Die Wahrheit und der Tod

von Dorothea Marcus

Oberhausen, 7. März 2019. Von einer "Schuldkomplexindustrie" spricht Erik Studer, bevor er seine friedlichen Runden im Pool vor seinem Haus dreht, das mit der blutigen Ausbeutung kolumbianischer Minen finanziert worden ist. Schuld-Komplex-Industrie. Jedes der Wortteile scheint dem vorherigen eine reinzuhauen, kehrt seine ursprüngliche Bedeutung um: Aus der moralischen Feststellung wird Distanzierung, dann die Behauptung einer gelenkten Manipulationsmaschinerie.

"Solange es eine Nachfrage gibt, gibt es ein Angebot", sagt der Chef des Kohlekonzerns – und sei Nachfrage etwa böse? Wer will das beurteilen? Und wäre nicht zehn Sekunden später jemand an seinem Platz? Glatteste neoliberale Keulensätze kommen aus seinem Mund, doch so einfach abzutun sind sie nicht, wenn Schauspieler Klaus Zwick in blütenweißem Hemd und Segelschuhen durch das Publikum geht und Einzelne fragt: Wer sind wir, uns diese moralische Überlegenheit anzumaßen? Wollen wir nicht alle viel vom Leben? Wer soll entscheiden und überblicken, was zu viel ist?

Eine Künstlerin geht über Leichen

Genau darum geht es auch in Dominik Buschs "Das Recht des Stärkeren": nicht nur um Ausbeutung, sondern um moralische Verstrickungen und die Schwierigkeit, davon zu erzählen. Die Schweizer Dokumentarfilmerin Nadja, Tochter des Kohlen-Chefs, reist nach Kolumbien, um die blutigen Bedingungen des Kohleabbaus aufzudecken. Ihren Vater kontaktiert sie zu Beginn lediglich, um ihn in ihren Dokumentarfilm einzubauen. Eine persönliche Note in Form einer zerrütteten Vater-Kind-Beziehung macht sich doch gut im Kunstwerk. Am Ende erhält sie für den Film einen Preis, während ihr kolumbianischer Protagonist Alvaro (Burak Hoffmann) gefoltert wird. Trotz seiner Bitten hat sie den Mordzeugen nicht aus dem Film geschnitten, obwohl das seinen Tod bedeuten könnte. Nadjas Aktivismus, daran lässt Busch keinen Zweifel, ist zwar echt – aber dennoch geht sie für ihre Geschichte über Leichen. Elisabeth Hoppe gibt sie facettenreich. Den Furor der gerechten Filmerin nimmt man ihr genauso ab wie ihren Künstler-Tunnelblick. Für das eigene Werk ist sie auch bereit, die Wahrheit zu verdrehen, indem sie Relotius-haft die eigenen Bilder manipuliert.

DasRechtdesStaerkeren 560 IsabelMachadoRios uHeldin oder Täterin? Elisabeth Hoppe als Dokumentarfilmerin Nadja © Isabel Machado Rios

In 21 Szenen, in denen sich poetisch aufgeladene Gedankenfetzen Nadjas, Interviews und Producer-Gespräche abwechseln, erzählt Busch von der Entstehung eines Dokumentarfilms – und zeigt ihn als stets dubiose Form künstlerischer Wirklichkeits-Manipulation. Kunstvolle Schlichtheit und rhythmische Sprach-Redundanzen legen ein permanentes Bedrohungsgefühl unter den Text, der zuweilen wirkt wie ein Rap, wie musikalisch durchkomponiert. Je öfter wiederholt, desto brutaler klingen die Kürzest-Sätze und erzählen auch formal von der permanenten Gewaltbereitschaft eines jeden – jenes "Recht des Stärkeren", das eben letztlich auch die Aktivistin aus dem Luxusland für sich in Anspruch nimmt.

Klug legt Florian Fiedler in Oberhausen den Fokus auf die Medienkritik und die Relativität und Manipulierbarkeit von Wahrheit.  An drei Stellen der Nebenspielstätte "Saal 2" muss sich das Publikum verteilen, mit Bauplanen labyrinthisch verhängt sind die Durchgänge: Projektionsflächen, hinter denen die Schauspieler mit ihrer Sichtbarkeit spielen, Scheinwerfer selbst umhertragen, sich in Großaufnahme mit Live-Kamera filmen, mal verschwinden, mal von hinten oder aus den Stuhlreihen auftauchen. Zuweilen werden Filmaufnahmen eingeblendet: kolumbianische Straßenszenen oder der Swimmingpool des Vaters.

