Im Schatten der Camorra

von Thomas Rothschild

Mannheim, 24. Februar 2019. Die epidemische Verbreitung des Mitmachtheaters, der Angleichung an die Wirklichkeit auf Kosten der Artifizialität als auch der Romanbearbeitungen währt nun schon mehr als ein Jahrzehnt. Ebenso lang tadeln Verächter diese Moden. Das langweilt auf die Dauer. Man muss sich wohl mit ihnen abfinden wie mit der Abnahme der Regentage im Sommer. Freilich: Die Gründe für die Ablehnung sind deshalb nicht weniger zutreffend als die der Bahnfahrer, die unablässig die Verspätung von Zügen anprangern.

Wiedersehensfreude

Wie auch immer man dazu steht: Das musste kommen. Was sich HBO fürs Fernsehen gesichert hat, durfte sich die Bühne nicht entgehen lassen. Das Nationaltheater Mannheim hat die ersten beiden Romane von Elena Ferrantes neapolitanischer Erfolgssaga auf die Bühne gebracht, zur Wiedersehensfreude der Ferrante-Leserinnen und -Leser und zur Zeitersparnis derer, die nicht zu ihren Lesern zählen.

Die Italienerin, die ihre Identität nicht preisgeben will, lädt dazu auch ein. Was im Roman als altmodisch gilt, im Drama aber zur Norm gehört, ist hier eingelöst: Den Romanen sind Verzeichnisse der handelnden Personen vorangestellt. A gmahde Wiesn für die Rollenverteilung. Im Programmheft wird übrigens ein Text von Elena Ferrante zitiert, wonach ihr selbst Adaptionen ihrer Geschichten gefallen.

MeinGenialeFreundin 1 560 HansJoergMichel uBest Buddies: die neapolitanischen Freundinnen, gespielt von Lorena Handschin (als Lila) und Melanie Lüninghöner (als erzählende Elena) © Hans Jörg Michel

Die Romane haben die Form einer Ich-Erzählung. Das Ich heißt Elena wie die Autorin und ist ein Jahr jünger als sie. Will man auf der Bühne nicht auf deren Perspektive verzichten, die schon durch das besitzanzeigende Fürwort im Titel des ersten Romans und des Theaterstücks – "Meine geniale Freundin" – markiert wird, muss man, wie die Regisseurin Felicitas Brucker mit den Dramaturginnen Anna-Sophia Güther und Annabelle Leschke, zu dem inzwischen eher ausgelaugten epischen Mittel der Erzählerin greifen.

Geschichten vom Erwachsenwerden

Sie hebt sich in Mannheim von den Kindern, später Jugendlichen, von denen sie berichtet, durch einen dunklen Hosenanzug ab. Die neapolitanischen Freundinnen Elena und Lila, sehr unterschiedlich in Charakter und sozialer Herkunft, treten in vervielfältigter Gestalt auf, tragen aber zur Erleichterung der Identifizierung jeweils türkis- beziehungsweise himbeerfarbene Kleider. Als Ausgleich für die Aufteilung der Rollen dürfen die Darstellerinnen und Darsteller mehrere Rollen verkörpern.

MeinGenialeFreundin 2 560 HansJoergMichel uErst eine Love-Story, dann kippt Lilas Liebe in eine Ehekrisenstory © Hans Jörg Michel

Die Bühnenbildnerin Viva Schudt, mit der Felicitas Brucker seit sieben Jahren regelmäßig zusammenarbeitet, hat eine düstere Simultanbühne entworfen, die diverse offene und geschlossene Spielflächen zur Verfügung stellt, von denen jedoch wenig Gebrauch gemacht wird. Sie werden dominiert von der weißen Gipsbüste eines Engels mit Kreuz, der offenbar einer Skulptur auf der römischen Engelsbrücke nachempfunden ist.

Die beständige Kooperation zwischen Schudt und Brucker entspricht einer wenig beachteten zunehmenden Tendenz der vergangenen Jahre, die dazu berechtigt, das Regietheater als Bühnenbildtheater zu bezeichnen. Jedenfalls scheint es vielen Regisseurinnen und Regisseuren leichter zu fallen, mit wechselnden Ensembles als mit wechselnden Ausstattern zu arbeiten.

