Jenny Jannowitz - Swentja Krumscheidt zeigt in Neubrandenburg Michel Decars surreale Tragikomödie über die globalisierte Arbeits- und Lebenswelt
Die Welt ist meine Gummizelle
von Georg Kasch
Neubrandenburg, 16. Februar 2019. Ist Neubrandenburg das Zentrum des Universums? Oder vielleicht des Jenseits? Jenny Jannowitz, titelgebender Todesengel, trägt jedenfalls einen schwarzen Faltplan mit sich herum: Auf der einen Seite leuchten weiß die Himmelssterne, auf der anderen die Straßen Neubrandenburgs.
Und warum auch nicht? Michel Decars Tragikomödie über die Absurditäten der globalisierten Arbeits- und Lebenswelt, 2014 bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen uraufgeführt, im selben Jahr mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet, beginnt in Berlin, führt dann bald über Hamburg und München um die halbe Welt und endet an einem Ort, der gut Neubrandenburg sein könnte – auch hier rast schließlich das Leben an einem vorbei.
Anklänge an "Alice im Wunderland"
Atemlos hetzt Decar seinen Antihelden Karlo Kollmar durch eine entfremdete, absurde (Arbeits-)Welt wie Lewis Carroll das Kaninchen durch Alices "Wunderland". Ein irrwitziger Alptraum, in dem die Dinge zu ihm sprechen und die Menschen Namen und Frisuren wechseln, sich aber in ihren sinnentleerten Routinen gleichbleiben. Heißt seine Freundin nun Sibylle oder Sabine? Sein Chef Pappeldorn oder Papenburg? Er selbst Karlo oder Carlo? Und was ist mit all den Alice-Spuren?
Alles so uneigentlich hier: Benjamin Muth und Dirk Schmidt spielen im Bühnenbild von Kathlina Anna Reinhardt © Jörg Metzner
Das liest sich auf dem Papier leicht – ist aber auf der Bühne schwer zu machen. Denn für die sich in immer neuen Varianten wiederholenden Grundsituationen mit der Mutter, dem Chef, der Freundin, dem auf allen Gebieten konkurrierenden Freund Oliver, die szenisch herausfordernd miteinander verzahnt sind, braucht man Lösungen: etwa das Tempo hochhalten, die Klischees nicht illustrieren, Bilder finden für die Überforderung, die dieses komplett aus dem Ruder laufende Leben für Karlo darstellt, aber auch für die Netzstruktur der Themen und Motive.
Wenn die Dinge sprechen
Wenn die Dinge – Nachttischlampe, Kleiderhaken, Universum – sprechen, gelingt das Regisseurin Swentja Krumscheidt im Schauspielhaus Neubrandenburg (der kleineren Spielstätte im Fusionstheater Neubrandenburg / Neustrelitz) ziemlich gut: als knackende, vielschichtige Hörspiel-Spur, in der sich Klänge überlagern, Stimmen aufflackern, man manchmal die Orientierung verliert. Dazu hat Ausstatterin Kathlina Anna Reinhardt nicht minder treffende Videobilder beigesteuert: Einmal kämpft sich Karlo mit plüschigem Hasenkopf und Boxhandschuhen durch ein Game-Level, dann wieder überlagern sich unendliche Reihen aus Nullen und Einsen. Auch ihr Kubus auf der Drehbühne ist klug gemacht, ermöglicht szenische Überlagerungen, verbindet zudem Projektionsfläche, poppig bunte Partywand und ein cooles weißes Startup-Büro, in dem Fenster, Türen, Bilder schwarz auf weiß gemalt sind. Alles so schön uneigentlich hier.
Das Jenseits naht: Anika Kleinke als Todesengel Jenny Jannowitz und Benjamin Muth als überforderter IT-Nerd Karlo © Jörg Metzner
Sobald es allerdings an die Dialoge geht, ist der Wurm drin. Da versuchen die Schauspieler mit allen möglichen Einfällen, Akzentuierungen, Übertreibungen, die Klischees ad absurdum zu führen – und treten bemüht auf der Stelle. Benjamin Muth taumelt als Karlo mit betretenem Gesicht von einer Station und Figur zur nächsten. Er ist kein Detektiv seines aus den Fugen geratenen Lebens (wie es im Text einmal sinngemäß heißt). Sondern ein bleicher Junge mit wirrem Strubbelhaar, der sehr wohl als übernächtigter IT-Nerd durchgeht, aber nicht als einer, der sich über sein Leben zu wundern beginnt. Es ist ja vollkommen richtig, dass Karlo die Welt so weich und konturlos wird, dass er sie als Gummizelle empfindet. Aber wie Muth dazu durch den leeren Kubus stolpert, wirkt doch sehr didaktisch. Salatsplatter und Kopulationscomedy machen die Sache nicht besser.
Der kumpelhafte Todesengel
Der Abend funktioniert dann, wenn Karlo (vergeblich) versucht, sein Problem zu artikulieren. Etwa in der ersten Selbstmordszene: Mit einem Knall geht das Licht aus, die Schauspieler fluchen, rufen die Technik, die kommt mit der großen Leiter. Auf der steht mit einer Taschenlampe Philipp Oliver Baumgarten als Nachtportier und verwickelt Karlo ins Gespräch, hält ihn so vom Springen ab.
Oder wenn er Jenny Jannowitz begegnet. Anika Kleinke spaziert lässig mit ihrem schwarz glänzenden Prachtflügelpaar über die Bühne, blickt milde lächelnd auf Karlo, der sich so sinnlos abstrampelt. Ihr Todesengel ist tiefenentspannt und streng zugleich, berlinert kumpelhaft, zischt im nächsten Moment: "Nicht anfassen!" Wenn Jenny zum Schluss offenlässt, ob sie Karlo mit ins Jenseits nimmt oder einfach nur seine Perspektive auf die Welt ändert, dann gewinnt der Abend eine mehrdeutige Leichtigkeit, die man vorher zu oft vermisst hat.
Jenny Jannowitz
von Michel Decar
Regie: Swentja Krumscheidt, Ausstattung: Kathlina Anna Reinhardt, Dramaturgie: Katrin Kramer.
Mit: Philipp Oliver Baumgarten, Anika Kleinke, Benjamin Muth, Kim Pfeiffer, Josefin Ristau, Dirk Schmidt.
Premiere am 16. Februar 2019
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theater-und-orchester.de
Kritikenrundschau
Christine Gerhard schreibt im Nordkurier aus Neubrandenburg (19.2.2016): Das Ensemble zeichne eine "schonungslose Karikatur unserer Zeit", ihrer "Anforderungen und der Überforderung mit den Medien". Dabei sei es dem Ensemble gelungen, einen "fugenlosen Bogen zwischen Tragik und Komödie zu schlagen". Während das Publikum zuweilen in betroffenem Schweigen verharrt habe, hätten es die Schauspieler geschafft, das "kluge aber schwierige Stück" mit seiner "aufgehobenen Chronologie und dem der Globalisierung angepassten Verschwimmen von Orten, von Arbeit und Privatem", "leicht zu erzählen", ohne dass es dabei etwas von "seiner Bedeutung oder Dringlichkeit" eingebüßt habe.
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