Chaospraxis

von Shirin Sojitrawalla

Heidelberg, 2. März 2019. Nach beinahe dreieinhalb Stunden fühlt man sich mindestens so gerädert wie Josef K., während einzelne Buhs im Schlussapplaus verhallen. Dabei gibt es ja grundsätzlich nichts zu meckern, wenn Regisseure mehr wollen als Texte zu bebildern. Moritz Schönecker ist so einer, der mehr will. Diesmal geht er aufs Ganze und zerrt die Welt vors jüngste Gericht.

Kafkas Roman "Der Prozess" hat er gemeinsam mit Dramaturgin Lene Grösch auf 49 Seiten gestutzt und konfrontiert ihn mit dem Elend der Welt. Das überhöht den Stoff, weil es ihn für alles zuständig weiß, erniedrigt ihn aber auch, weil er derart konkretisiert an existenzieller Wucht einbüßt. Dem Ensemble gehören neben Schauspieler*innen an diesem Abend auch "Spezialisten" an, Experten des Alltags, die ins Spiel eingebunden werden, von ihrem Leben berichten und laut Programmheft zum ersten Mal auf der Bühne stehen. Sambujang Touray erzählt von seiner Flucht aus Afrika, seinen Traumata, seinem Freiheitswunsch. Dabei mag er sich zuweilen vorkommen wie Josef K., den jemand verleumdet haben musste, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet, so der erste Satz des Romans.

Prozess1 560 Sebastian Buehler u Sophie Melbinger als Joseph K. in Heidelberg © Sebastian Bühler

Franz Kafkas Texte sind ja längst Gassenhauer auf dem Theater, Kriegenburgs "Prozess" schon ein Klassiker. Oft fällt der Regie Schwarzweißes zu ihm ein und/oder akkurat Choreografiertes. Moritz Schönecker setzt sich von solchen Lösungen ab, besagter erster Satz etwa kommt bei ihm aus dem Munde einer in der Luft hängenden lilafarbenen Flitterfee, quäkend und gegen alle Regeln der Kunstfertigkeit zerdehnt.

Manch eine Hysterie

Schon bevor sich die Saaltüren schließen, erfüllt eine Büro-Soundcollage den Raum. In der Mitte der Bühne von Benjamin Schönecker prangt ein grauer Stein, ein graues Quadrat, das Josef K. beherzt in den Hintergrund schiebt. Immer mal wieder fahren solche Elemente herein, herum und heraus. Eine Treppe, die ins Nirgendwo führt, oder ein mit Neonröhren bewehrtes Podest. Die Bühne senkt und hebt sich. Alles scheint hier aus der Ordnung geraten. Regellosigkeit in Form und Sprache. Videos werden eingeblendet, wackelige Bilder, schlechter Ton, der Live-Kamera-Mann mischt sich dazu. Es wird wahnsinnig viel geschrien und gezetert, keine Ahnung, warum. Und doch ergibt sich daraus ein szenisches Fieber, das den Abend übers Normalverträgliche hinaushebt. Viel dazu bei tragen auch die wunderbar exaltierten Kostüme von Veronika Bleffert, die mal an Magritte gemahnen, mal an einen Faschingsumzug.

Prozess2 560 Sebastian Buehler uNicole Averkamp, Hendrik Richter © Sebastian Bühler

Zum theatralen Größenwahn gehören auch muppetshowmäßige Auftritte, die etwa Nicole Averkamp und Hendrik Richter als unmögliches Duo absolvieren. Auch Katharina Uhland, Olaf Weißenberg und Marco Albrecht manövrieren sich in manch eine Hysterie hinein. Sophie Melbinger als Josef K. stellt in ihrer straighten Klarheit und Verzweiflung die Ausnahme dar. Alle sonstigen Figuren aus dem Roman bekommen ein übergeschnapptes Bühnen-Alter-Ego übergestülpt.