Vespas und Gipsengel

Bis zur Pause beschränkt sich die Dramatisierung auf skizzenhafte Illustrationen der von der Erzählerin abgerufenen Erinnerungen mit reichlich musikalischer Untermalung. Das Milieu, die sozialen Umstände bleiben Behauptung. Sie werden nicht sinnlich erfahrbar. Kurzfristig droht die spezifische Geschichte Lilas zu einer weiteren Ehekrisenstory zu verflachen, weil die Besonderheiten des süditalienischen Ambientes zu wenig scharf umrissen werden. Eine Vespa reicht als Signal nicht aus. Im Programmheft kann man nachlesen, was im aufgeführten Stück alles fehlt. Gesprochen wird meist frontal zum Publikum. Szenisch gibt das nicht viel her. Es lässt eher an die Dramaturgie von Hörspielen der fünfziger Jahre denken.

Aus dem Ensemble ragt Melanie Lüninghöner als die erzählende Elena heraus. Sie wurde als Gast eingeladen und hat, wie die Bühnenbildnerin, schon mehrfach mit der Regisseurin zusammengearbeitet. Allerdings lässt die ihr nicht viel Raum für Schau-Spiel. Das kompensiert Lüninghöner durch überzeugende Sprechdisziplin. Immerhin.

Warten auf die nächste Staffel

Im zweiten Teil, nach der Pause, nimmt sich die Erzählerin zurück. Auf der Bühne, die nun in ihrer vollen Breite bespielt wird, kommt Bewegung auf. Theater als szenisches Ereignis: Die Regie scheint sich, spät aber doch, darauf zu besinnen.
Dem Publikum hat's gefallen. Es spendete fünf Minuten heftigen Applaus. Der Fortsetzung steht nichts im Wege.
Die hat das Nationaltheater für die nächste Spielzeit bereits angekündigt. Die Bühnenversion des dritten und des vierten Romans von Ferrantes Tetralogie ist in Planung. Zunehmend wird dem Theater neuerdings geraten, sich an den Netflix-Serien ein Beispiel zu nehmen. Na bitte!

Meine geniale Freundin
nach den Romanen von Elena Ferrante, Deutsch von Karin Krieger
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Viva Schudt, Kostüme: Katrin Wolfermann, Musik: Mark Badur, Licht: Wolfgang Schüle, Dramaturgie: Anna-Sophia Güther.
Mit: Melanie Lüninghöner, Arwen Schünke, Lorena Handschin, Sarah Zastrau, Franziska Beyer, Ragna Pitoll, Jacques Malan, Martin Weigel, Eddie Irle, Arash Nayebbandi, Nicolas Fethi Türksever.
Premiere: 24. Februar 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

"Felicitas Bruckner traut sich was." Sie brauche keinen Schnickschnack, keinen Griff in die Effekt-Trickkiste und keine vordergründi- gen Provokationen. Sie vertraue auf die ureigenen Kräfte eines konzentrierten und quickfidelen Ensembles, so Volker Oesterreich in der Rhein Necker Zeitung (25.2.2019). "Eins macht der Abend ganz deutlich: Elena Ferrantes überbordender Mikro- kosmos steht für die ganze Welt." Ein besonderes Lob vergibt Oesterreich an Lorena Handschin. Sie habe das Zeug dazu, "als Nachwuchsdarstellerin des Jahres ganz groß rauszukommen".

"Das ambitionierte Projekt der deutschsprachigen Erstaufführung dieses nicht nur populären, sondern auch literarisch anspruchsvollen Stoffes gelingt, weil das Theater hier alle seine Stärken nutzt: Regisseurin und Dramaturgie filtern so gekonnt wie radikal die zeitlos aktuelle Essenz der Geschichte einer Frauenfreundschaft heraus", so Jörg-Peter Klotz vom Mannheimer Morgen (24.2.2019). Die Stärken der Vorlage blieben erhalten: "das soghafte Erzählen, die quirligen, filmreifen Dialoge, überhaupt die Sprache der Romane". Dazu komme eine exzellente Leistung des elfköpfigen Schauspielensembles in 27 Rollen, aus dem die 22-jähringe Noch-Studentin Lorena Handschin herausrage.

