Versäumnisse verhandeln

von Tilman Strasser

Köln, 9. März 2019. "Sie haben gesagt, dass diese Christen jetzt auch Menschen sind und deswegen haben sie Rechte, so wie die Weißen auch. 25 Jahre hat es gedauert. Sie haben sie geknechtet, sie haben sie gefoltert, sie haben sie ermordet. Und jetzt werden sie geschützt“, klagt Yuri Englert. Währenddessen schlurft Schauspiel-Kollege Stefko Hanushevsky gebückt über ein Plateau, im Arm ein Bündel Holzkreuze. Weil es um die Schrecken der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia geht, tragen beide weiße Masken. Und weil es speziell um die Rolle der Rheinischen Missionsgesellschaft geht, tragen sie auch weiße Gewänder, irgendwo zwischen Mönchskutte und Ku-Klux-Klan. Das Licht fällt durch sakrale Buntglasfenster (mit stilisiertem Auge), letzte Schwaden der Nebelmaschine wabern umher und Hanushevsky steckt die Kreuze in den Boden, behutsam, als pflanze er eine empfindliche Sorte Tod. "Wenn man August Bebels Reichstagsreden liest, dann ist da die klare Ansage, so geht es nicht, das ist eine unchristliche Kriegsführung", klagt Englert weiter, "das ist das Vorgehen eines Metzgergesellen".

Geraubtes Land

Subtil kommt "Herero_Nama" weder in Wort noch in Bild daher, eindrücklich aber allemal. Schließlich geht es in Nuran David Calis' jüngster Arbeit am Schauspiel Köln auch nicht um einen Stoff für zaghafte Töne. Vielmehr widmet sich der Regisseur dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts – und greift dabei auf ein Schema zurück, das er bereits bei seiner sogenannten Keupstraßen-Trilogie erfolgreich erprobte: Wie in "Die Lücke", "Glaubenskämpfer" und "Istanbul", die sich anlässlich des NSU-Attentats in der Kölner Keupstraße mit Rassismus, Religion und moderner Gesellschaft beschäftigten, stehen Ensemble-Mitglieder gemeinsam mit von der Thematik betroffenen Laien-Darsteller*innen auf der Bühne.

Calis-Kenner*innen dürfte noch mehr bekannt vorkommen: die Kameras, die Gesichter der Akteure fokussieren und deren Bilder auf Wandelemente geworfen werden; vor allem die nachgespielten Diskussionen, entstanden aus Gesprächen der Beteiligten während der Probenarbeit.

herero nama1 560 david baltzer uIm Licht der Aufklärung: Yuri Englert, Talita Uinuses, Israel Kaunatjike © David Baltzer

Dabei haben die Werke ansonsten nur gemein, dass sie erschreckende Versäumnisse bundesrepublikanischer Aufklärungsarbeit verhandeln. So prangert die Nama-Aktivistin Talita Uinuses an, dass immer noch viel geraubtes Land ihrer Heimat deutschen Familien gehöre, Gebeine ihres Volkes erst spät oder noch gar nicht zurückgegeben worden seien, die Klärung der Gräueltaten zwischen 1904 und 1908 nur schleppend vorangehe.

Auch Herero-Aktivist Israel Kaunatjike empört sich über die bestenfalls lavierende Haltung der Politik, die erst 2015 von einem Völkermord sprach, und fordert Reparationszahlungen. Dem Kulturanthropologen Julian Warner geht es vor allem um Solidarität und Gehör. Zu Recht, denn dass in der damaligen deutschen Kolonie circa 90.000 Herero und Nama während des brutal niedergeschlagenen Aufstands und der folgenden Drangsalierung durch wilhelminische Truppen ums Leben kamen, dass bis heute Kulturgüter zurückgehalten werden, dass die Aufarbeitung allein durch Mangel an offizieller Anerkennung behindert wird, ist der hiesigen Öffentlichkeit noch immer weitgehend unbekannt.

Kluge, kühne, gewitzte Gedanken

"Es gibt im Grunde nichts zu verhandeln", meint denn auch Stefko Hanushevsky. "Da heißt es nur: Schuld eingestehen und mit den Konsequenzen umgehen." Damit wäre eigentlich alles gesagt, und bezeichnenderweise ist die Aufführung zu diesem Zeitpunkt auch bereits Debatte geworden. Der Versuch nämlich, Theater aus diesem historischen Skandal zu machen, er scheitert: Etwa die Hälfte des Projekts bringen die Schauspieler*innen (außer Hanushevsky und Englert noch die latent unterbeschäftigte Shari Asha Crosson) mit weißen Masken zu, schaffen Szenen wie die eingangs erwähnte, zitieren mit B-Movie-Bösewicht-Stimme abstruse Texte der folternden Kolonialherren und zeichnen mit weißen Handschuhen diabolische Pläne in die Luft.

Dankenswerterweise werden diese ungelenken Inszenierungsideen, die noch dazu von düsteren Streichern oder gar Kanonendonner untermalt werden (und so zuweilen missionarischer wirken als die vorkommenden Missionare), meist rasch von Gesprächen unterbrochen – bis sich Julian Warner über die "Ästhetisierung" der Gräueltaten beschwert und das Geschehen endgültig in eine Diskussionsrunde kippt.

herero nama 560 david baltzer uNachdenken über Namibia: Yuri Englert, Israel Kaunatjike, Talita Uinuses, Julian Warner, Stefko Hanushevsky © David Baltzer 

In der macht Calis dann das, was ihn auch schon bei den Vorgängerstücken ausgezeichnet hat: Er schafft Platz für die Figuren und ihre Geschichten. Wobei es nicht unbedingt glücklich wirkt, dass die zwei Aktivisten und der Kulturanthropologe beengt an einem Tisch sitzen, während die Schauspieler*innen sie von wechselnden Seiten beharken, noch dazu, weil diese einige dümmlich-provokante Fragen beisteuern müssen ("Was ist mit Frankreich? Was ist mit England? Warum wird nur Deutschland so hart angegangen?!").

