. Damals, da mussten sie sich nur anschauen und sind schon gekommen. Keine Finger, keine Zunge, bloß gucken. Heute läuft auch trotz Berührungen nichts. Jacobs Rücken rebelliert, dann gehen sie aufeinander zu, verknoten sich, rutschen ab. Ungelenk und ungeschickt. Es hat etwas von Slapstick, wie Adina Vetter und Tom Gerber die Szene spielen. "Es liegt nicht an dir", sagt Gerber als Jacob. "Nett, dass du das sagst", antwortet Vetter in der Rolle der Julia.

Nur Worte, keine Taten

Ja, diese Ehe ist im Eimer. Und die anzüglichen SMS, die der Drehbuchautor Jacob per Zweithandy mit einer Kollegin austauschte und die Julia bald entdecken wird, bringen das Fass bloß noch zum Überlaufen. Es ist ja auch zu erbärmlich: Jacob, der Hygienefanatiker mit seiner Höllenangst vor Infektionen, betört seine Kollegin mit Fantasien, in denen er ihr das Sperma aus dem Arschloch lecken will. Ausgerechnet Jacob, der schon lange keine Erektion mehr zustande bekommt und sich vor allem Unreinen fürchtet. Es ist doch nichts passiert, schwört er. Es waren doch nur Worte, keine Taten.

Hier bin ich 560 c Karl Monika Forster 02Menschen im Hotel: die zerbröselnde Familie von Jacob und Julia  © Karl Monika Forster

In "Hier bin ich", 2016 erschienen, erzählt der Erfolgsautor Jonathan Safran Foer von einem Paar, das nicht mehr weiterkann, von einer Ehe, die zerbröselt, aber auch von den Kindern dieser Mittelschichtsfamilie, von Sam, der bald Bar-Mizwa feiern soll und sich in einer virtuellen Parallelwelt namens Other-Life in der Rolle der Latina Samantha verliert, von Max und von Benjy. In seinem Roman erzählt Foer aber auch vom Urgroßvater dieser Kinder, dem Shoa-Überlebenden Isaac, der sich das Leben nimmt, weil er Angst vor dem Altersheim hat. Und von der Sorge um den Familienhund, der inkontinent geworden ist und nun überall seine stinkenden Haufen hinterlässt.

Er erzählt von einem Erdbeben, das den Nahen Osten durcheinander wirbelt, und von einem Krieg, der auf dieses Erdbeben folgt und für den die israelische Armee nun auch in der Diaspora um Unterstützung trommelt. Jonathan Safran Foer fragt in "Hier bin ich" nicht nur danach, was eine Familie zusammenhält (oder eben nicht), sondern auch danach, was eine jüdische Identität mittlerweile ausmacht. Es ist ein überbordender, ein verschlungener Roman, beinahe 700 Seiten lang. Wer ihn auf eine Theaterbühne hieven will, kommt deshalb gar nicht daran vorbei, ihn ordentlich zu verknappen.

Superman mit Kipa

Adriana Altaras versucht es, indem sie sich auf das Komische in Foers Werk fokussiert. Aus dem Stoff macht sie eine temporeiche Komödie um eine Viergenerationenfamilie, mit viel Musik von Country, Bigband und Blues bis zu den hingehauchten Hits von The Cure. Den Bühnenboden lässt sie rauf und runter fahren, Wände schieben sich in die mahagonibraunen Kulissen und verschwinden wieder. Ein leibhaftiger Hund döst am Bühnenrand. Benjy, der jüngste Sohn von Julia und Jacob, steckt in einem Superman-Kostüm, zu dem er eine Kippa trägt – was man gewiss auch als Anspielung auf die jüdischen Superhelden-Erfinder Joe Shuster und Jerry Siegel deuten soll.

Altaras, die schon für Rudolf Thome und Dany Levy vor der Kamera stand, die am Berliner Ensemble und an der Neuköllner Oper inszenierte und über ihre Eltern, jüdische Partisanen aus Jugoslawien, das wunderbare Buch "Titos Brille" schrieb, erschafft in ihrer Inszenierung Szenen, die sich durch feine Ironie auszeichnen. Als Julia die Sexting-Nachrichten ihres Ehemanns entdeckt, lässt die Regisseurin sie mit offenem Mund über die Bühne torkeln. "Life goes on and this world keeps on turning", erklingt der Blues dazu, bevor Jacob auftaucht, der sich – weiße Beine, enger Slip, die Socken hat er angelassen – sichtbar betrunken neben seine Frau ins Bett wirft, ohne auch nur im Ansatz zu realisieren, wie schlecht es ihr geht. Es ist ein einfaches, aber starkes Bild für ein Paar, das nicht mehr zueinander findet.

Hier bin ich 560 c Karl Monika Forster 01Ist hier noch etwas zu retten? Adina Vetter und  Tom Gerber © Karl Monika Forster
Was dagegen verloren geht, ist das Ausufernde und Mäandrierende von Foers Roman, das sprunghafte Erzählen. Man verliert sich nicht in dieser Inszenierung. Und auch der durch die Naturkatastrophe ausgelöste Gewaltkonflikt im Nahen Osten lässt einen erstaunlich kalt. Altaras berichtet davon vor allem mittels LED-Bildschirmen, auf denen die Nachrichtenspots zur Lage in der Krisenregion flimmern. Jacobs Entscheidung, doch nicht nach Israel zu ziehen (also nicht zu sagen: "Hier bin ich"), spielt nur für einen allzu kurzen Moment eine Rolle. So bleibt das Stück schemenhaft.

Erst am Ende zwingt Jacob, dieser Unentschlossene, sich endlich zur Konsequenz. Argus, der kranke Familienhund, hat weiter abgebaut. Und auch bei Jacob wurde ein seltsamer Knoten im Hals identifiziert. Mit dem Hund geht er zur Tierärztin, und er bleibt auch dabei, als das Tier schließlich eingeschläfert wird. "Schau mich an, ich bin bereit", sagt er. Die Bühne wird dunkel. Licht spenden jetzt nur noch die Handvoll Kerzen auf dem Chanukkaleuchter.

 

Hier bin ich
von Jonathan Safran Foer
übersetzt von Henning Ahrens
Spielfassung von Adriana Altaras und Ensemble
Regie: Adriana Altaras, Bühne: Gisbert Jäkel, Kostüme: Jessica Karge, Dramaturgie: Wolfgang Behrens, Video: Gérard Naziri
Mit: Tom Gerber, Adina Vetter, Atef Vogel, Uwe Kraus, Barbara Spitz, Leo Altaras, Mitglieder der Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Premiere am 15. Februar 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

Birgitta Lamparth schreibt im Wiesbadener Kurier (18.2.2019), der 700-seitige Roman von Jonathan Safran Foer sei "turbulent und herzerweichend". Die Kritikerin kann der komplexen und herausfordernden Inszenierung von "Hier bin ich" viel abgewinnen: "Adriana Altaras hat aus dem gewichtigen Brocken Literatur um die Selbstbestimmung des Einzelnen einen klugen Theaterabend destilliert, dessen Kernaussagen auch jenseits religiöser Lesart funktionieren."

 

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