Der goldene Topf - In Aalen entdecken Tonio Kleinknecht und Marco Kreuzer mit E.T.A. Hoffmanns versponnenem Märchen die Instagram-Fantastik
Unter Influencern und Spießern
von Steffen Becker
Aalen, 19. Februar 2019. Straight to the point: Die Internetseite des Theater Aalen weist in der Ankündigung von E.T.A. Hoffmanns "Der goldene Topf" explizit darauf hin, dass dieses Werk 2019 Abiturthema in Baden-Württemberg wird. Intendant Tonio Kleinknecht zielt offensiv auf jene Kandidat*innen einer Oberstufe, die sich sonst vor einer Romaninterpretation schnell noch mal die Verfilmung des Buchs anschauen – weil Lesen ist ja echt anstrengend und so.
Kein orientalischer Schwulst
Daher ist die Textbearbeitung von Marco Kreuzer (der sich mit Kleinknecht die Regie teilt) auch als multimediale Inszenierung angelegt. Das heißt, sie wird präsentiert von einem Erzähler, der sie im Stil einer Instagram-Story abfeiert. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein simpler Kniff, damit das Werk der Romantik den Twenty-First-Century-Schüler*innen auf der Bühne nicht so "schwul" vorkommt oder als "orientalischer Schwulst", wie einer der Protagonisten des Stücks eine fantastische Geschichte in der Geschichte kommentiert. Doch schon bald erweist sich die Bühne mit ihren drehbaren Projektionsflächen als größte Stärke der Inszenierung.
E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen ist durch seine relative Dialogarmut und seine erratische Erzählstruktur schwer ins Theater zu zwängen. Wer im Publikum so wie im Unterricht öfter das Handy checkt, fliegt schnell raus aus der Geschichte. Ein Archivarius, der eigentlich ein Salamander ist, eine Hexe zur Gegnerin und eine Schlange zur Tochter hat; eine Lilie, um die ein Jüngling mit einem Drachen kämpfen muss – mit Animationsfilmen visualisiert die Regie diese Märchenelemente.
Das sorgt für Kurzweiligkeit und ein besseres Verständnis dessen, was E.T.A. Hoffmann im nächtlichen Schreibrausch kreuz und quer montiert hat. Und vor allem: Die Animationen lassen die Fantasiewelt wie einen abgefahrenen Trip voller morphender Formen wirken. Cool. Auf jeden Fall nicht so seltsam wie sich Romantik für Instagram-gewöhnte Augen heute liest. Damit ist für den Abend viel gewonnen.
Zwischen Alltag und digitaler Welt
Komplexität reduzieren ist auch das Regiemotto bei der Figurenzeichnung. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Fantasie- und bürgerlicher Welt gerät in der Stadthalle Aalen wesentlich strikter als in der Reclam-Interpretationshilfe für die Deutsch-Arbeit. Bernd Tauber darf den Archivarius als geheimnisvollen, gütigen Melancholiker geben, der eine tiefe Erkenntnis unserer Welt in der Fantasie verspricht. Manuel Flach überzeugt als schwärmerischer Student Anselmus, der sich enthusiastisch in den Strudel der Fantasien wirft.
Die bürgerlichen Figuren sind dagegen ziemlich beschränkt. Was Philipp Dürschmied und Arwid Klaws als rechtschaffene Beamte immerhin noch mit trockenem Witz auf die Bühne bringen dürfen – etwa wenn sie Anselmus in einem aus ihrer Sicht Zustand nutzloser Träumerei so verräumen wie ihre immer mitgeführten Klappstühle. Die irdische Liebe des Anselmus, Veronika, muss von Mirjam Birkl hingegen als umherstöckelndes Dummchen geboten werden, das seine Träume vom guten Leben mit Pop-Covern ins Lächerliche zieht (Shine bright like a diamond). Wohl der Preis, damit der Gegensatz zur ebenfalls von ihr gespielten sinnlichen Märchen-Nebenbuhlerin Serpentina umso größer wirkt.
Die unmissverständliche Polarität dieser Inszenierung – positive Fantasie versus profane Spießbürgerrealität – wirft allerdings auch Interpretationsfragen auf. Nicht nur durch den Erzähler, dessen Videoprojektion sich an Influencern orientiert, zieht die Inszenierung klare Parallelen zum Gegensatzpaar Alltag und digitale Welten. Ob allerdings das Streben nach einem anderen Ich in sozialen Medien so mit Freiheit, tieferem Welt-Verständnis und Lebensglück verbunden ist wie die Fantasie bei E.T.A. Hoffmann, darf man zumindest bezweifeln. Aber vielleicht sehen das die digitalen Eingeborenen aus der zwölften Klasse ja anders. Bald dürfen sie in Baden-Württemberg ihre Meinung aufschreiben – wenn auch gezwungenermaßen auf Papier und mit Kuli.
Der goldene Topf
von E.T.A. Hoffmann
Eine multimediale Inszenierung
Regie und Bühne: Tonio Kleinknecht, Dramaturgie, Regie und Video: Marco Kreuzer, Kostüme: Birgit Barth, Choreographie: Roman Proskurin.
Mit: Mirjam Birkl, Philipp Dürschmied, Manuel Flach, Arwid Klaws, Bernd Tauber, Diana Wolf.
Premiere am 19. Februar 2019
Dauer: 2 Stunden, eine Pause
www.theateraalen.de
Die Inszenierung des Regie-Duos Tonio Kleinknecht/Marco Kreuzer sei mit einigen kleinen Abstrichen "durchaus sehens- und erlebenswert", so Ansgar König in der Schwäbischen Zeitung (20.2.2019). Aus Hoffmanns Märchen machten sie ein wahres Fantasyerlebnis. "Auf jeden Fall hat das Aalener Stadttheater den angehenden Abiturienten Bilder mit auf den Weg gegeben, die so leicht nicht aus den Köpfen verschwinden werden und den Schülern bei der Betrachtung der Romantik durchaus eine Stütze sein können."
"Rascheln, blinken, wispern, Zweige, Granitfelsen, goldgrüne Schlangen, Drachen, Flammen" – all die Sinneseindrücke aus "Der goldene Topf" projiziere Kreuzer auf drei Leinwandsäulen auf der Bühne "als visuelle Leckerbissen", schreibt ein*e ungenannte*r Kritiker*in in der Schwäbischen Post (20.2.2019). Auch der Erzähler des Märchens stehe bis kurz vor Ende nicht auf der Bühne, sondern wende sich wie ein Instagram-Influencer mit Strickmütze an die Zuschauer." Das ist spannend – nicht nur für junge Zuschauer."
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