Trotzdem kommt es teils zu einem intensiven Austausch mit klugen, kühnen, manchmal gewitzten Gedanken. Teils zerfasert der Diskurs auch, schweift zu Rassismen der Gegenwart oder der Frage, warum der afrikanische Kontinent seine Rohstoffe nicht nutzt. So ist das eben mit Gesprächen. Anstrengender indes, dass immer noch jemand in eine Kamera statt zum Gegenüber sprechen muss, dass auch die Theatersituation zum Gegenstand gemacht wird, um bemüht eine Metaebene einzuziehen. Und doch kriegt "Herero_Nama" die Kurve zu einer reizvollen Trias: ein drängendes Thema, eine fehlgeschlagene Inszenierung und ein interessantes Gespräch darüber. Nur ein Gespräch wäre womöglich noch interessanter gewesen, aber, tja, wahrscheinlich leider nicht so gut besucht.

 

Herero_Nama
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Geraldine Arnold, Musik: Vivan Bhhatti, Video/Recherche: Karnik Gregorian, Licht: Michael Frank, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki, Transkription / Recherche: Dominika Siroka.
Mit Yuri Englert, Stefko Hanushevsky, Shari Asha Crosson, Israel Kaunatjike, Julian Warner, Talita Uinuses.
Premiere am 9. März 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel.koeln

Kritikenrundschau

Aus dem anfänglichen Dokumentationstheater werde mit der Zeit ein Reflexionstheater. Es komme eine Atmosphäre des 'Wir sprechen jetzt mal darüber' auf, so Christiane Enkeler von Deutschlandfunk Kultur (9.3.2019). "Das ist aber überhaupt nicht gemütlich, sondern eine anstrengende Auseinandersetzung. Der Theaterabend funktioniert aber dennoch, weil zum Konzept gehört, dass es nicht aufgeht. Wir sollen als Zuschauer hier nicht fühlen, sondern denken." Es werde ein riesiger Horizont aufgerissen, der manchmal auch zu viel sei. "Man muss das alles erstmal verarbeiten. Es stellt sich aber die Frage: Wen erreicht man mit diesem hohen Niveau?"

Sowohl Talita Uinuses als auch Israel Kaunatjike höre und sehe man ihre persönliche Betroffenheit immer wieder an – "ihre echten Emotionen treffen ins Herz", schreibt Axel Hill vom Generalanzeiger (11.3.2019). "Aber sind sie dann nicht Protagonisten eines bildungsbürgerlichen Betroffenheitsmomentes, die man vergisst, bis das Thema irgendwann eine breite Öffentlichkeit erreicht, wenn Reparationszahlungen geleistet werden? Und ist es vielleicht eine erste (wenn auch sehr minimale) Form der Reparation, wenn zwei Aktivisten ihre Forderungen an die deutsche Regierung und an das deutsche Volk in einer durch Steuermittel finanzierten Theaterarbeit vorbringen können?"

Die Kolonialismus-Protokolle seien "einerseits schwer zu ertragen, andererseits sind sie aber auch süffiges Theater", schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (11.3.2019). Nuran David Calis scheue den Holzschnitt nicht, "um dieses weitgehend vergessene (oder verdrängte) Kapitel auf die Bühne zu bringen". Seine Wucht gewinne der Abend aber dann dadurch, dass er sich selbst in Frage stelle, "Mut zum Scheitern" demonstriere.

"Mehr gut gemeint als gut gemacht" findet Bernd Noack in der NZZ (19.3.2019) das Dokustück. Calis lasse "erschütternd erzählen vom blutig niedergeschlagenen Aufstand der Herero und der Nama gegen die Deutschen". "Er gesellt ihnen aber leider auch einen nervig schlau plappernden Soziologen bei und Schauspieler, die in holzschnittartigen Szenen Zeitgeschichte nachspielen müssen." In eine "gedankliche Endlosschleife" gerate das Unternehmen, wenn "darüber diskutiert wird, ob das Theater überhaupt der richtige Ort dafür sei, historische Themen wie diese zu behandeln". Noack findet die Antwort einfach: "Wenn man es auf so gutmenschlich-bräsige und dramaturgisch naive Art macht wie das Kölner Schauspiel in diesem Fall – dann sicherlich nicht."

 

Kommentare  
Herero_Nama, Köln: Theaterverzicht
Man kann den Abend, ohne Übertreibung, erschütternd und bezeichnend finden. Theater als Ort ästhetischer Erfahrung, als Möglichkeitsraum neuer, fremder Erlebnisse und Gedanken und Worte, diese Art von Theater sieht sich zerrieben zwischen den Ansprüchen politischen Aktivismus’ und einer hochgerüsteten Kulturtheorie. Fast bekommt man angesichts seiner an diesem Abend vorgeführten verlorenen Position Mitleid mit der angejahrten Institution des Stadttheaters. Seine Macher lassen sich von politischen und theoretischen Perspektiven auf das Thema so sehr vor sich her treiben, dass es nur konsequent ist, auf eine theatrale Bearbeitung zu verzichten, deren Wichtigkeit und Freiheit ohnehin niemand traut.
Dass das Theater von heute ein Legitimationsproblem hat, das ist nicht neu. Neu ist: Auch seine Macher glauben nicht mehr an es als eine Kunstform.
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