DasRechtdesStaerkeren 560a IsabelMachadoRios uBei der Produktion von Wirklichkeit: Klaus Zwick, Elisabeth Hoppe © Isabel Machado Rios

Schön ist das, wie hier auch formal mit den Fallstricken einer vermeintlichen Wahrheitssuche gespielt wird: In knallenden Großbuchstaben werden Sprachfetzen des Stücks projiziert, helles, scharfes Licht wechselt sich ab mit Unschärfe und Verschwommenheit. Manche der Bauplanen, hinter denen die Schauspieler sprechen, sind zerknittert und milchig, auch die Filmbilder werden halb gezeigt und halb dem Zuschauerblick entzogen. Und manchmal wird auch einfach das Licht ausgeschaltet; körnige, undeutliche Erinnerungsräume entstehen, düstere Zwischenreiche der Gewalt, etwa, wenn ein Killer beim vergeblichen Wasserlassen erzählt, wie sein Todesschwadron gerade eine Familie erschossen hat.

Der totale Durchblick

Jeder Zuschauer erhält so stets nur ein fragmentarisches Bild, so wie er auch stets nur einen Teil einer relativen Wahrheit erfährt. Nadja, die Filmemacherin, wird am Ende Alvaro verraten und allein lassen. Zurück in Europa hält sie, sicher und selbstzufrieden, einen Vortrag über Rohstoffausbeutung – nun nicht mehr im beigen Militär-Look, sondern im kleinen Schwarzen. Haupt- und Nebenwidersprüche unserer Zeit werden an diesem präzisen Theaterabend atemberaubend auf den Punkt gebracht. Am Ende reißt Nadja alle blickverstellenden Planen ab, will den totalen Durchblick – und wickelt sich selbst in eine, ihr eigenes Werk ist ihrem Anspruch zum Grab geworden. Ein Kolumbianer tackert sie damit an die Wand. Schwer atmend und schuldbewusst spricht sie ihre letzten Sätze – doch das allerletzte Bild ist, wie sie statt ihres Vaters im Pool die Runden dreht. Ihre Kunst ist aus dem Blut von anderen gemacht, auch sie hat profitiert von der Schuldkomplexindustrie.

 

Das Recht des Stärkeren
von Dominik Busch
Deutsche Erstaufführung 
Regie: Florian Fiedler, Bühne: Maria-Alice Bahra, Kostüme: Selina Peyer, Musik: Martin Engelbach, Video: Bert Zander.
Mit: Elisabeth Hoppe, Klaus Zwick, Clemens Dönicke, Burak Hoffmann, Jan Viethen.
Premiere am 7. März 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de

 

Kritikenrundschau

"Eine durch und durch überzeugende Erstaufführung" hat Cornelia Fiedler für die Süddeutsche Zeitung (21.3.2019) gesehen: "Die knappen Dialoge und rhythmischen, poetisch reduzierten Reflexionen inszeniert Schauspielintendant Florian Fiedler als ein dichtes Spiel mit unsicherer Perspektive." Dominik Busch umgehe "die Gefahr des Empörungskitsches", indem er sein Stück mit hinreichend Gegenperspektiven ausstatte. So gelinge ein unterhaltsamer, dichter Abend, der "lange nachhallt, gerade weil er die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen hat."

Eine "heftig moralgesättigte, aber doch starke Gegenwartstragödie" habe Dominik Busch geschrieben, findet Lars von der Gönna in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und der NRZ (9.3.2019). Fiedler finde "bildmächtige Schlüssel" zum Text. Die 90 Minuten verrännen "weitgehend spannend, nahbar, als dichte Erzählung".

"Jenseits der immer wieder poetisch eingeflochtenen stimmungsmacherischen Anflüge entwickelt der Text in der feinen rhythmischen Diktion des famosen Ensembles einen fiebrigen Groove, mit dem die Diskurse eine enorme Intensität gewinnen, sowohl intellektuell wie emotional", so Jens Fischer in Die Deutsche Bühne (8.3.2019). "Die fragmentarisch schillernde Inszenierung nimmt dem Plot das arg Konstruierte." 

"'Das Recht des Stärkeren' feiert nicht vordergründig das Gute und brandmarkt das Böse. Dennoch stellt es die Frage nach Schuld und Verantwortung. Oberhausen gelingt ein starkes Stück politisches Theater", so Martin Burkert vom WDR (11.3.2019).

 

 

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