Und was tut ihr?

Im großzügigen Assoziationsrahmen der leergeräumten Bühne ist Überforderung Programm. Oft versteht man buchstäblich nichts, reichen die Worte nicht einmal in Reihe 7, oft scheint auch alles auf einmal zu geschehen, zuviele Informationen – enervierend ist das in seiner Mischung aus Jahrmarkt, Kappensitzung und buntem Alptraum.

Gegen Ende flimmert ein Video über eine Abschiebung nach Ghana auf, man hört darin jemanden schreien, dann eine Durchsage, die bittet, sich ruhig zu verhalten, wieder Geschrei. Eine beschuldigt irgendwen, den abgeschobenen Mann wie ein Tier zu behandeln, ein anderer schreit immer wieder "Stop deportation!". Es ist kaum zu ertragen, zu laut, intensiv, grausam, unklar, es greift einen, vielleicht auch der späten Stunde wegen, beinahe körperlich an.

In anderen Exkursen beschäftigt sich der Abend mit Asylsuchenden, Ungerechtigkeiten aller Art, dem atomaren Endschlag und vielem mehr. Alles real, alles bekannt. Die wenigsten mucken dagegen auf. Die Frage nach dem politischen und gesellschaftlichen Engagement stellt sich zwangsläufig. Und so sind es auch die Zuschauer, denen hier der Prozess gemacht wird. Nicht wenige von ihnen suchten schon in der Pause das Weite.

Der Prozess
nach Franz Kafka
Bühnenfassung von Lene Grösch und Moritz Schönecker
Regie: Moritz Schönecker, Bühne: Benjamin Schönecker, Kostüme: Veronika Bleffert, Video: Roman Kuskowski, Peer Engelbracht, Dokumentarfilmer: Maman Salissou Oumarou, Live-Kamera: Benedikt Lehmann, Jannis Alexis Kratzer, Komposition: Kiko Faxas, Dramaturgie: Lene Grösch.
Mit: Sophie Melbinger, Nicole Averkamp, Marco Albrecht, Hendrik Richter, Katharina Uhland, Olaf Weißenberg, Shymaa Abdalla, Sambujang Touray, Mohamed Yousef, Peter Suchantke.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theaterheidelberg.de

Kritikenrundschau

Auf Eckhard Britsch wirkt der Abend überfrachtet, "zumal auch nach drei Stunden noch kein Ende abzusehen ist". Schöneckers Kafka-Adaption kehre sich "gegen sich selbst und gegen das Publikum, wenn sich Ernst und Spott und Groteske abwechseln und überlagern", so Britsch im Mannheimer Morgen (4.3.2019). Gescheitert sei die Inszenierung deshalb nicht. "Wenn doch, dann wenigstens auf phantasievoll-anspruchsvollem Niveau, das mehr Ratlosigkeit als Stringenz beim Premierenpublikum hinterlässt." Sophie Melbinger als Josef K. Lege einen "großen, bemerkenswerten Auftritt" hin, auch K.s Antagonisten "Sams Monolog, schlicht und eindringlich vorgetragen von Sambujang Touray, gehört zu den Höhepunkten des Abends".

"Moritz Schöneckers aufwendige, knallfarbige und brüllende Inszenierung (...) ist ein flammendes Plädoyer gegen die als unmenschlich gebrandmarkte Abschiebepraxis von Flüchtlingen in unserer Gegenwart", schreibt Heribert Voigt in der Rhein-Neckar-Zeitung (4.3.2019). Herausragend "in dem ganzen Bühnenwirrwarr" sei die Darstellung von K. durch Sophie Melbinger. "Das Gesicht der Darstellerin bleibt stets der schöne Spiegel einer fortschreitend schlimmen Verlorenheit", so Voigt. "Insgesamt ein lange anhaltender theatraler Dauerbeschuss des Publikums, der gewohnte Sichtweisen in Schutt und Asche legt."

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