"Was ist der Mehrwert gegenüber der Lektüre des Romans? Diese Fragen stellen sich bei der Theatralisierung eines Prosatextes zwangsläufig, erst recht aber, wenn die Textfassung wie in Mannheim immer wieder Redundanzen herstellt", schreibt Sandra Kegel von der FAZ (25.2.2019). "Die Mannheimer Fassung krankt nicht zuletzt daran, dass der Stoff nicht mit den Mitteln des Theaters umgesetzt wurde, sondern vielmehr zu einer Art Kurzfassung des Romans geschrumpft ist. Dadurch geht die Differenzierung und Vielschichtigkeit der Vorlage verloren, ohne dass Neues, Anderes, Unerwartetes daraus erwachsen wäre."

"Felicitas Brucker erzählt dieses Epos voll unterschiedlichster Figuren geschickt als schnellen Bilderbogen", so Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (24.2.2019). "Im Rione, dem Vorstadtviertel, will Ferrante wie unter dem Brennglas vom fatalen, ja durch und durch kranken Zustand der Welt erzählen, vom Terror der großen und der kleinen Männer-Mächte – und so intensiv Felicitas Brucker und dem Ensemble das erzählerisch auf der Bühne gelingt, so weit weg bleiben die Geschichten bislang noch vom Heute und Hier."

Fe­li­ci­tas Bru­cker sei ei­ne Spe­zia­lis­tin für zeit­ge­nös­si­sche Dra­ma­tik. "Sie weiß, dass das Thea­ter sei­ne ei­ge­nen Stär­ken und Ge­setz­mä­ßig­kei­ten hat. Dass sie bei der 'Ge­nia­len Freun­din' den­noch in die Ro­ma­n­ad­ap­ti­ons­fal­le tappt, näm­lich das Ge­sche­hen haupt­säch­lich nur kom­pri­miert nach­zu­er­zäh­len und zu be­bil­dern, statt mit thea­tra­li­schen Mit­teln et­was Ei­ge­nes zu (er)schaf­fen, ist be­dau­er­lich", schreibt Chris­ti­ne Dös­sel in der Süddeutschen Zeitung (27.2.2019). Brav, nüchtern, "mit deut­lich mehr Rhe­to­rik als Ero­tik" komme die Adaption daher. "Im Grun­de sieht man den gan­zen Abend wie in ei­ner Vi­tri­ne."

Stefan Benz schreibt im Darmstädter Echo (25.2.2019): Auch wenn man das Theater als "Literaturbebilderungsanstalt" kritisch sähe, müsse man anerkennen: "Wie hier über 1000 Romanseiten zu weniger als 100 Seiten Theatertext werden, wie 30 Jahre in nicht mal drei Stunden vorbeiziehen, wie die Erzählung mehrstimmig orchestriert ist," das sei "erstaunlich kurzweilig". Brucker versuche gar nicht erst, das "pralle Panorama des Romans" auf die Bühne zu bringen. Sie zeige ein "karges Handlungsgerüst", an dem sich "Scheitern und Gelingen von Emanzipation" modellhaft studieren lasse: "episches Theater einer dramatischen Bildungsmisere".

Stefan Kister schreibt in der Stuttgarter Zeitung (27.2.2019): Der Weg, den Felicitas Brucker einschlägt führe "nach innen". Statt "frisch aufgebügeltem Naturalismus" werde das "Abwesende" beschworen. Die Geschichte nehme auf "den Pfaden der Erinnerung ihren Lauf". Die Bühne werde zur "Rumpelkammer der Vergangenheit", in der in verblüffender Prägnanz die Schlüsselszenen herausträten. In "fließenden Rollenwechseln und –vervielfältigungen" und vorangetrieben von der "wilden Atemlosigkeit der genialen jungen Schauspielerin Lorena Handschin" in der Titelrolle, verdichte sich die Bildfolge zu "einer temporeichen und·packenden Theatererzählung".

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